Vom Zuhören

Plädoyer für neuen Gemeinsinn
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Auch wenn Lilies Standpunkt und seine Forderungen Widerspruch hervorrufen, seine Absichten sollten die Debatte wert sein.

Der erste Eindruck: Hier kommt ein weiteres Buch, das erklärt, warum Populismus so populär ist, warum die Gesellschaft auseinander driftet und vor allem, was die Politik ändern muss. Sicher, auch der Autor Ulrich Lilie geht diesen Fragen auf den Grund, will den Zustand der deutschen Gesellschaft erklären. Doch dem Präsident der Diakonie Deutschland, des zweitgrößten bundesdeutschen Wohlfahrtsverbands, geht es um mehr: Er will zeigen, wie sich schwierige Gemengelagen zum Positiven verändern, wenn „Menschen ihre Dialog- und Kooperationsfähigkeit“ wiederentdecken. Und das formuliert der evangelische Theologe auf den 170 Seiten seines Buches nicht nur in der Theorie, sondern auch an konkreten Beispielen.

Nebenbei: Das Buch ist Teil der Kampagne „Unerhört“, mit der die Diakonie Deutschland für eine offene Gesellschaft wirbt. Sie schafft Begegnungen über Foren, die sie moderiert.

Im ersten Teil analysiert Lilie die Situation: „Es gibt in diesem Land offensichtliche Probleme mit Gerechtigkeit, mit gerechter Teilhabe und dem Gefühl, gehört zu werden.“ Die verbreitete Erfahrung der Entleerung und Entwertung von Gesprächen, von öffentlicher Rede, politischen Versprechen und Informationen zersetze, so Lilie, den Zusammenhalt in unserem Land. Sein Fazit: Mangelnde Teilhabe ist neben sozialer Ungleichheit der eigentliche Sprengstoff in unserer Gesellschaft. Der evangelische Theologe weiß, wovon er spricht, persönliche Begegnungen gehören zu seinem Tagesgeschäft. In diesen, wie zum Beispiel beim Treffen der Menschen mit Armutserfahrungen, bei Schulbesuchen, beim Berliner Demografieforum oder beim Besuch diakonischer Stadtteil-Projekte, die der Diakoniepräsident in seinem Buch mit genauem Blick protokolliert, werden für ihn die gesellschaftlichen Verwerfungen spürbar. „Die hören uns nicht zu“ ist zu einem „Schlachtruf der Enttäuschten geworden“, so seine Bilanz.

Und so reflektiert Lilie, der auch Herausgeber von zeitzeichen ist, die aktuelle Literatur oder, wie er es nennt, „Lektürefunde“ zu Themen wie soziale Ungleichheit, zur Wertedebatte und zum Thema Zuhören. Zudem lässt er seine langjährigen Kenntnisse der Seelsorge einfließen. Ebenso Andreas Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten, das vor einem Jahr erschien und die kulturellen Umbrüche der Zeit eindringlich beschreibt. Er tut das in wenigen kurzen Zitaten oder sinngemäß in Fußnoten. So entsteht aus persönlichen Begegnungen und ausgewählter Literatur ein differenziertes, neues Bild. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Deutschland einen gemeinsamen gesellschaftlichen Aufbruch von Zivilgesellschaft und Politik braucht, der den Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Perspektive vermittelt. Sein eindringlicher Appell „Wir müssen miteinander reden, endlich wieder“ steht dabei nur am Anfang.

Das Buch mündet deshalb in leidenschaftliche Forderungen, das Zuhören in politisches Handeln zu übersetzen. Um die Glaubwürdigkeitskrise der Politik zu überwinden, müssten Probleme wie Armutsbekämpfung oder Wohnungsnot zur Sprache gebracht und dem Wähler unbequeme Fakten zugemutet werden. Ferner sollten die bundesweiten sozialen Ungleichheiten endlich benannt werden. In diesem Zusammenhang spricht sich der Diakoniepräsident für eine Lockerung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Kommune aus. Und in einem dritten Schritt fordert er kommunale runde Tische, so genannte Bürgerkonferenzen, um die Teilhabe zu verbessern.

Auch wenn Lilies Standpunkt und seine Forderungen Widerspruch hervorrufen, seine Absichten sollten die Debatte wert sein. Denn Totschweigen und ein „Weiter so“ wären schlicht unerhört.

zur Kampagne "Unerhört"

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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