Freies Volk
Sonntag Exaudi, 13. Mai
Das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben. (Jeremia 31,33)
Was für eine Vision! Es wird eine Zeit kommen, verkündet der Prophet Jesaja, da werden alle Gesetze überflüssig werden. Zumindest alle äußeren Gesetze. Die Gesetzestafeln aus Stein, in die gemeißelt wurde, was gut ist für das Zusammenleben der Menschen und für das Leben mit Gott.
Mose zertrümmerte die Gesetzestafeln ja kurz nachdem er sie vom Gottesberg heruntergebracht hatte. Denn das Volk hatte ein selbstgeformtes goldenes Kalb an die Stelle des Gottes gesetzt, der aus der Sklaverei befreit hatte. Es erwies sich also als unfähig, schon das erste Gebot zu halten.
Wenn man die Vision aus dem Jeremiabuch kurz nach dem 200. Geburtstag von Karl Marx liest, klingt da unwillkürlich eine andere Vision mit an: Es wird eine Zeit kommen, verkündeten Karl Marx und Friedrich Engels, da wird der Staat einfach absterben, ganz von allein, ganz allmählich. Einen solche Institution mit Gesetzen und Machtpositionen wird es einfach nicht mehr brauchen. Denn der Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, Herren und Knechten wird aufgehoben sein. Wenn alle in gleicher Weise verantworten, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltet werden und der Klassengegensatz nicht mehr gewaltsam abgesichert werden muss, ändern sich die Besitzverhältnisse und ändern sich auch die Menschen. Ganz von selbst.
Aber bei Jeremia bedarf es ein wenig mehr, als nur der Neuordnung der äußeren, gesellschaftlichen Strukturen. Er setzt im Inneren des Menschen an: Sein Herz und Sinn müssen sich erneuern. Das alte, äußere Gesetz muss nicht abgeschafft und gewaltsam zertrümmert werden. Denn es will ja das Gute. Daher muss es verinnerlicht werden: Aus dem äußerlich geforderten und erzwungenen Gesetz muss eine selbstverständliche Haltung werden. Bei allen. Groß und Klein. Oben und Unten. Wer aus diesem inneren Gesetz her handelt, braucht keinen Zwang und keine Ermahnung mehr. Menschen leben im Einklang mit Gottes Willen. Sie sind Gottes befreites Volk, das keinen Staat und keine Gesetzestafeln mehr braucht. Was für eine Vision!
Anderer Blick
Pfingstsonntag, 20. Mai
Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. (1. Korinther 2,14)
Biologischer Reduktionismus“, definiert ein Psychologielexikon, ist die Überzeugung, dass beobachtbare Phänomene auf einer bestimmten Analyseebene durch fundamentale Gesetze auf einer niedrigeren, grundlegenderen Ebene erklärt werden können. Nach dieser Auffassung liegt die Grundlage allen Verhaltens, Denkens und Fühlens im Nervensystem, ist also auf das neuronale Substrat reduzierbar (Reduktionismus).
Heute scheint es nahezu selbstverständlich zu sein, dass der Mensch nach naturwissenschaftlich entschlüsselbaren Mechanismen funktioniert. Auch auf der Ebene des Verhaltens, Denkens und Fühlens. Jedem bewussten Impuls oder Gedanken läuft ein neuronales Aktionspotenzial voraus. Unser Denken und Wollen ist dann nicht mehr Herr im Haus. Vielmehr scheinen wir ausgeliefert zu sein an genetische Programmierung, an biologisches Schicksal, die Natur.
Wie töricht muss es aus einer solchen Weltsicht sein, wenn Christenmenschen zu Pfingsten darauf beharren, dass das eherne Gehäuse dieser Biomaschine aufgebrochen werden kann, von anderen Kräften gesteuert, von anderen Geistern beseelt, mit anderen Augen betrachtet.
Wie leicht können Christenmenschen da mit Esoterikern und New-Agern in eine Schmuddelecke gesteckt werden. Aber lehrt uns der Geist aus Gott wirklich ein anderes Wissen, als das, was die Welt aus sich hervorbringen kann?
Wenn wir die Macht des Heiligen Geistes feiern und verteidigen, dann feiern wir die Fähigkeit des Menschen, die Natur zur Kultur hin überschreiten zu können, ein anderer zu werden, als die Biologie es vorzugeben scheint. Den Blick wechseln zu können. In der Nachfolge des Christus unseren Sinn in seine Gesinnung zu verwandeln.
Das ist mehr als nur Natur. Und wir müssen uns nicht dazu zwingen lassen, naturwissenschaftliche Beweise dafür vorzulegen. Wir müssen nur, nein: wir dürfen es leben. Sichtbar und begeistert und frei.
Rettende Kraft
Trinitatis, 27. Mai
In Christus hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe. (Epheser 1,4)
Das Buch The Great Blessing, das der US-Dominikaner Matthew Fox 1983 veröffentliche, empfanden viele Christen als Befreiung. Endlich stellte ein Theologe nicht die Erbsünde des Menschen an den Anfang, sondern Gottes „Großen Segen“, die Schöpfung, die in unerschöpflichem Maß Leben und Liebe spendet. „Und Gott sah, dass es gut war.“ Dieser Satz aus 1. Mose 1,10 überstrahlt für Fox alles Düstere, das die Entwicklung von Mensch und Erde überschattet. Und das ist eine Botschaft, die emanzipierte Christinnen und Christen gerne vernahmen.
