Erfolgreich gescheitert

Was sich beim Emissionshandel in Europa ändern muss
Kohlekraftwerk in Bergkamen: Aus dem linken Schornstein kommt das  Klimagift. Foto: euroluftbild.de/Hans Blossey
Kohlekraftwerk in Bergkamen: Aus dem linken Schornstein kommt das Klimagift. Foto: euroluftbild.de/Hans Blossey
Der Europäische Emissionshandel hat die CO2-Emissionen gesenkt und gilt trotzdem als Flop. Jetzt wurden die schlimmsten Fehler beseitigt. Aber für eine echte Reform fehlt der Politik der Mut. Der Umweltjournalist Bernhard Pötter beschreibt die Lage.

Der 9. April 2018 ist ein Tag ohne große Nachrichten. Ver.di kündigt Warnstreiks auf vier Flughäfen an; die SPD will eine „Partei der Zuversicht“ sein; in Ungarn jubelt Premier Viktor Orban über seinen Wahlsieg. Und völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit tritt in den 28 EU-Staaten ein Gesetz in Kraft, das den Klimaschutz und die Energiepolitik in Europa deutlich verbessern wird: Die EU-Richtlinie 2018/410 „zwecks Unterstützung kosteneffizienter Emissionsreduktionen und zur Förderung von Investitionen mit geringem CO2-Ausstoß“ - die Richtlinie über den EU-Emissionshandel, die seit Jahren zwischen Politik, Industrie und Umweltverbänden heftig umkämpft war.

Damit werden die Regeln für das schärfste Instrument der EU im Klimaschutz bis 2030 neu geschrieben. Gleichzeitig geschieht an den Finanzmärkten eine kleine Wiederauferstehung: Der Preis für die Tonne des Klimagifts CO2 klettert an den Börsen in lange nicht erreichte Höhen. Seit Januar 2018 hat er sich bis Mitte April auf knapp 14 Euro praktisch verdoppelt.

Die Erfolgsmeldung hat allerdings einen bitteren Beigeschmack: Zu wirklichem Klimaschutz wird selbst der renovierte Emissionshandel nach Meinung aller Fachleute kaum beitragen. Und außerhalb der Fachkreise interessiert sich kaum jemand für die Reform des bürokratischen Monsters „Emissionshandel“. Die Materie ist trocken und komplex. Und die Reputation des zentralen EU-Werkzeugs ist so am Boden, dass das deutsche Umweltbundesamt eigens eine Broschüre verteilt: „Der europäische Emissionshandel - besser als sein Ruf!“

Der nämlich ist gründlich ruiniert. „Der Emissionshandel ist gescheitert“ heißt der Slogan in seltsamer Einmütigkeit unter Politikern, Lobbyisten, Wissenschaftlern und Umweltschützern. Experten werfen ihm vor, er reduziere kaum Emissionen, belaste die kleinen und schone die großen Klimasünder und mache das Kohlendioxid nicht teuer genug. Nur 58 Prozent der EU-Bürger halten ihn in einer Umfrage für ein sinnvolles Instrument. Und das Geflecht von Regeln, Ausnahmen und Vorteilen ist so unübersichtlich, dass der ehemalige SPD-Umweltminister Sigmar Gabriel über seinen zuständigen Experten Franzjosef Schafhausen gern scherzte: „Den Emissionshandel haben in Europa nur zwei Leute wirklich begriffen. Der eine ist Schafhausen. Der andere ist verrückt geworden.“

Zweitbeste Idee

Dabei ist die Grundidee einfach. 12000 Kraftwerke und Fabriken in Europa, die etwa die Hälfte aller europäischen CO2-Emissionen ausmachen, brauchen seit 2003 eine Lizenz für jede Tonne CO2, die sie in die Atmosphäre blasen. Dafür legen die Länder eine EU-weite Obergrenze fest, die schrittweise sinkt. Wer weniger als die ihm zugewiesene Menge CO2 produziert, kann seine Lizenzen an andere verkaufen, die noch welche brauchen. Die Idee: Klimaschutz soll nicht bürokratisch verordnet werden, sondern da passieren, wo er am günstigsten ist. Weil eine EU-weite Steuer auf CO2 nicht durchsetzbar war, einigten sich die Europäer um die Jahrtausendwende auf diese Idee, die vielen nur als zweitbeste erschien. Trotzdem: Als der Handel eingerichtet wurde, nannte ihn der Umweltverband WWF ein „Erfolgsrezept“.

