Abgeben!

Wie Fußball das Leben beglücken kann
Der Autor in Aktion: Peter von der Osten-Sacken (Nummer 10) gegen den Erzrivalen Lehrte, Saison 1958/59. Fotos: privat
Der Autor in Aktion: Peter von der Osten-Sacken (Nummer 10) gegen den Erzrivalen Lehrte, Saison 1958/59. Fotos: privat
Der Theologe Peter von der Osten-Sacken spielte früher sehr erfolgreich Fußball und liebt diesen Sport bis heute. Hauptberuflich aber war er über dreißig Jahre Professor für Neues Testament in Berlin, nachdem in den Sechzigerjahren ein übervorsichtiger Göttinger Universitätsarzt der weiteren Sportkarriere des Theologen ein jähes Ende setzte.

Ganz in Gelb und Rot gehalten zeigt das Bild eine ostjüdische Familie an einem Sabbatnachmittag. Die Eltern sitzen reglos auf ihren Stühlen, der Nachwuchs aber hat sich auf das Sofa hingefläzt, wie man sich nur in manchen Stunden eines Feiertages hinlümmeln kann, wenn die ganze Welt aus Langeweile besteht. So wie auf diesem Bild Marc Chagalls hätte es auch Sonntag für Sonntag im Pfarrhaus unseres 1.000-Seelen Dorfes im ländlichen Niedersachsen ausgesehen, wäre da nicht das einzige Heilmittel gewesen, das einem Dorf gegeben ist, der Fußball. Morgens spielte die Jugend, am Nachmittag die Erste und die Zweite Herren, im Wechsel einmal zu Hause und einmal auswärts. Welch endloser Sonntag, wenn die Mannschaften nach auswärts fuhren und man zu Hause bleiben musste!

Nach und nach zeigte sich, dass der Pfarrerssohn nicht nur wie alle anderen eine unzerstörbare Lust auf Fußball hatte, sondern auch eine gewisse Begabung für das Spiel. Leider gab es ein schier unüberwindliches Hindernis in dem Nein der Eltern, vor allem der Mutter. Um zehn Uhr vormittags fand am Sonntag beides statt, der Gottesdienst und das Spiel der Jüngsten. Alles Bitten und Betteln half nichts. Doch bot die Gleichzeitigkeit beider Veranstaltungen auch einen verlockenden Ausweg. Denn man konnte zwar nicht von einem elfjährigen Pfarrerssohn erwarten, dass er sich Sonntag für Sonntag im Gottesdienst der Erwachsenen einfand, wohl aber von der Pfarrersfrau. So bestand die ganze Kunst darin, sich zwischen halb zehn und zehn so aus dem Gesichtskreis der Eltern zu schleichen, dass sie nicht bemerkten, wohin man sich davonstahl.

Wie der Verein den Spielerpass manipulierte, ist sein Geheimnis geblieben. Doch war die Mogelei befristet. Irgendwann roch die stets wachsame Mutter den Braten, zog den ungehorsamen Sohn ins Verhör - und kapitulierte zu seinem Glück.

Die kleine Welt des Sports, in der wir uns bewegten, lebte landauf, landab von unermüdlichen Idealisten. Bei uns war es Hermann Blume. Er gehörte zu denen, die geistig wendiger und daran interessiert waren, dass das Dorf nicht nur vor sich hindöste. So gab er seine ganze Freizeit dran, um die Jugendabteilung des heimischen TSV auf Trab zu bringen, nicht nur im Fußball, sondern auch - für ein kleines Dorf eher eine Seltenheit - in Leichtathletik. Ihm habe ich zu danken, dass er mich als Kandidaten für eine überregionale Jugendauswahl vorschlug und ich so den Weg zum tsv Burgdorf fand.

An die Spiele in der B-Jugend habe ich nur noch vage Erinnerungen. Anders verhält es sich mit der Zeit in der A-Jugend. Über zwei Jahre hin, von 1956 bis 1958, hatten wir eine vorzügliche 1. A-Jugend-Mannschaft, mit sechs Spielern, die beide Jahre durchspielten, das Rückgrat der Mannschaft bildeten und zweimal einen für die Kleinstadt ungewöhnlichen Erfolg errangen.