Etwas schwerer taten sich dann viele, Matthew Fox - der aus dem Dominikanerorden ausgeschlossen und anglikanischer Pfarrer wurde - in seiner nächsten großen Veröffentlichung zu folgen. The Coming oft he Cosmic Christ, Der kosmische Christus, aus dem Jahr 1988 führte ungebrochen in die mythisch-kosmologische Welt des Epheserbriefes. Christus war demnach bereits vor aller Zeit und am Beginn der Schöpfung dabei.
Aber der ewige kosmische Christus weist auch in die Zukunft. Weil er die Welt letztendlich zusammenhält und durchwaltet, ist er die einzige Hoffnung in einer Zeit, in der ein Ökozid, den eine aus dem Ruder gelaufene Industriegesellschaft verursacht, den Weltuntergang herbeizuführen droht. Da ist es theologisch hilfreich, einen Bogen vom großen Segen des Anfangs zum rettenden kosmischen Christus zu schlagen. Denn nur die schöpferische Kraft des Anfangs kann heute als rettende Kraft einen Rest von Hoffnung darauf mobilisieren, dass die Umkehr zu einem schöpfungsgemäßen Leben möglich ist. Denn es ist zugleich das Leben des Christus, der als Mensch-gewordener den Anfang zu unserer Erlösung gesetzt hat. Oder sollten wir es besser Transformation nennen?
Feuer und Hammer
1. Sonntag nach Trinitatis, 3. Juni
Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. (Jeremia 23,19)
Es gibt auch heute noch falsche Propheten, vor denen Gott schon bei Jeremia warnte. Es gibt noch Leugner des Klimawandels, die behaupten, böswillige Zeitgenossen hätten das Gerede von der menschengemachten Erderwärmung in die Welt gesetzt, um der (Öl-) Wirtschaft mit Umweltauflagen das Leben zu erschweren. Dabei gebe es doch höchstens ein paar ganz natürliche Temperaturschwankungen, die auf Sonneneinwirkungen zurückzuführen seien. Es bestehe also kein Grund zur Sorge. Oder zu einem Umsteuern in Wirtschaft und Politik.
Dabei stehen wir schon mitten in den Zeichen des Zorns: Hitzewellen, Dürren, Wirbelstürme, Überschwemmungen.
Wer genau hinschaut, weiß, dass diese Naturereignisse mit unserem bösen Wandel zu tun haben, wie wir die Natur als Ressource ausbeuten und aus dem gottgewollten Gleichgewicht bringen. Und dass der „Dom“ im rheinischen Immerath dem klimaschädlichen Braunkohletagebau geopfert wurde, macht sichtbar, dass die Kirchen nicht in der ersten Reihe stehen, wenn es gilt, diesem Treiben Einhalt zu gebieten und ein radikales Umsteuern einzuleiten.
Wahre Propheten, die ohne falsche Rücksichten sagen, was Sache ist, finden sich da eher in den säkularen Bewegungen. Das Aktionsbündnis „Ende Gelände“ bringt mit Symbolhandlungen spektakuläre Bilder in den Medien hervor, die sich ins Gedächtnis einbrennen. Die jungen Menschen, die in weißen Overalls in die Tagebaue strömen, riesige Bagger umringen und beklettern. Hoffentlich wirken ihre Anklagen wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zertrümmert. Denn es geht um ihr und unser Leben. Etwas das uns alle unbedingt angeht. Also: um Gott.
Einfaches Rezept
2. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juni
Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde.(1. Korinther 14,3-4)
Viele, die auf der Kanzel stehen, ergreift die Angst, dass das, was sie in ihrer Predigtvorbereitung erarbeitet haben, die in den Bankreihen nicht erreicht, an ihnen vorbeigeht, schlicht nicht verstanden wird. Als spräche man in einer völlig fremden Sprache.
Paulus sorgt sich in seinem Schreiben an die Gemeinde in Korinth darum, dass das Reden im Gottesdienst unverständlich ist. Die ekstatische Gabe der Zungenrede, einer Rede in einer unverständlichen Sprache, die übersetzt werden muss, mag bei den Korinthern sehr beliebt gewesen zu sein. Schließlich galt sie als höchster Beweis dafür, im Besitz des Heiligen Geistes zu sein. Und auch manche Predigerin und mancher Prediger heute mag sich vom Geist beflügelt fühlen, wenn sie oder er im Überschwang abhebt und die Adressaten aus dem Blick verliert.
Das Rezept des Paulus ist ganz schlicht: Er empfiehlt die Wirkung der Rede nicht am Redner festzumachen, sondern am Hörer, der Hörerin. Geistliche Rede soll erbauen, also stärken, was schon vorhanden ist. Sie soll ermahnen, also Kritik üben, wenn nicht im Geiste Gottes gehandelt wird. Und sie soll trösten, also alle, die zweifeln oder unsicher sind, ermutigen, zu Gewissheit und Hoffnung befähigen.
Das ist kein schlechter Kriterienkatalog, um eine Predigt noch einmal gegenzulesen, bevor sie auf die Kanzel getragen werden darf. Nur seltsam, dass Paulus eine solche Rede eine prophetische nennt. Aber sei es so. Lasst uns Propheten sein, erbauen, mahnen und trösten nach allen Kräften.
Thomas Zeitler
Thomas Zeitler
Thomas Zeitler ist Kulturpfarrer an der Egidienkirche in Nürnberg. Er hat 2001 den Nürnberger Queergottesdienst mitbegründet und engagiert sich im lokalen Bündnis gegen Trans- und Homophobie.