Auf der Suche nach sich selbst

Die Geschichte Polens ist lang, geprägt von viel Leid und einem starken Freiheitswillen
Eine britische Karikatur von 1772 zeigt, wie Russland, Preußen und das Habsburger Reich Polen, symbolisiert durch den gefesselten polnischen König, erstmals teilweise annektieren und unter sich aufteilen. Foto: dpa/ Liszt Collection
Eine britische Karikatur von 1772 zeigt, wie Russland, Preußen und das Habsburger Reich Polen, symbolisiert durch den gefesselten polnischen König, erstmals teilweise annektieren und unter sich aufteilen. Foto: dpa/ Liszt Collection
Wenn 2018 einhundert Jahre Wiedererlangung der polnischen Staatlichkeit gefeiert wird, ist die Geschichte im öffentlichen Leben weitaus präsenter als etwa in Deutschland. Die Regierung hofft auf einen neuen Aufbruch der Nation. Eine Analyse vom Historiker Peter Oliver Loew, von der TU Darmstadt.

Am 11. November 2018 feiert ganz Polen: Der Nationalfeiertag erinnert an die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges, und da das nun genau ein Jahrhundert her ist, wird der Jahrestag entsprechend groß begangen. Seit Monaten schon ist das Thema Gegenstand öffentlicher Programme, kultureller Veranstaltungen und politischer Debatten. Der Aufbruch, den das Land Ende 1918 nach 123 Jahren Unfreiheit erlebte, soll sich heute wiederholen, Geschichte die Gegenwart befruchten. Damit wiederholt sich ein Muster, das polnische Mentalitäten seit langem prägt: Nationale Vergangenheit spielt eine wesentliche Rolle für die Konstruktion kollektiver Identitäten und lässt die Nation immer wieder auf die Suche nach sich selbst gehen.

Nationale Geschichte braucht stets einen Anfangspunkt. Was in der traditionellen deutschen Geschichtsschreibung oft bei Karl dem Großen beginnt, nimmt in Polen seinen Anfang bei Mieszko I. Dieser in und bei Posen herrschende Fürst ist der erste Herrscher, der im polnischen Mittelalter in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts historisch belegt ist; seine christliche Taufe im Jahre 966 gilt bis heute als symbolischer Gründungsakt des Staates Polen. Während aber Karl der Große in deutschen Landen kaum große Gefühle mehr hervorruft - zu kompliziert entwickelte sich die deutsche Staatsgeschichte, zu viele verschiedene Anfänge gab es und zu viele Katastrophen -, ist Mieszko bis heute in aller Polinnen und Polen Munde und auch in ihren Händen, denn er ziert den kleinsten Geldschein, die 10-Zloty-Banknote. 1966 wurde die Jahrtausendfeier Polens groß begangen - von der katholischen Kirche und in Konkurrenz hierzu vom kommunistischen Staat -, und 2016 war auch die 1050. Wiederkehr der Taufe Anlass für eine große Gedenk-Inszenierung.

Von zentraler Bedeutung für die Rolle, die Geschichte in Polen spielt, ist das Datum, an dem der Staat seine Unabhängigkeit verlor: 1795. Nach einer teils glänzenden Zeit als Großmacht, nach Jahrhunderten territorialer Ausdehnung in enger Union mit Litauen, war das von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer reichende Reich in schwieriges Fahrwasser geraten. Kriege gegen Schweden, Russland und das Osmanische Reich schwächten es ebenso wie ökonomische Schwierigkeiten und die gesellschaftliche Erstarrung, was es dem wohlhabenden Adel ermöglichte, eine Modernisierung und Zentralisierung des Staates erfolgreich zu behindern.

Als die Nachbarmächte Preußen, Russland und das Kaisertum Österreich deshalb auf die Idee kamen, ihre gegenseitigen Spannungen auf Kosten Polens beizulegen, hatte dieses kaum etwas entgegenzusetzen. Selbst die Reformanstrengungen, die unter dem letzten König Stanislaw August Poniatowski unternommen wurden, scheiterten letztlich. Nachdem die Nachbarn schon 1772 Teile des Landes annektiert hatten, vereitelten sie auch die Hoffnungen, die sich mit der modernen polnischen Verfassung von 1791 verbanden und teilten es 1793 und schließlich 1795 gänzlich untereinander auf.