Geborene Pokalmeister

Wie auch heute noch für die Herren-Mannschaften aller Vereine gab es für die 16 bis 18-Jährigen in der A-Jugend sogenannte Pokalspiele. Hier trafen Mannschaften aus verschiedenen Ligen in ganz Niedersachen nach dem Los- und k.o.-Prinzip aufeinander. Natürlich gewannen in der Regel die größeren Vereine - das waren Namen wie Hannover 96, Arminia Hannover, Werder Bremen, Eintracht Braunschweig und andere mehr. Aber manchmal geschah auch das Unglaubliche.

Als ein Teil der B-Jugend 1956 in die erste A-Jugend überwechselte, fand sich eine Mannschaft zusammen, die erstaunlich gut harmonierte und eine der ausgelosten Begegnungen nach der anderen gewann. Das Geheimnis ihres Erfolges war, dass sie beides aufs Beste miteinander zu vereinen verstand: den Ehrgeiz eines jeden Einzelnen und das, was für ein Mannschaftsspiel entscheidend ist - nicht mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, sondern abzugeben. Je weiter wir vorankamen, desto größere Städte meinten den kleinen Kreisverein überrennen zu können, doch am Ende war die Sensation perfekt. Wider alles Erwarten gewannen wir den Niedersachsenpokal 1956/57.

Nach Saisonende blieben sechs der siegreichen Spieler in der A-Jugend, die andere Hälfte kam aus der B-Jugend herüber und beide zusammen wiederholten das Wunder von 56/57. Alle größeren Vereine blieben auf der Strecke, als vorletzter Hannover 96 in Burgdorf, an einem Sonntagvormittag bei über 30 Grad im Schatten. Die Großstädter liefen mit ihren 17, 18 Jahren auf, als wären sie die Zukunft des Fußballs, und glaubten den Sieg schon in der Tasche. Doch das heimische Publikum feuerte uns an, und wir kämpften bis zum Umfallen. Nach zweimal 40 Minuten stand es 2:2, es folgten zweimal 10 oder 15 Minuten Verlängerung, in denen wir völlig Erschöpften, das Ziel zum Greifen nahe, das Letzte gaben, und am Ende hieß es 3:2! Das war ein Ergebnis wie in Bern 1954 - es wäre eine Schande gewesen, wenn wir das Endspiel nicht auch noch gewonnen hätten.

Der zweimalige Erfolg in der 1. A-Jugendmannschaft eröffnete den Sechs, die beide Male dabei waren, fast wie von selbst die Anwartschaft auf einen Platz in der 1. Herren-Mannschaft. Sie spielte damals in der Bezirksliga. In der Saison 58/59 gab es viele schöne, aufregende Spiele mit Hattrick in der zweiten Halbzeit nach einem Rückstand von 0:3, Sieg über den Erzrivalen Lehrte, ja auch mit zweimal verschossenem Elfmeter. Doch das tollste von allen war das Auswärtsspiel gegen Eintracht Lüneburg. Nach und nach gewannen wir eine leichte spielerische Überlegenheit, die ahnen ließ, dass irgendwann ein Tor fällig war. Da begannen die Einträchtler, sich auf üble Fouls zu verlegen, denen der Schiedsrichter auch nicht entfernt gewachsen war. Ich weiß nicht, das wievielte er durchgehen ließ, als einem schon verwarnten Spieler unserer Mannschaft endgültig der Kragen platzte und er den Schiedsrichter in einer Tonlage anfuhr, die man auch für Schreien halten konnte. Damit hatte seine Stunde geschlagen. Der Rest wurde eine Verteidigungsschlacht vom Feinsten. Im Strafraum drängten sich die Spieler beider Mannschaften. Unser Torwart hatte bei anderen Spielen so manchen Ball verpatzt. Jetzt hielt er wie ein Weltmeister und warf sich todesmutig in jeden Schuss. Doch dann geschah es. Wenige Minuten vor Schluss landete der Ball in unserem Tor - und das bei diesem Spiel. Bis zum Umfallen gekämpft und alles umsonst! Wir machten Anstoß, warfen alles nach vorn, kamen dieses eine Mal noch vor das gegnerische Tor, erzielten eine Ecke, der Ball kam aufs kurze Eck herein, ein verzweifelter Sprung und das Leder landete im Netz, 1:1, eine Minute vor Schluss! Wer einen solchen Augenblick erlebt, der hat die Seligkeit des Fußballs geschmeckt.

