Eine Sau als Schande für die Kirche

In Stein gehauener Judenhass: Wie umgehen mit der so genannten Judensau?
Verhöhnend, verletzend: die Judensau an der Stadtkirche in Wittenberg.
Foto:epd/Norbert Neetz
Verhöhnend, verletzend: die Judensau an der Stadtkirche in Wittenberg. Foto: epd/ Norbert Neetz
In rund dreißig Kirchen in Deutschland findet man eine so genannte Judensau, berichtet der Journalist Thomas Klatt. Diese Darstellungen waren Teil eines Antijudaismus, von dem sich die Kirchen erst in den vergangenen Jahrzehnten offiziell verabschiedet haben.

Wo ist die Sau? Besucher der Maria Magdalenen Kirche in Eberswalde müssen das Kirchenschiff aus dem 14. Jahrhundert ganz durchschreiten, vor dem Altar links abbiegen und an der ersten Säule den Kopf in den Nacken legen. Dann brauchen sie möglichst gute Augen, um an der Säule überhaupt etwas erkennen zu können. In dem eher bäuerlich simpel gehaltenen Sandsteinkapitel ist mit einiger Mühe eine Figur mit einem mittelalterlichen Judenhut zu sehen. Neben ihm steht eine Sau, die ihn küsst.

Es ist eine miese Verhöhnung. Denn im Judentum gilt das Schwein als besonders unreines Tier. So unscheinbar die Darstellung wirkt, ist man sich in der evangelischen Gemeinde klar darüber, dass auch diese so genannte Judensau Teil der unheilvollen antijüdischen Kirchengeschichte ist. „Wir wissen, dass im mittelalterlichen Eberswalde den Juden Hostienschändung vorgeworfen wurde. Daraufhin wurden auch hier Juden ermordet“, erklärt Pfarrer Heinz Peter Giering.

Das kleine Relief ist Ausdruck eines spätmittelalterlichen Antijudaismus, der sich über Jahrhunderte hinzog und Grundlage für den modernen Antisemitismus und schließlich die Shoah war. Heute bemüht sich die evangelische Kirche Eberswalde um aktive Geschichtsaufarbeitung, etwa indem Schülergruppen zu der judenfeindlichen Säule geführt und das Thema Antisemitismus besprochen wird. Zusätzlich liegt ein Info-Blatt aus.

Auch an anderen Stellen in und an der Kirche sind Menschen mit Judenhüten dargestellt. In einer jüdischen Gemeindezeitung wurden diese vor Jahren als ebenfalls antijüdische Darstellungen beschrieben. Doch das stimme nicht, hält der evangelische Pfarrer dagegen. „Das Bronze-Taufbecken ist um 1300 entstanden. Getragen wird es von drei kleinen Gestalten mit Judenhut. Die Gewänder ähneln Löwentatzen. Das ist ein Hinweis auf die Offenbarung des Johannes 5,5, wo Jesus als der Löwe Juda bezeichnet wird. Jesus ist also Teil des Judentums. Am Eingangsportal sieht man die Passion Christi. Der dargestellte Jude ist Joseph von Arimathia, der sein Grab Jesus zur Verfügung stellte. Also ein freundlicher Akt“, erklärt Heinz Peter Giering.

Hier gehe es also um biblische Darstellungen und nicht um antijüdische Verfemungen. Bei der Judensau aber gibt es an der polemischen Ausrichtung keinen Zweifel.

In ganz Deutschland sind rund dreißig Judensau-Darstellungen an oder in evangelischen und katholischen Kirchen bekannt. Und oft sind sie Teil eines größeren antijüdischen Bildprogramms. Ein Beispiel: die Außenwand der Sebalduskirche in Nürnberg. Hinter dem Tier steht ein Jude und fängt dessen Exkremente mit einer Schüssel auf. Ausgerichtet war die mittelalterliche Skulptur ähnlich wie in Eberswalde hin zum damaligen Judenviertel, um die Juden in der Nachbarschaft zu verhöhnen.

Aufklärung nur auf Nachfrage

Im Chorgestühl des Kölner Doms wird neben der Judensau auch noch die Ritualmord-Legende dargestellt: Juden töten für ihren Gottesdienst kleine unschuldige Christenkinder. In Lemgo trägt ein Jude ein Schwein liebevoll in seinen Armen. Die Judensau von Erfurt befindet sich am Chorgestühl des Marien-Doms, ein geschnitztes Flachrelief aus Eichenholz. Dargestellt ist ein Jude, der auf einer Sau reitet, ihm gegenüber ein edler christlicher Ritter auf seinem Roß. Dazu gibt es Aufklärung nur auf Nachfrage.