Dann kamen die Lobbygruppen und die Wirtschaftskrise. Zu Beginn wurden die Lizenzen für den CO2-Ausstoß an die meisten Unternehmen verschenkt, damit diese mit Unternehmen in den USA oder China konkurrieren konnten, wo es keine CO2-Preise gab. Zweiter Fehler: Die Staaten gaben zu viele Lizenzen aus, mehr, als gebraucht werden. Energieintensive Betriebe bekommen die Lizenzen bis heute zum Teil umsonst. Als das im April 2006 klar wurde, stürzte der Preis ab. Von 30 Euro pro Tonne CO2 fiel er bis Ende 2007 auf Null. Davon hat sich der Emissionshandel nie wirklich erholt. Dazu kommt, dass sich die Unternehmen auch außerhalb der EU billige Lizenzen besorgen durften. Als dann in der Wirtschaftskrise nach 2008 auch noch die Industrieproduktion fiel, war der Markt endgültig mit so vielen Lizenzen überschwemmt, dass der Preis im Keller blieb. Derzeit sind etwa drei Milliarden Lizenzen zu viel im Markt - pro Jahr werden aber in der ganzen EU nur zwei Milliarden gebraucht.

Trotz all dieser Geburtsfehler ist die Ökobilanz des Emissionshandels nicht schlecht: Um 26 Prozent haben sich die CO2-Emissionen der betroffenen Branchen seit seiner Einführung reduziert, zeigt eine Grafik des deutschen Umweltbundesamts - mehr als im Durchschnitt der EU, die bislang auf ein Minus von 22 Prozent kommt. Der Emissionshandel sei eben ein „Mengen-Instrument“, das für eine gleichmäßige Absenkung der CO2-Obergrenze sorge und nicht auf einen Preis ausgerichtet sei.

Verschmutzungsrechte geparkt

Die neue EU-Richtlinie soll die gröbsten Fehler für die Zeit 2021 bis 2030 nun korrigieren. Ab 2019 wandern jährlich 400 Millionen Zertifikate in die „Marktstabilitätsreserve“. Sie werden dort geparkt und damit dem Markt entzogen. Bis 2023 soll so der Überschuss um 2 Milliarden Lizenzen abgebaut werden. Noch wichtiger: Der Faktor, um den die Emissionen jedes Jahr sinken, erhöht sich von 1,74 Prozent auf 2,2 Prozent. Das heißt, die Menge an Verschmutzungslizenzen sinkt schneller als vorher. Und auch darauf haben sich die Vertreter der EU-Staaten, der Kommission und des Parlaments in ihren monatelangen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen im sogenannten „Trilog“-Verfahren geeinigt: Wenn Staaten schneller Emissionen reduzieren, werden die dadurch frei werdenden Zertifikate nicht auf den Markt geworfen, sondern gelöscht - falls also etwa Deutschland mit einem Kohleausstieg mehrere Braunkohlekraftwerke stilllegt, sorgen die dadurch ungenutzten Lizenzen nicht anderswo in Europa für CO2-Ausstoß. EU-Klimakommissar Miguel Arias Canete lobte sich selbst und seine EU-Kommission für den Kompromiss, der „wieder einmal die Führungsrolle der EU beim Klimaschutz zeigt. Damit wird der Markt für CO2-Emissionen fit für seine Aufgaben.“ Das Climate Action Network, eine europäische Allianz aus Umweltgruppen, kritisierte dagegen, die Reform „belässt den CO2-Markt für ein weiteres Jahrzehnt ineffektiv und bleibt hinter dem zurück, was die EU für ihre Pariser Klimaziele tun muss.“ Besonders ein Dorn im Auge ist den Umweltschützern, dass Regierungen in Osteuropa mit den Erlösen aus der Versteigerung der Zertifikate weiter Kohlekraftwerke subventionieren können - ein klassischer schlechter EU-Kompromiss, um die Kohle-Länder zu einer Einigung zu bewegen.

