Mut zum Aufbruch

Klartext
Die Gedanken zu den Sonntagspredigten in den nächsten Wochen stammen von Jürgen Wandel. Er ist Ständiger Mitarbeiter der zeitzeichen.

Tipp vom Atheisten

3. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juni

Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. (1. Johannes 1,8)

Das Wort „Sünde“ ist im Lauf der Kirchengeschichte oft missbraucht worden. Und manche Christen und Kirchen instrumentalisieren es immer noch, um ihre Mitmenschen - schon im Kindesalter - niederzuhalten, ihnen Selbstbewusstsein und Lebensfreude auszutreiben. Und christliche Fundamentalisten verorten Sünde nur unterhalb der Gürtellinie, während sie Kriegstreiberei, Ausbeutung und Diskriminierung dulden und sogar Politiker unterstützen, die Foltermethoden wie das waterboarding, das wiederholte Untertauchen von Verdächtigen, gutheißen.

Der Praktische Theologe Wilhelm Gräb schreibt zu Recht: „Die theologische Rede von der Sünde steht innerhalb wie erst recht außerhalb der Kirche vor gravierenden Kommunikationsproblemen.“ Mit anderen Worten: Man muss das Wort „Sünde“ erst einmal aus einem Schutthaufen von Verzeichnungen ausgraben, um deutlich zu machen, was es bedeutet.

Angesichts dieser Kärrnerarbeit wollen manche Theologen ganz darauf verzichten. Aber mit dem Wort „Sünde“ würden wichtige Inhalte verloren gehen, Einsichten über das Wesen Gottes, des Menschen und der Welt und ihre Beziehung zueinander.

Von einem erklärten Atheisten können Christen lernen, warum es sogar sinnvoll ist, an einem missverständlichen, oft missverstandenen Begriff wie „Erbsünde“ festzuhalten. In seinem anregenden Buch Religion für Atheisten schreibt der Engländer Alain de Botton, dass „die Lehre der Erbsünde“ uns „vermittelt, dass die Fehler, die wir an uns so schlimm finden, zwangsläufig zur menschlichen Natur gehören“. Und er wendet sich gegen die Auffassung, „der Mensch sei ursprünglich und von Natur aus gut“. Denn wenn man das ständig höre, sei es „umso belastender, zu merken, dass man den allgemeinen Standards der Rechtschaffenheit nicht gerecht wird“.

De Botton betont, dass Menschen „zu Mitgefühl und Gerechtigkeit ermahnt werden“ müssen, selbst wenn sie - wie er - „nicht glauben, dass es einen Gott gibt, der es uns vorschrieb“. Aber an diesem Punkt wird deutlich, worin sich die Auffassung des Atheisten von der christlichen unterscheidet. Christen üben „Mitgefühl und Gerechtigkeit“ nicht einfach deswegen, weil sie dazu ermahnt werden, sondern weil sie Jesus inspiriert, der die Barmherzigkeit Gottes und die Vergebung der Sünde(n) gepredigt und vorgelebt hat.

Risiko inbegriffen

4. Sonntag nach Trinitatis, 24. Juni

Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist. (1.Petrus 3,15)

Beim Thema „Mission“ scheint es in den evangelischen Landeskirchen drei Gruppen zu geben: Die einen wollen das, was ihnen wichtig und kostbar erscheint, an Nichtchristen weitergeben, an Angehörige anderer Religionen und an Agnostiker und Atheisten. Doch im Übereifer sprechen sie ihre Mitmenschen zu jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit auf den Glauben an. Und sie entwickeln Strategien, wie man gezielt Muslime und auch Juden bekehrt.

Andere, denen ihr Glaube ebenfalls viel bedeutet, wollen höflich sein und meiden Themen wie Politik und Religion, wenn sie Fremde treffen, oder weil sie den Verwandten- und Freundeskreis nicht entzweien wollen.

Und eine dritte Gruppe hält Mission für unnötig, weil ihrer Ansicht nach die Angehörigen aller Religionen, zumindest der drei monotheistischen, an den gleichen Gott glauben oder sich, wie Theologen sagen würden, auf dieselbe göttliche Wirklichkeit beziehen.

Der heutige Predigttext erinnert daran, dass Christen auf jeden Fall dann, wenn sie nach ihrem Glauben gefragt werden, Farbe bekennen und Auskunft geben müssen. Und dabei dürfte deutlich werden, was das Christentum mit anderen Religionen, insbesondere mit dem Judentum verbindet, aber auch was es von ihnen unterscheidet. Und unversehens kann es passieren, dass Juden und Muslime die Vorstellung eines Gottes, der sich dem Leiden und Sterben aussetzt, derart berührt, dass sie sich auf seinen Namen taufen lassen. Christen dürfen sich darüber freuen, so wie man sich auch sonst freut, wenn man Mitmenschen von dem überzeugt hat, was man für wichtig hält. Aber was den einen recht ist, ist den anderen billig. Christen werden es respektieren und vielleicht sogar verstehen, wenn Mitchristen beispielsweise zum Reformjudentum übertreten, weil sie dessen ethischer Monotheismus mehr anspricht, als der Glaube an den dreieinigen Gott.

Neue Einsichten

5. Sonntag nach Trinitatis, 1. Juli

Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland…in ein Land, das ich dir zeigen will…Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. (1. Mose 12,3)

Aufbruch und Segen sind miteinander verknüpft. Das zeigen schon ganz elementare Lebenserfahrungen, die Menschen unabhängig von ihrem Glaubensbekenntnis machen. Früher zogen Handwerksgesellen in die Ferne, um andere Arbeitstechniken kennenzulernen. Wenn sie dann in die alte Heimat zurückkehrten, gründeten manche einen Betrieb, und er florierte aufgrund der neu erworbenen Fertigkeiten. Andere fanden in der Fremde neue Freunde, gründeten dort eine Familie und wurden glücklich. Und manche empfinden es als Segen, wenn sie die alte Heimat, die ihnen zu eng geworden ist, verlassen, anderswo neu anfangen, frei atmen und leben können.