Erfurts katholischer Weihbischof Reinhard Hauke räumt ein, dass bei Führungen nur dann auf die Judensaudarstellung eingegangen wird, wenn sie entdeckt wird - und Besucher mehr wissen wollen. So erfährt man, dass sich am Außenportal weitere antijüdische Darstellungen finden. Neben den zwölf Aposteln stehen die neutestamentlichen Jungfrauen, die jedoch nur zehn waren. Um der Symmetrie willen fügten die mittelalterlichen Steinmetze zwei weitere Figuren hinzu. Die siegreiche Ecclesia wurde den fünf klugen Jungfrauen beigestellt, die blinde Synagoga aber den fünf törichten Jungfrauen.

„Das ist peinlich, aber es ist nun mal das geschichtliche Faktum des Jahres 1330“, erklärt der Erfurter Weihbischof. Zudem würden dem Besucher auch Positivbeispiele der neueren christlich-jüdischen Geschichte erzählt. Als die Synagogen im November 1938 brannten, habe der katholische Generalvikar die Thorarollen und den Digitus, also den Thorazeiger, der Erfurter Synagoge in seinem Haus unter einem Kohlenhaufen versteckt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die liturgischen Gegenstände wieder der jüdischen Gemeinde übergeben.

Auch im Magdeburger Dom gibt es gegensätzliche Ecclesia-Synagoga-Darstellungen. Und eine Judensau. Auf der Südseite der Ernstkapelle ist sie in einigen Metern Höhe in ein Kapitell eingearbeitet. Ein Mensch mit Judenhut saugt an den Zitzen der Sau. Nah am Hinterteil des Tieres steht eine weitere Person. Entstanden ist die Darstellung in der Zeit des Erzbischofs Ernst II. von Sachsen (1464-1513).

Einer Legende nach gab es einen lapidaren Streit zwischen zwei Mönchen und Juden zu Pferde um das Wegerecht. Das führte 1493 zur Ausweisung aller Magdeburger Juden. In seiner Grablege, der Ernst-Kapelle, ließ der damalige Erzbischof neben einem siebenarmigen Leuchter auch die heute noch zu sehende Judensau-Darstellung anbringen.

Anders als in Erfurt oder Eberswalde ist das Magdeburger Relief aber nicht einfach frei zugänglich. „Ich finde es sehr gut, dass die Magdeburger Domgemeinde nur zu Führungen in die Ernst-Kapelle hineingeht. Dann wird erläutert, dass dieser christliche Antisemitismus zu unserer Glaubensgeschichte gehört“, erklärt Ilse Junkermann, Bischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Sie ist auch Predigerin am Magdeburger Dom.

Von all den antijüdischen Darstellungen in und an deutschen Kirchen ist die Judensau an der Wittenberger Stadtkirche wohl das drastischste Beispiel einer solch polemischen Skulptur. Zu sehen sind Juden, die nicht nur an den Zitzen des als religiös unrein geltenden Tieres saugen. Die Skulptur in der Geburtsstadt der deutschen Reformation zeigt auch, dass sie in den After des Tieres schauen. Um dort den Herren zu entdecken: Schem-Ha-Mphoras, eine rabbinische Umschreibung für den unaussprechlichen Namen Gottes.

Zu dieser polemischen Darstellung gibt es seit Monaten eine öffentliche Debatte. Der britische Theologe Richard Harvey hat fast zehntausend Unterschriften gesammelt, damit das Spottbild entfernt wird. Außerdem gab es medienwirksame Demonstrationen vor der Kirche.

Judensau entfernen?

Dabei gibt es schon seit längerem eine Aufarbeitungsdebatte. Sie sei froh, dass sich die Junge Gemeinde Wittenberg schon vor Jahrzehnten mit dem Thema auseinandergesetzt habe, sagt Bischöfin Junkermann. Vor dreißig Jahren wurde das Denkmal des Bildhauers Wieland Schmiedel in den Boden unter der Judensau eingelassen. Den Text dazu hat der Schriftsteller Jürgen Rennert verfasst: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem-Ha-Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“

Der etwas kryptische Text gefällt nicht allen. Eine jüdisch-christliche Initiative um den Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik fordert, das Denkmal solle auffälliger werden, mit einer klaren Absage an jeden Antisemitismus. Ähnlich äußert sich auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Die jetzige Wittenberger Platte zum Gedenken an die Holocaust-Opfer helfe wenig zum historischen Verständnis des antisemitischen Reliefs. Schuster hat vorgeschlagen, eine Tafel anzubringen, die die Darstellung erklärt und einordnet - oder die Judensau gleich ganz entfernen zu lassen.

