Wunder über Wunder

Der bayerische Kreuzhängeerlass zwischen Reaktion und Reflex
Foto: epd/ Stefan Arend
Foto: epd/ Stefan Arend
Seit dem 1. Juni muss im Eingangsbereich aller bayerischen Amtsstuben ein Kreuz hängen. So bestimmt es ein Erlass der bayerischen Staatsregierung. Vor einem Monat wies Friedrich Wilhelm Graf dieses Ansinnen in zeitzeichen scharf zurück. Die rechtliche Sicht sei nicht ausreichend, meint hingegen der Theologe Stephan Schaede, Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum. Er beleuchtet weitere Aspekte.

Kreuzwunder, also das unverhoffte Erscheinen von Kreuzen, werden hierzulande maßgeblich der heiligen Elisabeth von Thüringen zugeschrieben. Die war zuletzt in Marburg zu Hause.

Aber auch in Bayern hat es Kreuzwunder gegeben - so um das Jahr 1300 in Pfofeld am Brombachsee, unweit von Nürnberg, dem Geburtsort des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Mit Söder verbindet sich gegenwärtig ein ganz anderes Kreuzwunder, ein Wunder negativer Art. Denn den Kreuzen geht es in staatlichem Kontext - gefühlt - an den Kragen, und zwar wundersamer Weise genau deshalb, weil sie dort unverhofft verstärkt aufgehängt werden sollen.

Ausgerechnet in Bayern, einem Landstrich, in dem es gülden und hölzern, barock und romantisch auf Gipfeln, an Wegkreuzungen und in Gasthöfen vor lauter Kreuzen nur so wimmelt, ausgerechnet da wird es eben nicht als feine ökumenische Geste wahrgenommen, wenn ein evangelischer Ministerpräsident ein einst von Kardinal Faulhaber dem bayerischen Kabinett geschenktes Kreuz in die Pförtnerloge der Staatskanzlei hängt. Ausgerechnet da wird der Ton hart. Als ob das Kreuz eine Art bajuwarische Burka wäre, die von Ministerpräsident Söder, dem protestantischen „Talibayern“ (Social-Web) an die staatliche Wand gezwungen würde.

Nun ist dieser harte Ton kein Wunder, denn das Kreuz wurde im Zusammenhang eines Kreuzerlasses aufgehängt. Das war nicht nur als wahltaktischer Vorgang allzu leicht zu durchschauen, auch die Tonalität des Kreuzerlasses störte. Die Kreuzanbringung wurde angeordnet, nicht bloß in einer staatsanalogen christlichen Freiheit empfohlen oder angeregt. So politisch eingefädelt und überstürzt im Ergebnis, wurde die Chance verpasst, eine Debatte darüber zu führen, wie viel kirchenjenseitige Öffentlichkeit das Kreuz verträgt. Schade!

Das Wunder wiederum macht komplett, dass zum Bildersturm nun nicht etwa nur die Vertreter des Humanistischen Verbandes aufgerufen haben. An erster Stelle meldeten sich christliche Intellektuelle zu Wort, gleichviel ob Kardinal, ehemaliger römisch-katholischer Kultusminister, SZ-Chefredakteur oder dogmatischer Emeritus der evangelischen Fakultät zu München. Sie haben zum bilderkritischen Protest der besonderen Art aufgerufen. Der Staat, so die Auffassung, könne und dürfe sich nicht auf das Kreuz als Zentralsymbol der christlichen Religion bildlich beziehen, jedenfalls nicht so, wie durch Söder geschehen.

Bildpolitischer Laizismus

Wie ist dieses Kreuzanbringungsveto zu deuten? Es könnte Frucht eines geradezu klassischen, überaus frommen Impetus sein, ganz im Sinne eines Bernhard von Clairvaux: Schluss mit lapidaren Darstellungen des Kreuzes. Es lebe die leere geistlich meditierte Wand, es lebe das Kreuz in Herz und Kopf! Bernhard hielt Kreuzesdarstellungen generell für deplatziert und untersagte sie. Denn das Zentralereignis des christlichen Glaubens, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, sei einmalig. Es gebe nur ein einziges christliches Kreuz in der Weltgeschichte. Und das habe auf Golgatha gestanden. Weitere Kreuze lenkten ab, banalisierten.