Wer kann schon den ganzen Tag büffeln und wer will es mit neunzehn Jahren, selbst wenn die nächste Prüfung droht? So galt eine meiner ersten Nachforschungen im ersten Semester in Göttingen dem Universitätssport. Das Glück war mir hold. Alle Plätze in der Fußballmannschaft waren in fester Hand, nur auf Linksaußen herrschte für das nächste Spiel Bedarf. Ich bejahte die Frage, ob ich auf diesem Posten spielen könne, und obwohl die Position für mich neu war, füllte ich sie so aus, dass ich fortan zur Mannschaft gehörte.

Wunderbares Stellungsspiel

Das für mich selber denkwürdigste Spiel fand bald nach Semesteranfang an einem Wochentag abends gegen die 1. Mannschaft von Göttingen 05 statt, die in jenen Jahren in der Amateuroberliga spielte, zeitweise auch in der höchsten Klasse, der Oberliga (Nord). Vor Beginn des Spiels kam der mir unbekannte Erste Vorsitzende des Vereins auf mich zu und machte mir, von einem Scout in Hannover angeregt, das Angebot, für Göttingen 05 zu spielen. Ich konnte mir nicht vorstellen, meinem alten Verein so bald untreu zu werden. So entwand ich mich dem Vorsitzenden, indem ich versprach, es mir zu überlegen und ihn alsbald anzurufen. Ich habe es nicht getan und bin noch heute froh darüber. Ich weiß auch nicht, was gemeiner war - dass ich ihn trotz Zusage nicht mehr anrief oder der Verlauf des Spieles selber. Denn tatsächlich gewannen wir mit 4:3 Toren, und ich selber hatte meinen bon jour und schoss drei von ihnen. Armer 1. Vorsitzender!

„Treiben Sie Sport?“ fragte der Universitätsarzt, der die obligatorischen Röntgenreihenuntersuchungen im ersten Semester leitete, und ergänzte, nachdem ich bejaht hatte: „Sofort aufhören, Sie haben solch ein Herz!“ Und damit deutete er ein beängstigendes Ausmaß an. Damals brach eine Welt für mich zusammen, und wenn es überraschenderweise nur für eine Weile war, so deshalb, weil die Diagnose schon fast eine Schocktherapie und das Semester durch das Erlernen des Hebräischen ausgefüllt war.

Jahre später, 1967 oder 68, als alle Assistenten im neuen Göttinger Theologicum auf einem Fleck arbeiteten und man mehr voneinander erfuhr, gab es dann doch noch ein Nachspiel. Wie von selbst fand sich eine Menge Fußballbegeisterter zusammen - unter den Assistenten selbst, dann auch unter den Studenten und selbst bei den Professoren. Mancher damals oder heute bekannter Name war darunter. Manfred Josuttis, der über den Platz watschelte, als sei er gerade aus Entenhausen eingeflogen, und der sich doch auf ein wunderbares Stellungsspiel verstand; Berndt Schaller, der mit unerschöpflicher Energie jedem Ball hinterherjagte, als gelte es, seine Flugbahn bis in den letzten Winkel zu verfolgen; Bertold Klappert, vor dessen scharfem Schuss man je und dann besser in Deckung ging. Die Universität hatte gerade ein herrliches Sportgelände bekommen und über Jahre hin spielten wir an jedem Samstagnachmittag auf einem der kleinen Spielfelder. Sogar nicht ohne Erfolg. Beim jährlichen Uniturnier landeten wir zum Staunen der Nichttheologen zweimal unter den letzten Vier von mehr als hundert Mannschaften. Das große Herz scherte mich nicht mehr, anscheinend mit glücklicher Intuition. Denn wenige Jahre später diagnostizierte ein Arzt: „Sie haben ein Riesenherz - geben Sie ihm etwas zu tun und treiben Sie Sport!“