Das aber hält der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, für keine gute Idee. Kahlschlag sei zwar immer die einfachste Lösung, meint Claussen. „Aber ist man das Problem dann wirklich los? Wenn man es abnimmt, müsste man es in ein Museum tun. Aber in der Stadt sind alle unterwegs, und die Konfrontation aller, die sich dafür interessieren könnten, ist eigentlich ein besserer pädagogischer Effekt, als es in ein Museum zu tun.“

Aufklärung gehe vor Beseitigung, erläutert der Kulturbeauftragte. Heute käme kein Mensch mehr auf die Idee, eine Judensau als Propaganda ernst zu nehmen. Kirchen als Versammlungsort für Antisemiten seien undenkbar geworden, so Claussen. Nur könne es keine Generallösungen geben. Ob nun ein Aufklärungsblatt wie in Eberswalde, eine Dauerausstellung oder gar ein Gegendenkmal wie in Wittenberg richtig seien, müsse von Fall zu Fall entschieden werden.

So ähnlich sieht das auch der Erfurter Weihbischof Reinhard Hauke: „Die Judensau abschlagen, das ist ein Denken, das die geschichtlichen Fakten nicht mehr ernst nimmt. Ebenso machen wir das KZ Buchenwald nicht einfach platt und sagen, diese Geschichte gibt es nicht.“ Die evangelische Bischöfin Ilse Junkermann wehrt sich ebenfalls gegen jede Abnahme oder gar Vernichtung von Judensau-Darstellungen, in Wittenberg, Magdeburg und auch den anderen Kirchen: „Gerade weil sie nach wie vor politisch-theologische Sprengkraft haben, müssen wir sie hängen lassen, um die Wurzeln der politischen Sprengkraft, diese Verfemungen deutlich zu machen, die dahinter stecken. Das beelendet mich ja. Und wir müssen im Blick haben: Was sind die Wurzeln unseres Versagens und des Antisemitismus“, sagt Junkermann.

Nach der Kritik habe der Wittenberger Stadtrat nun beschlossen, noch eine erläuternde Tafel anzubringen, erläutert die Landesbischöfin. Gleichwohl sei es damit längst nicht genug. Es bedürfe einer permanenten Aufklärung und Bildung. So werde etwa bei Gedenkveranstaltungen im Magdeburger Dom, anders als im Mittelalter, nicht der Synagoga, sondern der Figur der christlichen Ecclesia eine schwarze Augenbinde umgebunden: als Symbol dafür, wie blind die Kirche jahrhundertelang in ihrem Hass gegen Juden war. „Deshalb ist in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland die Verpflichtung zum jüdisch-christlichen Gespräch in unserer Verfassung niedergelegt“, sagt Junkermann.

Sie habe sich dafür eingesetzt, dass es für Theologinnen und Theologen sowie interessierte Laien einen jährlichen Thora-Lerntag gibt, sagt die Landesbischöfin. Dort werde auch der Antijudaismus in den Schriften Martin Luthers verhandelt. Als Beigabe verteile sie die Predigthilfe vom Kreis „Studium in Israel“. Zu jeder Bibelperikope wird dort auch der jüdische Hintergrund erläutert.

Manches liegt an Unwissen. Im thüringischen Nordhausen wollte der örtliche Rotary-Club in bester Absicht ein Lutherdenkmal errichten - allerdings nur sechzig Meter von dem Platz entfernt, wo die zerstörte Synagoge stand. Dem Rotary-Club sei nichts von Luthers Antisemitismus bekannt gewesen, sagt Junkermann. Nun wird dem Lutherdenkmal eine erklärende Tafel beigefügt. Da habe ein richtiger Bildungsprozess in diesem nicht christlich gebundenen Rotary-Club stattgefunden. „Und Magdeburg ist die letzte deutsche Landeshauptstadt ohne Synagoge. Wir setzen uns als Landeskirche dafür ein, dass hier endlich eine neue Synagoge gebaut wird“, verspricht die evangelische Bischöfin.

Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen wünscht sich beim Thema Judensau, dass die Kirche mit der jüdischen Gemeinde am Ort in einem guten und fortwährenden Gespräch ist. Solche Darstellungen seien kein rein innerchristliches Problem, sondern eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft. „Ich fände es interessant, wenn sich tatsächlich die Gremien der Stadt oder des Gemeinwesens damit befassen. Und ich fände es dann auch wichtig, jüdische Stimmen zu haben: also Stadt, Denkmalschutz, Verwaltung, Politik, Kirche und jüdische Gesprächspartner, das wär’s“, meint Claussen.

In Eberswalde ist man noch längst nicht so weit. Als ersten Notbehelf gibt es dort nur ein laminiertes Din-A4-Blatt zur Erklärung der Judensau-Darstellung. Ob es auch hier ein Gegendenkmal oder ähnliches geben wird, steht in weiter Ferne. Gespräche mit jüdischen Vertretern haben dazu bisher nicht stattgefunden. Der Bürgermeister von Eberswalde will sich ebensowenig in einem Interview dazu äußern wie ein anderer Vertreter der Stadt. Die Judensau scheint dort - noch - nur als eines betrachtet zu werden: als eine rein innerchristliche Angelegenheit.

Thomas Klatt

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