So radikal wie Bernhard hat sich in der öffentlichen Diskussion allerdings niemand zu Wort gemeldet. Auffällig ist: Exklusiv dem Staat wird das Recht streitig gemacht, in seinen Räumlichkeiten auf das Kreuz zu verweisen. Und ausgerechnet die Theologie, die sonst so oft den öffentlichen Relevanzverlust beklagt, macht sich zur bildpolitisch laizistischen Vorreiterin dieser Bewegung. Ein Wunder!

Dieses Wunder verknüpft sich mit einem bildhermeneutischen blauen Wunder, das Markus Söder widerfuhr. Ihm wurde nämlich der mit dem Kreuzerlass einhergehende bildpolitische Übergriff in der eigenwilligen Form zum Vorwurf gemacht, dass er das Kreuz zum traditionellen Kulturträger bayerischer Lebensart und Wertvorstellungen herabstilisiert habe. Man könnte meinen: Angesichts des religionsverfassungsrechtlichen Verbotes, eine bestimmte Religion staatlich zu privilegieren oder sich mit ihr zu identifizieren, ist dies doch der einzig legitime Weg, das Kreuz im staatlichen Kontext anbringen zu lassen. Kurz: Entweder ein Ministerpräsident reduziert das Kreuz auf ein gottverlassenes Kreuz und traditionslastiges Kultursymbol und kann so legitimerweise für das Kreuz in öffentlichen Räumen eintreten. Oder er lässt das Kreuz authentisch als religiöses Zentralsymbol auslegen, darf es dann aber nicht aufhängen. Denn den proaktiven Akt der Kreuzanbringung untersagt das staatliche Privilegierungs- und Identifikationsverbot.

In der Konsequenz dieses Dilemmas müsste also jedes Kreuz in den Augen der so kommentierenden Theologen postwendend aus staatlichem Kontext verschwinden. Pax Christi ließ sich von ihnen denn auch inspirieren, hat gründlich nachgedacht und gefordert, das Bundeswehrkreuz nicht mehr zu verwenden. Das Kreuz sei nur als Sinnbild von Zuwendung und Nächstenliebe, also im Falle des Roten Kreuzes eben noch vertretbar. Wenn das so weiter geht, ist es um die staatlichen Symbole unserer europäischen Anrainerstaaten bald schlecht bestellt. Die Schweiz müsste ihr weißes Kreuz kreisrund ausschneiden. Von den skandinavischen Flaggen bliebe wenig übrig. Die Frage ist: Sind Theologie und Kirchenleitung verpflichtet, sich derart vehement an die Spitze einer symbolpolitischen Bewegung zu stellen, die alles, was nach „Staatskreuz“ riecht, vertilgt?

Diesem bildhermeneutischen Wunder paart sich ein Wunder der Vergesslichkeit an: So neu war die Idee doch gar nicht, das Kreuz „als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns“ zu begreifen. Schon vor 23 Jahren wurde ein Satz in die bayerische Gesetzgebung aufgenommen, der da lautet: „Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht“. Das war eine Reaktion des bayerischen Gesetzgebers auf den Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes. In der Kombination mit der Möglichkeit einer gütlichen Konfliktregelung bei Elternprotest stieß das so im Freistaat auf Zustimmung, und dies bis auf den heutigen Tag. Kein evangelischer Theologe hat dagegen protestiert. Warum liegt der Fall bei Eingangsbereichen von Dienstgebäuden nun anders? Doch nicht, weil die symbolpolitische Deutung zu läppisch ist. Man sollte sich, wenn, dann auf den wahlkampftaktischen Subtext der Aktion konzentrieren, oder einräumen, symbolpolitisch über Jahre unaufmerksam gewesen zu sein.