„Spiele, die ich nie vergesse“ - so war in den Fünfzigerjahren ein Buch von Fritz Walter betitelt. In seinem Mittelpunkt stand die WM 1954 in der Schweiz mit dem Endspiel in Bern und dem unerwarteten Sieg über Ungarn. Der Tag des Spiels ist vor allem aufgrund des Ambientes vor Ort in Erinnerung geblieben. Nur in dem kleinen Nachbardorf gab es damals einen der noch seltenen Fernseher. Kaum größer als ein Radio, stand der Apparat vorne im großen Festsaal der Gastwirtschaft. Für teure 50 Pfennig fand man Einlass, um dann in den hinteren Reihen das, was vor sich ging, mehr zu erahnen als zu sehen. Doch dabei sein war alles und die Ekstase des Reporters Rudi Michel nach dem Schlusspfiff war trotz des Lärms des Publikums unüberhörbar.

Im Laufe der Jahre haben sich eher Einzelszenen eingeprägt - die Freude am Mannschaftsspiel ist schwerer ins Gedächtnis zu bannen. Uwe Seelers Ausgleichstor im Spiel gegen England auf der Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko, mit dem Hinterkopf über den Torwart hinweg erzielt, gehört dazu. Ebenso das unglaubliche 2:1 von Gerd Müller gegen die Niederlande im Endspiel der Weltmeisterschaft 1974. Unvergessen ist die akrobatische Rettungsaktion Jérôme Boatengs im Auftaktspiel gegen die Ukraine bei der Europameisterschaft 2016, unvergessen auch das Halbfinalspiel gegen die Gastgeber während der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. In der Erinnerung mischt sich noch immer in das ungläubige Staunen, als es in kürzester Zeit 5:0 für Deutschland stand, ein Quäntchen Mitleid mit der oft so trefflichen südamerikanischen Mannschaft. Als das Tor von Mario Götze im Endspiel gegen Argentinien fiel, das alle Spannung wunderbar löste, war solche Empathie mit den Unterlegenen, angeführt von dem schlechten Verlierer Messi, nicht einmal von ferne zu spüren.

Anders bei dem Portugiesen Ronaldo. Wir sind ein wenig ungerecht, sehen über seine Eitelkeit hinweg, lassen die Justiz darüber entscheiden, ob und wie viele Steuern er hinterzogen hat, und freuen uns einfach an seinem unvergleichlichen Spiel. Wenn es in den letzten Jahrzehnten nach dem Brasilianer Pelé einen Ausnahmespieler gegeben hat, dann war und ist es Ronaldo mit seiner Schnelligkeit, seinem klugen Stellungs- und gekonnten Kopfballspiel, seiner Passgenauigkeit und Schussgewalt, ja auch seinem selbstlosen Abgeben um des Ganzen willen, das ihm anscheinend bei seinen Finanzen so schwer fällt.

Und kein Schatten auf dieser schönen alten Welt des Fußballs? Genug und übergenug, aufseiten von Vereinsleitung, von Spielern und von Fans. Der Wahnsinn der gezahlten Ablösesummen und Gehälter, die gemeinen Fouls und das King-Kong-Gehabe mancher Spieler, die abstoßende Gewalt enttäuschter Fans, auf all das könnte man gut und gerne verzichten; nicht jedoch auf die schöne irdische Transzendenz, die sich bei Spielern und Zuschauern einstellt, wenn alle Aufmerksamkeit den Unabdingbaren gilt: den 22 Kickerinnen oder Kickern, dem Ball, dem Spiel - und den Schiedsrichter nehmen wir auch noch in Kauf.

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