Klingendes Schlaraffenland

Gigantisch und gut: Der Leipziger Kantatenring 2018
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Es war, als hätt’ der Himmel die Erde geküsst...

Es war, als hätt’ der Himmel die Erde geküsst - wenn auch nicht still, wie in Eichendorffs berühmter Mondnacht, sondern klingend: „Leget euch, dem Heiland unter, Herzen, die ihr christlich seid“ sang Altus Robin Blaze von der Empore in die Weite des Raumes - klar konturiert, sensationell sauber und magisch mild! Tausend Menschen in der Leipziger Thomaskirche stockte der Atem, die Zeit schien stillzustehen. Wie wunderbar und doch nur einer von vielen Zeitstillständen und Atemstockungen bester Art, die sich beim diesjährigen Bachfest Leipzig ereigneten, als innerhalb von 50 (in Worten: fünfzig) Stunden 33 (in Worten: dreiunddreißig) geistliche Kantaten von Johann Sebastian Bach erklangen. „Kantatenring“ hatten die Initiatoren um Stardirigent John Eliot Gardiner dieses Mammutprogramm genannt, das sie am drückend heißen zweiten Juniwochenende in Werk setzten. Der Ablauf der Kantaten orientierte sich am Kirchenjahr, das man so, zumindest musikalisch, an einem Wochenende absolvierte - hübsche Idee! Musikalisch mit von der Partie waren neben Gardiners Monteverdi Choir & Orchestra erlesene internationalen Ensembles der Bachszene: Ton Koopman und das Amsterdam Baroque Orchestra & Choir; Masaaki Suzuki mit dem Bach Collegium Japan; die Gächinger Kantorei - pardon, seit neustem heißt sie „Gächinger Cantorey“ - mit ihrem neuen Leiter Hans Christoph Rademann und zumindest einmal der Thomanerchor samt Gewandhausorchester unter Thomaskantor Gotthold Schwarz. Tausende Bachpilger folgten ihnen begeistert, ignorierten schmerzende Glieder ob harter Bänke und vertrieben mit Fächern die stickige Luft, die sich auch in Leipzigs erhabenen Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai eingenistet hatte, in denen der Konzertmarathon hauptsächlich stattfand, inklusive einer Open-Air-Kantate beim Freiluftgottesdienst auf dem Markt und dazu zwei exklusive Nachtkonzerte mit dem Leipziger Universitätschor und dem Pauliner Barockensemble unter David Timm - Wahnsinn! Doch der Wahnsinn hatte Methode, denn es ging Gardiner und seinen Mitstreitern, dem neuen Bachfestintendanten Michael Maul und Peter Wollny, dem Leiter des Bacharchivs, mit dieser komprimierten Attacke darum, das ihrer Meinung immer noch selbst Bachfreaks zu wenig bekannte Kantatenwerk eindringlich in Herz und Seele zu prägen, denn es stehe noch immer im Schatten der Blockbuster des berühmten Thomaskantors, also den Passionen, der H-moll-Messe und dem Weihnachtsoratorium. Da ist was dran, denn auch wenn mittlerweile schon viele hochklassige Gesamteinspielungen der Kantaten vorliegen, haben sie es im Konzertalltag schwer, für den sie ja auch nicht geschaffen wurden, sondern für den lutherischen Gottesdienst in Leipzig in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Um die jeweils drei bis vier Kantaten pro Konzert nicht nahtlos aufeinanderprallen zu lassen, wurde jeweils das Evangelium vorgelesen, das dem Tag im Kirchenjahr zugrunde lag, für den die jeweilige Kantate bestimmt war. So erklang bereits im ersten Konzert die Weihnachtsgeschichte. Wie nett! Weniger nett allerdings, dass die vorlesende hohe Geistlichkeit zuweilen ihrer Berufskrankheit frönte, indem sie umständlich-länglich begrüßte und immer wieder in diesem Zusammenhang um zusätzliche Spenden für die eigenen Gebäude bat. Das ging auch wohlmeinenden Bachianern mit der Zeit schlicht auf die Nerven und sollte sich nicht wiederholen, bevor man wie angedacht einen „Kantatenring 2.0“ konzipiert. 33 geeignete andere Bachkantaten für einen zweiten musikalischen Parforceritt durchs Kirchenjahr zu finden wäre das geringste Problem - auf dass erneut die Zeit stillstehe.

Reinhard Mawick

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