Das Paradies in der Stadt

Wie Demenzgärten nicht nur kranken Menschen helfen
Demenzgarten der Fliedner-Stiftung in Mülheim an der Ruhr. Fotos: Niclas Kurzrock
Demenzgarten der Fliedner-Stiftung in Mülheim an der Ruhr. Fotos: Niclas Kurzrock
Die Zahl der demenziell Erkrankten in Deutschland steigt. Damit diese auch am öffentlichen Leben teilhaben können, fordert die Mainzer Pfarrerin Angela Rinn öffentliche Demenzgärten. Hier sieht die Theologin die evangelischen Kirchengemeinden in der Pflicht.

Der Anstieg von demenziell Erkrankten wird weltweit eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein. Gegenwärtig leben in Deutschland 1,5 Millionen Menschen mit Demenz. Wenn in den nächsten Jahren keine wirksame Therapie oder Prävention gefunden wird, sind für das Jahr 2050 drei Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung in Deutschland zu erwarten. Hier sind auch die Kirchen gefordert. Sie müssen sich der Frage stellen, wie sie einen Beitrag zu einer demenzfreundlichen Gesellschaft leisten können. Dabei ist die Beobachtung wichtig, dass im Blick auf Menschen mit Demenz der öffentliche Raum bislang weder aus städtebaulicher noch aus praktisch-theologischer oder kirchlicher Perspektive umfassend in den Blick genommen worden ist.

Demenziell Erkrankte leben in geschlossenen Räumen von Wohnungen, entweder zuhause oder in Einrichtungen. Dabei ist gerade die Teilhabe am öffentlichen Leben ein Menschenrecht, das auch Menschen mit Demenz zusteht. Doch Scham ist ein zentrales Thema für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Dass bei solchen Projekten im öffentlichen Raum daher mit Widerstand zu rechnen ist, haben der Demenzgartenplaner Dieter Dirlenbach und die Evangelische Kirchengemeinde Bad Schwalbach (Taunus) mit dem von ihnen für die Landesgartenschau 2018 geplanten ersten Demenzgarten im öffentlichen Raum erfahren. Das Projekt wird nicht realisiert.

Und dabei ist eine menschenfreundliche Gestaltung des öffentlichen Raums eine wichtige Herausforderung. Die Kirchen können hier einen entscheidenden Beitrag leisten und öffentliche Demenzgärten entwerfen.

Bei der großen Zahl der Betroffenen ist es nicht nur eine medizinische, seelsorgliche oder pflegerische, sondern auch eine wichtige stadtplanerische Aufgabe, die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu berücksichtigen. Für die stadtplanerische Perspektive stellt der renommierte Stadtplaner und Theologe Dietrich Hoffmann-Axthelm kritisch fest, dass die Stadtplanung die Frage nach einer pflegegerechten städtischen Struktur „verschlafen“ hat. Für die Kirchen und die wissenschaftliche Praktische Theologie gilt das gleiche. Dabei gibt es ein erstes weiterführendes Projekt: Den Demenzgarten im Dorf der Theodor-Fliedner-Stiftung in Mülheim an der Ruhr, hier befindet sich der erste halböffentliche Demenzgarten in Deutschland. Das Dorf ist eine integrative Wohnform für Senioren, Menschen mit Behinderungen sowie Angehörige und Mitarbeitende der Stiftung.

In der Theodor-Fliedner-Stiftung ist die erste demenzfreundliche Raumstudie durchgeführt worden. In dieser interdisziplinären Arbeit „Urbane Räume für ein gesundes Alter“ konnte nachgewiesen werden, dass die Nutzung eines Demenzgartens sich positiv auf Menschen mit Demenz auswirkt und dazu beiträgt, einen sozial-tragenden Lebensraum im Quartier zu begründen. Zusätzlich konnte ein städtebauliches Bewertungsschema entwickelt werden, das eine Check-Liste für Baumaßnahmen im öffentlichen Raum darstellt.