Es dauerte eine Weile, bis der Schock des verlorenen Staates die einheimischen Eliten erreichte, denn zumindest ein Teil des Adels konnte in den aufstrebenden Imperien, denen er nun angehörte, durchaus Karriere machen. Doch der Verlust der eigenen Staatlichkeit und die zunehmenden Bestrebungen der Teilungsmächte, die polnische Bevölkerung sprachlich und kulturell zu „assimilieren“, ließen Widerstand entstehen. Zwei Aufstände gegen die Russen (1830/31 und 1863/64), Aufstandsversuche im österreichischen Galizien und im preußischen Posen scheiterten, zeigten aber der polnischen Bevölkerung, wie vital die polnische Nationsidee, die Nationalbewegung war. Die europäische Öffentlichkeit sah den aussichtslosen Kampf der Polen gegen die Fremdherrschaft gar als Signal für den demokratisch-liberalen Aufbruch gegen die konservativen Monarchien.

In ihrem Bestreben um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit agierte die polnische Nationalbewegung ähnlich wie es andere nationale Strömungen auch taten: Die eigene Nation wurde als Abstammungs- und Sprachgemeinschaft idealisiert, andere Gruppen abgegrenzt und teils zu Feindbildern stilisiert. Als die preußisch-deutsche Herrschaft in den einst polnischen Gebieten (neben Posen auch die Provinz Westpreußen) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer restriktiver wurde, legte man sich - übrigens auf beiden Seiten - eine „Urfeindschaft“ zurecht: Während national eingestellte Deutsche vor „slawischer Fluth“ und „polnischer Arglist“ warnten, bezogen Polen Stolz und Hoffnung aus dem Sieg eines polnisch-litauischen Heeres 1410 bei Tannenberg gegen den Deutschen Orden. Dieser Orden, der in den 1220er Jahren von einem polnischen Herzog zur Abwehr gegen die „heidnischen“ Prußen im Norden Polens angesetzt worden war, hatte sich rasch selbständig gemacht und bedrohte mit seinem expansiven Militärstaat das Königreich Polen immer mehr. Die große Schlacht der Ritterheere zerschlug den Ordensstaat zwar nicht - er hatte bis 1525 Bestand -, zeigte aber, dass er besiegbar war und lieferte viel Symbolik, die, von der Romantik überhöht, bis in die Gegenwart von größter Bedeutung ist. Das riesige Historiengemälde von Jan Matejko, das die Heerführer Polens (König Wladyslaw Jagiello, heute auf dem 100-Zloty-Schein zu sehen) und Litauens (Großfürst Witold/Vytautas) in dem Moment zeigt, in dem der Hochmeister des Ordens, Ulrich von Jungingen, zu Tode kommt, oder der große Historienroman „Die Kreuzritter“ von Henryk Sienkiewicz prägten über Generationen polnische Vorstellungswelten. Die beiden „Grunwald-Schwerter“, polnische Trophäen vom Schlachtfeld, wurden zu einem Symbol des polnischen Sieges über die Deutschen. Dass der Ordensstaat weder zum Alten Reich gehörte noch ethnisch durchweg deutsch war, spielte hierbei keine Rolle. Seit dem Zweiten Weltkrieg zieren die beiden stilisierten Schwerter in Polen Gedenkorte an NS-Verbrechen. Der aufwändige, ästhetisch kühne Historienfilm „Die Kreuzritter“ von Aleksander Ford von 1960 wird bis heute regelmäßig im polnischen Fernsehen gezeigt.

Obwohl die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte über lange Zeit von friedlichem Kontakt geprägt war, waren es die Antagonismen, die in der Wahrnehmung der Neuzeit das Bild ausmachten: Die antipolnische Politik Friedrichs II. (den die Polen nur widerwillig „den Großen“ nennen) und die von ihm verbreiteten antipolnischen Stereotype - die Verbreitung des Bilds von der „polnischen Wirtschaft“ als Synonym für verlotterte Zustände geht auf ihn und seine Beamten zurück -, die gegen die polnischen Nationalbestrebungen gerichtete Politik Bismarcks, die scharf antipolnische Rhetorik des nationalistischen „Deutschen Ostmarkenvereins“ im Kaiserreich sind bis heute Kernbestandteile des polnischen Geschichtsbewusstseins. Die Grausamkeiten, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg auf polnischen Boden begingen, an Polen und polnischen Juden, haben sich dann schwer auf die deutsch-polnischen Beziehungen gelegt, und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung hat es einem Teil der deutschen Gesellschaft nicht einfach gemacht, einen Weg der Versöhnung zu beschreiten.

