Einheit nicht um jeden Preis

Die Kirchen müssen endlich offen über die Auslegung der Bibel streiten
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Einheit, Einheit über alles. Diesen kirchenpolitischen Refrain meint man zu vernehmen, blickt man auf die großen synodalen Debatten der vergangenen Jahre. Wird da etwa magisch beschworen, was längst zerbröckelt ist? Natürlich wissen die (meisten) Verantwortlichen, dass unter dem morsch und löchrig werdenden Dach der Landeskirchen eigentlich völlig inkompatible Christentümer wohnen: meistens aneinander desinteressiert vorbeilebend, spirituell in eigene Szenen eingeschlossen, in ethischen Fragen jedoch rasch in fundamentale Opposition geratend. Es reichen wenige Stichworte, um die Fronten aufzurufen: Ehe für alle, Flüchtlingsfrage, Lebensschutz.

Wie in der derzeitigen kirchenamtlichen Ökumene des Weglächelns setzt auch innerkonfessionell die Kirchenpolitik meist auf Beschwichtigung. Fundamentale ethische Dissense und entgegengesetzte hermeneutische Lesarten der Bibel bedrohen doch nicht die Kircheneinheit, lautet etwa sinngemäß die Position der synodalen Arbeitsgruppe in der bayerischen Landeskirche, die den Beschlusstext zur Segnung Gleichgeschlechtlicher in diesem Jahr vorgelegt hat. Da muss man als gleichgeschlechtliches Paar halt ein wenig Glück haben, um mit dem Wunsch nach einer kirchlichen Trauung oder Segnung nicht doch an jemanden zu geraten, der noch in einer überholten Schöpfungsordnungstheologie oder biblizistischen Ethik verfangen ist und sich nun auf sein Gewissen berufen darf, um die Türe zuzuschlagen.

Doch die nicht abebbenden Streitigkeiten um die Trauung für alle sind nur ein Symptom viel tiefer liegender Konflikte, für die sie sich als stellvertretendes Kampffeld anbieten. Dass laut Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) über 31 Prozent der befragten die Bibel wortwörtlich verstanden wissen wollen (7,5 Prozent volle Zustimmung; 23,8 Prozent trifft eher zu), hat in den Auswertungen der Umfrage niemanden interessiert. Nur ja nicht daran rühren, dass fast ein Drittel der Befragten einer unevangelischen biblizistischen Schrifthermeneutik folgen könnte oder offenbar würde, dass der Religionsunterricht und die Konfiarbeit an dieser Stelle versagt haben könnten.

Es rächt sich nun, dass nach Abebben der Bultmann-Kontroverse in der Mitte des 20. Jahrhunderts und bald 50 Jahre nach dem „Streit um Jesus“ beim Kirchentag 1969 in Stuttgart die Fragen der Bibelhermeneutik (trotz der verdienstvollen populären Bücher Gert Theißens und anderer) in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr im Zentrum gemeindepädagogischer Praxis und synodaler Selbstklärungen standen. Von der Differenziertheit heutigen hermeneutischen Denkens in akademischen Diskursen, wie sie etwa im online-Lexikon-Artikel „Hermeneutik“ (Ruben Zimmermann) von WiBiLex leicht zugänglich ist oder sich in Beiträgen Peter Dabrocks zum Bibelbezug der Ethik niederschlägt, findet sich viel zu wenig in der kirchlichen Praxis wieder. Stattdessen wird man sich womöglich darauf einstellen müssen, dass demnächst auch im Protestantismus wieder theologisch reaktionäre Vikare auftreten, die sich auf ihr Gewissen berufend die Frauenordination als „Gendergaga“ ablehnen mit dem Hinweis, das sei doch biblisch belegt! Während die staatlichen Religionslehrkräfte darauf verpflichtet werden, die Grundsätze evangelischen Glaubens auf wissenschaftlicher Grundlage zu vermitteln, sind die entsprechenden Ansprüche an die Pfarrerschaft (und die synodalen Leitungsorgane) nach Entlassung aus dem akademischen Ausbildungsfeld und dem Predigerseminar offenbar stark ermäßigt. Am Horizont zeichnet sich ja bereits ab, dass die Vertreter des rechten politischen Randes auch in die Kirchen einmarschieren wollen.

Solchem Populismus kann nur widerstehen, wer selbst ein geklärtes Verständnis der Schrifthermeneutik und des Wesens evangelischer Ethik als Freiheits- und Verantwortungsethik mitbringt. Der Streit um die Bibelauslegung in den Kirchen ist daher endlich in der Breite der Kirchen offen zu führen - mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Dazu gehört auch, noch deutlicher als bisher auf Mindeststandards der Bibelauslegung zu achten und die Grenzen zum theologisch unreflektierten Biblizismus klarer zu ziehen. Denn die Aufgabe der Kirche ist nicht primär die Wahrung ihrer Einheit um jeden Preis, sondern die sach- und zeitgemäße Kommunikation des Evangeliums als Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Wenn Kirchen wie die bayerische Landeskirche derzeit um „Profil und Konzentration“ ringen, dann wird es nicht ausreichen, lediglich die Größe zukünftiger kirchlicher Handlungsräume neu zu bedenken. Wir brauchen eine Großoffensive zur biblisch-hermeneutischen und theologisch-ethischen Bildung in Gemeinden, Kirchenvorständen und kirchenleitenden Organen!

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Dr. Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Peter Bubmann

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Peter Bubmann

Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen.


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