Der öffentliche Raum als bebauter Freiraum hat bisher noch keinen Stellenwert für den Gesundheits- und Pflegesektor eingenommen. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts fordert daher eine koordinierte Kooperation zwischen dem Bausektor und dem Gesundheitssektor mit dem Ziel, Implementierungen von Best-Practice-Beispielen für Stadt und Kommune möglich zu machen. Kirchen könnten hier initiativ werden und Best-Practice-Beispiele initiieren und begleiten. Es gibt trotz aller offensichtlichen Vorteile und vieler Demenzgärten im nicht-öffentlichen Raum von Einrichtungen noch keinen einzigen öffentlichen Demenzgarten.

Das Konzept der Demenzgärten wird neben der genannten Studie durch weitere psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. So konnte beobachtet werden, dass sich die Unabhängigkeit der Menschen mit Demenz durch die Nutzung des Gartens erhöhte. Bei der Alzheimer-Demenz sind nicht alle Teile des Gehirns gleichermaßen vom Zerfall betroffen. So wird der Hippocampus, der wichtig für die Gedächtniskonsolidierung ist, schon in einem frühen Stadium der Krankheit geschädigt, so dass die Menschen sich schlecht orientieren können. So genannte cognitive maps in der Erinnerung gehen verloren, und mit ihnen das Raumgedächtnis. Ein Demenzgarten, der für Menschen mit Demenz geeignet ist, muss daher so angelegt sein, dass sich Menschen trotz des Verlusts ihres Orientierungssinns zurechtfinden. Ein natural mapping ist ein Arrangement, das möglichst wenig Erinnerungsfähigkeit erfordert. Konkret bedeutet das eine klare Wegführung sowie latent image elements, also Strukturelemente, die die Orientierung vereinfachen. Im Demenzgarten sind solche Elemente Pfade und Orientierungspunkte wie Bäume und Bänke oder klar umgrenzte Bereiche im Garten. Solche markanten Punkte werden von Menschen mit Demenz auch bevorzugt genutzt.

Genießen ohne Stress

Während der Hippocampus schon in einem frühen Stadium der Krankheit angegriffen wird, ist die Amygdala, die für Emotionen zuständig ist, erst später betroffen. Das bedeutet, dass Menschen mit Demenz sehr lange emotional sensibel bleiben. Ein Garten, der durch Farben, Wasserspiele und Düfte anregende Sinnesstimulierungen bietet, wirkt sich positiv auch noch auf Menschen aus, deren verbale Kommunikationsfähigkeit verloren gegangen ist. Schäden im frontalen Kortex führen zu Schwierigkeiten, komplexe Handlungen zu organisieren, etwa Kochen oder Zähneputzen. Ein Demenzgarten verlangt diese komplexen Handlungen nicht, so dass die Menschen ihn genießen können, ohne von Anforderungen gestresst zu werden. Menschen mit Demenz, die noch komplexe Handlungen durchführen können, können im Demenzgarten ihre Fähigkeiten - zum Beispiel Gärtnern - ausüben und dadurch Selbstbestätigung erfahren. Schäden am nucleus suprachiasmaticus, der die innere Uhr des Menschen regelt, führen zu Schlaf- und Wachstörungen. Der Kontakt zur Außenwelt eines Gartens kann diese Symptome reduzieren.