Kampf gegen die Bolschewiki

Doch Preußen-Deutschland war nur eine der drei Teilungsmächte. Auch das Verhältnis zu Russland war angespannt, zumal nach der Niederschlagung der beiden großen Aufstände, dem Tod von zehntausenden polnischen Soldaten und der Verbannung von bis zu 25.000 Polen nach Sibirien. Man erinnerte sich in Polen gerne an die kulturelle Überlegenheit gegenüber dem „barbarischen“ Russland, und an einstige Siege, etwa an die polnische Besetzung Moskaus um 1605. In eine neue Phase traten die Beziehungen zu Russland mit der bolschewistischen Revolution von 1917. Sie entfesselte rasch einen verbissenen polnisch-russischen Krieg, in dem sich beide Seiten propagandistisch nichts gaben - die Bolschewiki verzerrten das Bild der Polen zu blutrünstigen polnischen Aristokraten, die im Verein mit der Kirche und den Kapitalisten das arbeitende Volk unterdrücken, die Polen zeichneten die Bolschewiki als ebenso blutrünstige Nachfahren barbarischer, antichristlicher Horden aus dem Osten. Nachdem Polen 1920 Kiew erobert hatte, stießen die bolschewistischen Truppen bis kurz vor Warschau vor und brachten die junge, noch fragile polnische Republik an den Rand des Untergangs. Erst ein mutiges Manöver des neuen starken Mannes im Staat, Józef Pilsudski, führte zum Sieg, der den Beinamen „Wunder an der Weichsel“ erhielt und die Existenz der Zweiten Republik endgültig sicherte. Diese Verteidigung gegen den Kommunismus wurde in Polen gerne mit der Verteidigung des Abendlandes gegen die islamischen Armeen verglichen, an der sich Polen im 17. Jahrhundert mehrfach beteiligt hatte: Am berühmtesten wurde der Marsch eines polnischen Heeres unter König Jan Sobieski (heute auf der 500-Zloty-Note zu sehen) nach Wien, wo es 1683 entscheidend dazu beitrug, die Belagerung durch die Osmanen zu durchbrechen. Dieses Bild der „Vormauer des Christentums“ hat bis in die Gegenwart ihre Konsequenzen, denn der polnische Widerstand gegen die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge wird vom nationalen Teil der polnischen Politik mit ähnlicher Rhetorik kommentiert: Man sieht sich genau wie weiland Jan Sobieski und Pilsudski als Held der Christenheit, die für Europa in den Kampf um die Rettung einer Welt ziehen, „wie wir sie kennen“.

Mit Österreich - bzw. Österreich-Ungarn - waren die Beziehungen am wenigsten getrübt. Gewiss, auch Wien beteiligte sich an der Teilung des Landes, und zu Beginn der Teilungszeit betrieb es eine vehemente Germanisierung der galizischen Städte und Verwaltung, doch mit der Zeit liberalisierte sich der Umgang mit den polnischen Untertanen, und schließlich wurde Galizien gar zum „polnischen Piemont“, zu jenem liberalsten Teil der einst polnischen Gebiete, in denen nicht nur die Verwaltungssprache Polnisch war, sondern wo man auch ohne größere Reaktionen der Obrigkeit an die eigene Geschichte erinnern konnte: 1910 wurde in Krakau zum 500. Jubiläum der Schlacht von Tannenberg ein großes Denkmal eingeweiht, das eine klar antideutsche Aussage hatte. Gestiftet hatte es der weltberühmte Pianist Ignacy Jan Paderewski, der sein Vermögen vor allem in Nordamerika gemacht hatte. Und zu diesem Anlass ertönte auch ein Lied zum ersten Mal, das rasch zu einer inoffiziellen Hymne Polens werden sollte („Wir lassen nicht von dem Land, von dem wir stammen“). Der Text stammte von der - in lesbischer Beziehung lebenden - Dichterin Maria Konopnicka, die Musik von Feliks Nowowiejski, der - im Ermland aufgewachsen - besser Deutsch als Polnisch sprach, in der antideutschen Aussage („Der Deutsche wird uns nicht ins Gesicht spucken“) aber eine Möglichkeit sah, sich zu seinen polnischen Wurzeln zu bekennen.