Auf der anderen Seite bahnte sich innerhalb der kleinen, durchaus bedeutsamen Wolke der Verteidiger des Ministerpräsidenten, von Erzbischof Gänswein über Erzbischof Peter Zurbriggen und Bischof Rudolf Voderholzer in Gestalt des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio, ein religionsverfassungsrechtliches Wunder an. Udo Di Fabio, der sonst so gar nicht dafür bekannt ist, sich dafür einzusetzen, bundesverfassungsrechtliche Verbote durch europarechtliche Erlaubnisse kassieren zu lassen, hat in die Kreuzerlassdebatte das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18. März 2011 als schlagendes Argument eingespielt. Darin sei festgehalten, es sei keinem Staat versagt, ein religiöses Zeichen für sich als Symbol eigener Herkunft und Identität zu nutzen. Nur eins müsse verhindert werden: der Verdacht einer weltanschaulichen und religiösen Indoktrination. Ein schlichtes Kreuz - ohne Corpus - etwa sei, ausdrücklich als religiöses Symbol verstanden, von diesem Verdacht frei. Wie diese europarechtliche Erlaubnis das in der Bundesrepublik geltende Verbot außer Kraft setzen kann, sich als staatliche Institution mit einer bestimmten Religion zu identifizieren oder diese zu privilegieren, muss Di Fabios rechtsdogmatisches Geheimnis bleiben - in Ewigkeit.

Verzagtheit moniert

In Sachen Einschätzung der staatlich-kirchlichen Beziehungsebene aber hat sich zudem ein Nähe-Distanz-Wunder ereignet: Einige haben die Staatsnähe der Kirche, insbesondere der evangelischen Kirche und ihre Verzagtheit moniert. Die hatte nämlich dem bayerischen Ministerpräsidenten als ihrem Kirchenmitglied nicht ins Angesicht widersprochen. Eben diese Kritiker haben aber beklagt, dass der Ministerpräsident nicht Vorgespräche mit den leitenden Bischöfen der bayerischen Kirchen geführt habe. Sind Vorgespräche ein deutlicheres Zeichen von Distanznahme zwischen Staat und Kirche? Soll die Kirche dem Staat erklären, wie er Kreuze zu deuten habe, die er in seinen Räumlichkeiten gegebenenfalls aufzuhängen oder nicht aufzuhängen habe? Ist eine solche Beratungskultur, in der kirchliche Deutungskompetenz staatliches Handeln beeinflusst, staatsdistanziert?

Für die theologische Debatte um den Kreuzerlass dürfte aber ein Deutungswunder entscheidend sein. Erstaunlich deutlich erschien, wie es zu deuten und auf keinen Fall zu deuten sei. Alle tiefen Gräben christologischer Streitigkeiten um die Deutung des Kreuzes zwischen Sühnopfertod des Sohnes Gottes und religiös orientierendem Scheitern des Mannes Jesus aus Nazareth schienen vergessen. Klar sei, es sei nicht nur ein religiöses Zentralsymbol. Es sei als religiöses Symbol für Tod und Auferstehung Jesu Christi zugleich das Symbol eines Versprechens, sich der Nächstenliebe, sich der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verpflichten.

Die Frage, wie klar dies wirklich ist, mal beiseitegelassen: Ist es nicht die Eigenart dieses Symbols, wie anderer Symbole auch, schillernd zu sein und deshalb ganz unterschiedlich gedeutet und gebraucht zu werden? Um hier nur vier Deutungsmöglichkeiten aufzuzählen, die schlichtweg in Anspruch genommen worden sind: Erstens hat Markus Söder das Kreuz als Symbolträger für kulturelle und traditionelle Gepflogenheiten in Anspruch nehmen wollen. Zweitens hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in der Zeit behauptet, das Kreuz könne als ein selbst Muslime beruhigendes Zeichen einer „ideellen Prägung“ begriffen werden, als Symbol für Toleranz im Umgang mit anderen Glaubensbekundungen. Er hat allerdings nicht erklärt, wie das Symbol selbst dieses toleranzpolitische Kunststück anstellt. Drittens ist nicht ausgeschlossen, das Kreuz als Symbol für eine religiöse himmlische Macht zu begreifen, die die staatliche Macht gleichsam unterstützend und verstärkend legitimiert. So geschieht es in russisch-orthodoxem Kontext, auch wenn es hierzulande für indiskutabel gehalten wird, weil mit Grund vorgetragen wird, dass sich mit Berufung auf das Kreuz staatliches Handeln nicht rechtfertigen lasse. Nur wie verhindert man, dass nicht doch ein bayerischer Beamter das Kreuz für sich in dieser Weise deutet? Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) jedenfalls hat dem Kreuz im staatlichen Kontext in polemischer Absicht genau diese staatstragende Funktion zugewiesen, indem er die Frage stellte, ob der bayerische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm „dafür beten“ wolle, dass die Kreuze herunterfallen, wenn die Politik der csu „die Botschaft von Menschenwürde und Humanität“ malträtiere. Viertens schließlich wurde das Kreuz als Symbol eines kritischen Gegenübers begriffen, vor dem sich staatliches Handeln rechtfertigen muss.