Schon veraltet

Dabei ist der umstrittene Kompromiss eigentlich schon wieder veraltet, wenn man Finanzexperten glaubt. Denn wenn die EU ihre Unterschrift unter dem Pariser Klimaabkommen von 2015 ernst nehme, müsse sie ihre Ziele im Emissionshandel noch einmal deutlich verschärfen, meinten Ende April die Analysten der internationalen Initiative „Carbon Tracker“. Die Experten haben die ersten Berechnungen vorgelegt, was die Paris-Ziele für Europas wichtigstes Instrument im Klimaschutz bedeuten: Statt minus 40 Prozent im Jahr 2030 müsste demnach das EU-Ziel auf 55 Prozent angehoben werden. „Die Preise für die Zertifikate würden sich damit vom jetzigen Stand auf etwa 45 Euro vervierfachen“, sagt Autor Mark Lewis, der als Analyst für Barclay´s und Deutsche Bank gearbeitet hat. Für Deutschland hieße das, „Stein- und Braunkohle würden sich bis 2030 nicht mehr rentieren.“

Das ist die volkswirtschaftliche Sicht der Dinge. Aber allen ist klar, dass ein EU-Beschluss von minus 55 Prozent „derzeit völlig utopisch ist“, wie ein Klima-Verhandler sagt. Allerdings haben die EU-Länder immerhin die Kommission aufgefordert, bis Anfang 2019 eine Strategie zu erarbeiten, wie Europa 2050 praktisch klimaneutral werden kann. Das wird ohne Einschnitte bei den CO2-Zertifikaten nicht gehen.

Das Schimpfen auf den Emissionshandel hält Jürgen Landgrebe ohnehin für ungerecht. Er ist Leiter der Abteilung „ökonomische Grundsatzfragen“ in der Emissionshandelsstelle beim Umweltbundesamt und sagt: „Das ist, also ob Sie in Ihr Auto steigen und im Navi München eingeben. Aber wenn Sie sicher in München ankommen, sagen Sie: ‚Das Navi hat versagt - ich wollte eigentlich nach Mailand‘“. Seine Zahlen zeigen, wie die Emissionen zurückgegangen sind - aber auch, wieviel besser der Emissionshandel sein könnte: Die Kurven zeigen deutlich, dass das „Cap“, die Obergrenze für die Emissionen, seit 2009 immer deutlich höher lag als die Nachfrage - kein Wunder, dass der Preis ohne Knappheit im Markt so niedrig ist.

In einem stimmen Landgrebe und seine Mitarbeiter aber der Kritik aus den Umweltgruppen oder den „Carbon Tracker“-Analysen zu: Die EU muss die gerade verbesserten Ziele noch einmal kräftig verschärfen: Der Reduktionsfaktor sollte für sie von 2,2 auf 2,6 erhöht werden. „Nur so erreichen wir als EU das Zwei-Grad-Ziel, zu dem wir uns im Pariser Klimaabkommen verpflichtet haben.“ Denn anders als Deutschland schafft die EU ihre bisherigen Klimaziele ganz locker - was vor allem daran liegt, dass sie niedrig angesetzt sind. Bis 2020 haben die Europäer versprochen, ihre Emissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken - und bereits jetzt 22 Prozent erreicht. Das Ziel von minus 40 Prozent bis 2030 findet Landgrebe auch nicht wirklich ambitioniert: „Das sind nur etwa 1 Prozent Reduktion im Jahr“.

Doch die Kompromisse in der EU sind schwer erkämpft. Eine Nachbesserung ist sehr schwer, auch wenn die EU gerade über ihre neue Strategie zu Energie, Erneuerbaren und Klima debattiert. Kohleländer wie Polen machen Druck, die jetzigen Kompromisse auf keinen Fall zu verschärfen. Beim jetzigen Paket, warnen Experten, werde es keine große Preiserhöhung geben. Die Experten für Carbon Research bei der Analysefirma Thomson Reuters erwarten einen weiter leicht steigenden Preis nach den „historischen Tiefständen“ für die Tonne CO2. Das Angebot werde ein wenig knapper, die Wirtschaft in der EU wachse um etwa 2,5 Prozent und produziere deshalb mehr Emissionen. „Wir erwarten für 2030 einen Preis von 25 Euro pro Tonne“, heißt es in einer internen Analyse. Das entspreche etwa einem heutigen Preis von 18 Euro. Ein bisschen verschärft, aber keine Revolution.