Ein Demenzgarten ist ein in seinem Design speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz hin gestalteter Park. Der Raumbedarf für einen Demenzgarten im öffentlichen Raum ist nicht hoch. Die parkähnliche Gestaltung ist auf 1?300 Quadratmeter möglich. Der Park sollte nicht abgeschlossen sein, um Beklemmungsgefühle der Nutzenden zu vermeiden, sondern eine Abgrenzung durch sensorisch erfassbare Begrenzungen haben. Schleifenwege erleichtern die Orientierung. Die Wege sind so breit, dass zwei Rollstühle oder Gehhilfen parallel passieren können. Barrierefreiheit, Sitzplätze mit Sonnenschutz und Bezugspunkte wie ein zentraler Baum, eine Pergola und Bänke sind wichtige Gestaltungselemente und Orientierungspunkte. Wasser als Element ist bereichernd, allerdings in einer gesicherten Form, so dass Menschen nicht hineinfallen oder gar ertrinken können. Unterfahrbare Hochbeete ermöglichen Rollstuhlfahrenden und Gehbehinderten, gärtnerisch zu wirken. Im Garten wird die Wahrnehmung mit allen Sinnen, nämlich Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und Sehen durch Pflanzen, Tiere und Wasserspiele angeregt.

Für Menschen, deren kognitive Fähigkeiten nachlassen oder gar verschwinden, wird ihr Leib, und damit Sinneserfahrung, zur entscheidenden Kategorie.Grünflächen, Parks und Gärten sind ein wichtiges Element der Stadtgestaltung und tragen zum Wohlbefinden der Menschen bei. Sie sind Oasen in der Stein-Wüste der Städte. Es ist kein Zufall, dass das Paradies als Garten vorgestellt wird, der vor dem Sündenfall ein zwar umfriedeter, aber frei zugänglicher Raum ist. Öffentliche Demenzgärten sind keine abgeschlossenen, sondern offen zugängliche Orte in der Stadt. Sie erinnern an den Paradiesgarten und können zu einer Begegnungsstätte aller Menschen im Quartier werden. Sie stehen Menschen aller Religionen und Herkunft offen, sind im besten Sinne also integrative Orte.

Zwanglose Begegnung

Die zwanglose Begegnung von Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen, Quartiersbewohnern, von Alt und Jung, ist im Demenzgarten nicht schambesetzt, sondern frei und anregend. Menschen mit Demenz können ihre Kompetenzen einbringen, etwa im Benennen von Pflanzennamen oder beim Gärtnern. Demenzgärten können einen Beitrag zum Perspektivwechsel leisten, sowohl in der Wahrnehmung von Menschen mit Demenz als auch von Seelsorge und diakonischem Handeln. Der Demenzgarten lenkt den Blick nicht auf Defizite, sondern auf Potenziale, Ressourcen und Kompetenzen.

In Zeiten von Nachverdichtung und Immobilienhype ist der Schutz des öffentlichen Raums, in dem Menschen einfach da sein können, ohne konsumieren oder Eintritt zahlen zu müssen, eine zentrale Aufgabe. Durch die Initiierung von Demenzgärten ergibt sich für die Kirchen die Chance, öffentlich wahrnehmbar diakonisch zu wirken und zugleich einen relevanten, innovativen Beitrag zu einer sozial gerechten Stadtplanung zu leisten. Sie präsentieren sich dadurch als relevante Akteure im Gefüge der Gesellschaft; Kirchengemeinden vor Ort können sich als demenzsensible Gemeinden profilieren.

Kirchengemeinden können prüfen, ob sich in ihrem Besitz geeignetes Gelände für einen Demenzgarten befindet. Viele Gemeinden verfügen über eigene Friedhöfe, die durch die veränderte Bestattungskultur leerstehende Flächen aufweisen. Friedhöfe sind Erinnerungsorte. Es wäre zu untersuchen, ob Flächen auf kircheneigenen Friedhöfen als Demenzgärten gestaltet werden können.

Die Praktische Theologie kann in interdisziplinären Forschungsprojekten Anregungen für die Gestaltung und Bespielung von Demenzgärten erforschen und entwickeln. Diese Forschungsergebnisse können Kirchengemeinden helfen, einen Beitrag zu einer caring community zu bieten.

Schließlich: Ein Demenzgarten ist kein Garten exklusiv für Menschen mit Demenz, er steht allen Menschen offen, die ihn nutzen wollen: Als Paradiesgärtlein in der Stadt.

Angela Rinn

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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