Als solches sei es eine beeindruckende machtpolitisch kritische Intervention, die eine staatliche Instanz im Unterschied zu einer weißen Wand deutlich in das Refugium einer nur vorletzten Instanz verweise. So verstanden kann es von dem, der es aufhängt, gar nicht in Besitz genommen werden, bleibt es im staatlichen Raum eine fremde Instanz und ist insofern in keinem Fall ein „Staatskreuz“.

So gesehen könnte das Kreuz Staatsdienern vor Augen führen, was Gustav Heinemann einst auf die prägnante Formel brachte, dass die Herren dieser Welt kommen und gehen, während der Herr dieser Welt kommt.

Die Deutungsvielfalt wird noch erhöht durch die Frage, wie denn Menschen jene Kreuze deuten, an denen sie im Eingangsbereich bayerischer Staatsbehörden vorbeistreifen? Viele, wenn nicht gar die allermeisten, werden weder die staatlich intendierten noch einige der aus kirchlichem und theologischem Kontext vorgeschlagenen oder eingeforderten Deutungen kennen. Was sagt ihnen dann ein Kreuz? Müsste die zu erahnende Deutungsdiffusität durch einen gesellschaftlichen Deutungsdiskurs unterlegt werden? Wie aber kann ein solcher Diskurs realistisch arrangiert werden? Oder sollte man zur Diskussion stellen, dass die Kreuze vor allem Deutungsangebote für die Belegschaft einer Institution seien. In diese Richtung scheinen ja Diskussionsbeiträge zu weisen, die es für akzeptabel halten, wenn es Ergebnis einer amts- oder behördeninternen Verständigung ist, ein Kreuz aufzuhängen. Auch bei einer solchen graswurzelartig initiierten Kreuzanbringung bleibt die Frage, welcher nichtreligiöse oder religiöse Klärungsprozess diese Verständigung steuern soll und welche Beteiligungsformen einen solchen Prozess überzeugend legitimieren können.

Keineswegs wunderbar

Das Deutungsproblem endet trivialerweise nicht im kirchlichen Raum. Auch eine Kirche macht ein Kreuz nicht zu einem eindeutigen Symbol. Das Kreuz spricht nirgendwo für sich selbst. Auch nicht im Chorraum eines Domes. „Stark, da vorne hängt Spartakus“, rief ein Gymnasiast aus, als er vor einigen Jahren den Magdeburger Dom betrat. Wer ein Kreuz aufhängt, egal wo, kann sich seiner Deutungssache nicht sicher sein, auch wenn er als Kirche in theologischer Deutungskompetenz einiges zum Verständnis gesagt und veröffentlicht haben mag.

Keineswegs wunderbar dürfte jedoch die religionspolitische Wirkung des Kreuzerlasses sein, denn der bayerische Ministerpräsident hat sich, indem er das Aufhängen einmal abgehängter Kreuze nicht in evangelischer Freiheit angeregt, empfohlen, oder befürwortet, sondern angeordnet hat, auf mittlere Sicht einen Bärendienst erwiesen. Sollte im Herbst eine nicht CSU-dominierte Regierung an die Macht kommen, ist die geradezu in Zugzwang. Nicht unwahrscheinlich ist dann ein Kreuzerlass, der das systematische Abhängen verordnet. In ihrem Zug werden die gerade erst angeordneten Kreuze wieder verschwinden - und mit ihnen noch viele andere, die in heiterer Kontingenz noch hingen. Traurig, aber wahr.

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Stephan Schaede

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Stephan Schaede

Stephan Schaede, (*1963) ist  Leiter des Amtsbereichs der VELKD
und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD in Hannover. Zuvor war der promovierte Systematische Theologe von 2021 an Regionalbischof im Sprengel Lüneburg und von 2010 bis 2020 Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum.

 


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