Mindestpreis gefordert

25 Euro pro Tonne schlagen der Umweltverband WWF und das Öko-Institut auch vor - allerdings sofort und nicht erst in zwölf Jahren. Damit Deutschland auf einen Pfad gerate, um seine Klimaziele für 2020 und 2030 zu erfüllen, „reicht ein CO2-Mindestpreis im Stromsektor von anfänglich 25 Euro aus“, sagt WWF-Experte Michael Schäfer, „wenn man ihn mit der Stilllegung von sieben Gigawatt der ältesten Braunkohlekapazitäten koppelt.“ In ihrer aktuellen Studie „Dem Ziel verpflichtet“ rechnen WWF und Felix Matthes, Energieexperte des Öko-Instituts vor: Einigt sich die „Strukturkommission“ der Bundesregierung auf ein schnelles Aus für die 15 dreckigsten Braunkohlemeiler und führt Deutschland mit anderen EU-Ländern einen Mindestpreis für CO2 ein, werde das „erheblich dazu beitragen, die notwendigen Anpassungsprozesse für die Erreichung der Klimaziele zu verstetigen und berechenbarer zu machen.“

Einen Mindestpreis für CO2 kann sich auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) vorstellen - allerdings nur, wenn er auch für alle Industrienationen in der G20 gilt. Das ist kaum realistisch. Aus der Politik allerdings kommen laute Stimmen für einen Mindestpreis im Emissionshandel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ein Preisschild von 30 Euro angemahnt, er hofft dadurch neben allem Klimaschutz auf Exportmärkte und eine Finanzspritze für seine marode Atomwirtschaft; in Großbritannien gilt ein Mindestpreis von etwa 20 Euro, der die Kohle aus dem Markt drängt. Die Niederlande planen mit mindestens 18 Euro für die Tonne CO2, Schweden kassiert schon lange etwa 130 Euro für eine Tonne Klimagas. Eine Allianz von Deutschland, Frankreich, Österreich, den Benelux- und skandinavischen Ländern erscheint möglich. Selbst die Bundesregierung gibt sich vorsichtig optimistisch - allerdings müsste sich im Gegenzug wohl Frankreich dazu verpflichten, einen Teil seiner alten Atomkraftwerke abzuschalten.

Eigentlich bringt es wenig, an der Preisschraube zu drehen, wenn das System auf Mengenregulierung setzt. Doch die Befürworter eines Mindestpreises, etwa der Klimaökonom Ottmar Edenhofer vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung argumentieren mit der „Kurzsichtigkeit der Investoren“. Ohne starkes Preissignal - Edenhofer und Ökonomen wie Nobelpreisträger Joseph Stiglitz fordern 40 bis 80 Dollar im Jahr 2020 und 50 bis 100 Dollar 2030 - würden sie noch einmal ein Jahrzehnt lang viel Geld in fossile Kraftwerke und alte Strukturen stecken, was den geplanten und geforderten Abschied der Volkswirtschaft aus Öl, Kohle und Gas verzögere. „Es gibt keinen Grund zu der Erwartung, dass die Reform des Emissionshandels die Preise auf das nötige Niveau hebt“, heißt es von Edenhofer. Auch Georg Zachmann, Ökonom am Brüsseler Thinktank Breugel sieht den Ruf und damit die Wirkung des Emissionshandels zerstört: die Erfahrung mit der Politik verleite die Industrie zu der Annahme: „Wenn es hart auf hart kommt, knickt die Politik ein und verschont die Industrie.“

Nicht zuletzt brächte ein Mindestpreis stabil höhere Einnahmen für die Finanzminister - die dann damit Klimaschutz finanzieren könnten, hoffen zumindest Umweltschützer. Dafür war zwar der Emissionshandel nie gedacht. Aber Geld gemacht haben mit ihm bisher nur die großen Verschmutzer. Die nämlich bekamen die Lizenzen umsonst, reichten die Kosten an die Kunden weiter und verdienten am Verkauf der Zertifikate. Nach einer Studie der Umweltorganisation Carbon Market Watch erzielten die Stahl-, Zement-, Öl- und Chemieindustrie in Europa deshalb zwischen 2008 und 2015 insgesamt 25 Milliarden Euro zusätzliches Einkommen.

Bernhard Pötter

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Bernhard Pötter

Bernhard Pötter ist Journalist und Buchautor. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik.


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