Präzise benannt

Kernproblem der Theologie
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Dalferths will Schleiermacher und Barth zusammenbringen.

Als ich vor gut zehn Jahren ein Schulpraktikum absolvierte, erlebte ich in einer Religionsleistungskursstunde zum Thema „Reden Jesu“, wie der Lehrer der Klasse ausführlich erklärte, dass nach historisch-kritischem Forschungsstand die Jesusworte so niemals von Jesus gesagt worden seien. In der anschließenden Diskussion wurde dann ein „historischer Jesus“ konstruiert, der mit dem Bibeltext sehr wenig, mit dem - liberalen, aufgeklärten, an sozialer Gerechtigkeit orientierten - Weltbild der Leistungskursklasse aber sehr viel zu tun hatte. Die Klügeren unter den Schülern nahmen die ganze Diskussion gar nicht ernst; für sie war klar: Die Bibel ist eine Lügengeschichte.

Wir scheinen am vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung angelangt zu sein, die mit der Infragestellung der historischen Zuverlässigkeit der Bibeltexte im 18. Jahrhundert begann und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Etablierung der historisch-kritischen Exegese einerseits, zur Renaissance der liberalen Theologie andererseits geführt hat. Für Ingolf U. Dalferth ist dies eine Konsequenz der „Gutenberg-Falle“, in die das evangelische Christentum getappt sei. Die Theologie sei am „Heiligkeitserweis“ der Bibel gescheitert und in eine „Krise des Schriftprinzips“ geraten, die sie dadurch zu kaschieren suche, dass biblische Texte in der Exegese nur mehr rein historisch-philologisch untersucht würden und in systematisch- und teils auch praktisch-theologischen Zusammenhängen keine nennenswerte Rolle mehr spielten. In diese Problemlage versucht Dalferth Ordnung zu bringen, aber auch, eine Lösung aufzuzeigen.

Was die Ordnung betrifft, so weist Dalferth mit großem Nachdruck darauf hin, dass das Christentum keine „Buchreligion“ sei wie etwa der Islam. Die „Gutenberg-Falle“ bestehe darin, „Bibel“, „Schrift“ und „Evangelium“ als Austauschvokabeln zu verstehen, anstatt sie, wie eigentlich nötig, klar voneinander zu unterscheiden. Die Bibel sei ein Buch, das eine Sammlung verschiedener Texte von der Genesis bis zur Johannesapokalypse enthält und prinzipiell durch keine besondere Qualität von anderen Büchern unterschieden ist. „Schrift“ wiederum versteht Dalferth als den kirchlichen Gebrauch der biblischen Texte, also die Nutzung der Bibel zur Kommunikation des Evangeliums, das Gottes Zusage an den Menschen ist und den Inhalt der Schrift bildet.

Dalferths Lösungsvorschlag besteht darin, Schleiermacher und Barth zusammenzubringen. Genauer soll einerseits der biblische Kanon als Sammlung derjenigen Texte verstanden werden, die den Glauben der ersten Christen verbürgen (Schleiermacher), andererseits aber sei genau dieser Kanon als Schrift zu verstehen (Barth), das heißt als Gebrauchsmittel zur Kommunikation des Evangeliums - als Raum, in dem Gott uns in seinem Wort begegnet. Das bedeutet für ihn auch, zu akzeptieren, dass die Theologie von der Kirche schlechthin abhängig ist, dass zuerst der „kirchliche Tatbestand“ da ist und dann die „theologische Reflexion“ folgt, die es ohne diesen Tatbestand nicht gäbe.

Dalferth wendet diese Position auch auf die jüngste Debatte über die Kanonizität des Alten Testaments an: Weder könne man das Alte Testament als eine Art religionsgeschichtlichen Ballast einfach loswerden, ohne dieselbe Argumentation auch auf das Neue Testament anzuwenden, noch könne man davon abgehen, vom Alten Testament christlichen Gebrauch zu machen. „Was Christum treibet“ (Martin Luther) bleibe der christliche Beurteilungsmaßstab für alle Texte der Bibel, weswegen die christliche Rede vom „Ersten Testament“ oder der „Hebräischen Bibel“ ebenso missverständlich sei wie jeder biblizistisch-ethisierende Textgebrauch. Dalferth hat ein Kernproblem der evangelischen Theologie so präzise benannt wie kaum jemand sonst.

Benjamin Hasselhorn

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Foto: Markus Pletz

Benjamin Hasselhorn

Benjamin Hasselhorn ist evangelischer Theologe und Historiker. Von 2014 bis 2019 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und war Kurator der Nationalen Sonderausstellung 2017 "Luther! 95 Schätze - 95 Menschen" in Wiitenberg. Seit April 2019 ist er Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg.


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