Anderen gereicht zum Segen, dass sie bleiben, wo sie geboren wurden und dort geistig aufbrechen. Sie öffnen sich für neue Gedanken, verbreiten sie in ihrem Umfeld oder sogar in die ganze Welt. Ein Beispiel dafür ist Martin Luther. Er begab sich mal nach Rom oder Heidelberg, hielt sich aber vor allem in Mitteldeutschland auf. Und Immanuel Kant entwickelte eine Philosophie, die die Welt verändert hat, obwohl er Ostpreußen nie verließ.

Wer sich auf Neues einlässt und umzieht oder auch nur geistig und geistlich aufbricht, braucht Vertrauen, sprich: Glauben. Juden, Christen und Muslime richten ihn wie ihr Stammvater Abraham auf Gott. Im Matthäusevangelium beginnt mit Abraham der Stammbaum Jesu. Und Paulus rühmt im Römerbrief den Glauben Abrahams. Das Neue Testament ist überhaupt voller Aufbrüche, die den Betroffenen, aber vor allem Anderen, Zeitgenossen und Nachgeborenen, zum Segen gereichen. Jesus verlässt Nazareth, um in Galiläa und Judäa zu predigen und zu heilen und in Jerusalem seine Mission zu vollenden. Die Jünger verlassen Familie und Beruf, um Jesus nachzufolgen. Und später verbreiten sie seine Botschaft. Saulus wird von Christus aus seinem bisherigen Leben herausgerissen. So wird Paulus zum Völkerapostel und ermöglicht Nichtchristen den Zugang zum Gott Abrahams, ohne dass sie vorher Juden werden und sich beschneiden lassen müssen.

Aufbruch und Segen sind verknüpft. Aber das schließt Streit und Schmerzen ein. Vor genau 50 Jahren ermöglichten die meisten deutschen Landeskirchen, dass Frauen Pfarrerinnen werden durften. Dieser Aufbruch war höchst umstritten. Die Gegner verwiesen auf Bibelstellen und die Tradition der Kirche. Aber heute dürften die meisten Pfarrer und Kirchenmitglieder, auch evangelikale, einräumen, dass die damalige Entscheidung ein Segen für die Kirche war und in dem Zeitgeist, der sie beeinflusste, der Heilige Geist wehte. Einige deutsche Landeskirchen trauen auch gleichgeschlechtliche Paare. Und vielleicht werden in 50 Jahren ebenfalls viele Protestanten erkennen, dass diese Entscheidung ein Segen war, weil sie Schwulen und Lesben hilft, den Aufbruch ins Leben zu zweit im Vertrauen auf Gott zu wagen.

Pfarrer und Laien

6. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli

Da lief Philippus hin und hörte, dass er (ein Kämmerer aus Äthiopien) den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst Du auch, was Du liest? Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? (Apostelgeschichte 8,30-31)

Glauben und verstehen“ ist die Sammlung der Aufsätze Rudolf Bultmanns (1884?-?1976) überschrieben. Schließlich wollte der Neutestamentler, dass auch Christen des 20. Jahrhunderts die Bibel verstehen, deren Texte nicht nur in fremden Sprachen aufgeschrieben wurden, sondern auch ein Weltbild spiegeln, das uns fremd ist.

Mit der Formel „Glauben und verstehen“ lässt sich auch das Anliegen der Reformation und der evangelischen Kirche auf den Punkt bringen. So studieren Pfarrer und Pfarrerinnen in protestantisch geprägten Regionen wie Deutschland, Schweiz, Schottland und Skandinavien an der Universität. Die Geistlichen sind oft die einzigen Akademiker in einem Dorf. Und wenn Bewohner Fragen zur Bibel oder zur Tradition der Kirche haben, bekommen sie in der Regel eine gute fachliche Auskunft und Anleitung. Es geht ihnen also besser als dem Kämmerer aus Äthiopien.

Allerdings hat auch diese Medaille eine andere Seite. Das Priestertum aller Getauften bleibt auf der Strecke, wenn der Eindruck entsteht, dass man die Bibel nur versteht, wenn man sechs Jahre lang Theologie studiert hat.

Hier kann ein Hinweis des US-Theologen Harvey Cox helfen, der an der Universität Harvard lehrte. Der 89-Jährige gehört nicht zu denen, die vom Theologiestudium abraten, weil man bei der historisch-kritischen Erforschung der Bibel seinen Glauben verliere. Andererseits kennt Cox aber auch deren Grenzen. Er empfahl seinen Studenten, „sich so in die Bibel zu versenken, wie sie es mit einem spannende Roman oder einem guten Film auch tun würden“.

Und das ist sinnvoll: Zum Beispiel versteht man die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn auch im 21. Jahrhundert auf Anhieb. Und das gilt ebenfalls für manche Geschichten des Alten Testamentes. Aber einen spannenden Roman und einen guten Film versteht man noch besser, wenn man sich über die Zeit informiert, in der sie spielen und über den Autor oder Regisseur.

Die Bibelstunde einer Gemeinde dürfte dann fruchtbar sein, wenn die Laien selber denken, den Text interpretieren und sich äußern. Die Pfarrerin muss das gegebenenfalls ergänzen oder korrigieren. Aber vielleicht helfen ihr die Gedanken der Nichttheologen, weil sie etwas übersehen hatte, das jenen aufgegangen war.

Jürgen Wandel

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