Neben den drei imperialen Nachbarn Polens gab es einen vierten - die auf polnischem Boden lebenden Juden. Seit dem Spätmittelalter war Polen zur wichtigsten Heimstatt der europäischen Juden geworden, wo sie gewisse Freiheiten genossen und aufgrund der schwachen Zentralisierung des Staates auch die Möglichkeit besaßen, ihre Sprache, Religion und Kultur relativ ungehindert pflegen zu können. Dies ließ die Juden jedoch bis ins 20. Jahrhundert in erheblichem Maße eine eigene Gruppe bleiben, wodurch sich ihre Situation diametral von der fast vollständig assimilierten deutschen Judenheit unterschied. Die Geschichte polnisch-jüdischen Mit- oder vielmehr Nebeneinanderlebens ist oft thematisiert worden, mal wurde sie ins Idyllische verklärt, mal als Geschichte von Missverstehen und Gegnerschaft dargestellt. Konfliktlos war sie nicht, doch erst mit den aufkommenden Nationalismen erreichte auch der Antisemitismus größere Kreise der polnischen Gesellschaft. In Krisenzeiten kam es zu Pogromen (schon 1918 in Lemberg), doch an einen Völkermord, wie ihn die Deutschen bald auf polnischem Boden veranstalten sollten, dachte in Polen niemand. Heute, in einem Land mit vielen jüdischen Friedhöfen, aber nur noch wenigen tausend Juden, mit mehreren NS-Vernichtungslagern und Namen wie „Auschwitz“, die sich ins Gewissen der Welt eingegraben haben, trägt Polen schwer an diesem Teil seiner Vergangenheit: Es ist eine Art Phantomschmerz, der in einer weitgehend monoethnischen Gesellschaft eine Mischung aus Nostalgie, Trauer und Trotz erzeugt.

Mehrfacher Bruch

Wenn 2018 einhundert Jahre Wiedererlangung der polnischen Staatlichkeit gefeiert werden, erklingt also ein gewaltiges Konzert historischer Obertöne, die weitaus präsenter sind als etwa in Deutschland. Dazu kommt der mehrfache Bruch der staatlichen Traditionen, den Polen seit 1918 erleben musste: Schon 1926 putschte Józef Pilsudski gegen die parlamentarische Republik und installierte - manche sagen: zur Rettung vor den Nationalisten - ein autoritäres System. 1939 wurde Polen erneut zerschlagen, ab dem 1. September von NS-Deutschland, und ab dem 17. September von der Sowjetunion. Sechs Millionen polnischer Staatsbürger ließen im Zweiten Weltkrieg ihr Leben, Millionen wurden vertrieben, verschleppt, enteignet, entrechtet, Millionen verloren durch die Westverschiebung des Landes ihre Heimat und fanden in den einst deutschen Ostgebieten ein neues Zuhause.

Die Traumata dieser Jahre sind in Polen bis heute präsent, zumal die Nachkriegszeit kaum Gelegenheit bot, sie zu bewältigen: Das kommunistische System war zunächst eine brutale totalitäre Diktatur, später ein hässliches autoritäres Regime, das aber immerhin eine stupende künstlerische Produktion zuließ. 1980 erkämpfte sich die friedliche Arbeiterbewegung der „Solidarnosc“ weitgehende Freiheiten, nur um Ende 1981 unterdrückt zu werden. 1989/1990 schließlich der Umbruch zur Dritten Republik, einem liberal-demokratischen System, das seit 2015 durch die konservativ-nationalistische Agenda der neuen Regierung in Frage gestellt wird. Erfolgsgeschichten wie der Beitritt zu Nato und Europäischer Union oder der erstaunliche wirtschaftliche Aufschwung des Landes treten angesichts dieser neuesten Entwicklung wieder in den Hintergrund. Die Suche Polens nach sich selbst, nach all den Katastrophen und Brüchen der Vergangenheit, die Suche nach kohärenten Narrativen wird auch in naher Zukunft die Gesellschaft des Landes prägen: Sie nicht in destruktive Machterhaltungsrhetorik zu münzen, sondern in eine positive Erzählung von Erfolg, Vitalität und Chancen, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein. Die reiche Vergangenheit, die wie in kaum einem anderen Land Europas präsent ist, sollte dabei eigentlich nicht hinderlich sein.

mehr zum Thema "Polen"

Peter Oliver Loew

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Politik"