Die Bibel hat zahllose Autoren. Gott - so die beiden Agnostiker Carel van Schaik und Kai Michel - ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht darunter. Die Bibel bleibt jedoch für das Autorenteam das wichtigste Buch der Menschheit. Denn sie lässt sich sehr wohl auch „ohne religiöse Brille“ lesen. Nämlich als das Tagebuch der Menschheit. Und eine solche „Bibel ohne Heiligenschein“ geht uns alle etwas an. Schaik, Jahrgang 1953, ist Anthropologe und Evolutionsbiologe. Er forscht an Menschenaffen, um die Wurzeln der menschlichen Kultur und Intelligenz freizulegen. Michel, Jahrgang 1967, ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Er befasst sich vorrangig mit Themen aus den Bereichen Archäologie, Religion und Evolution. Bei ihrer gemeinsamen Bibellektüre - von der Genesis bis zur Apokalypse - lassen sich beide Autoren vor allem von den neuesten Erkenntnissen der Kognitions- und Evolutionswissenschaften leiten. Ihr Fazit: Aufgrund der biologisch-anthropologischen Perspektive „funkeln viele Geschichten der Bibel in neuem Licht“ und „Rätselhaftes ergibt plötzlich einen Sinn“.
Die Vertreibung aus dem Paradies - das ist jener vor gut zehn- bis zwölftausend Jahren stattfindende Übergang vom Nomadendasein zur sesshaften Lebensweise: Jäger und Sammler werden zu Ackerbauern und Viehzüchtern und schließlich zu Städtebauern und Staatsgründern. Diese neolithische Revolution beendet das jahrhunderttausendelang übliche Kleingruppenleben. Die kulturelle Evolution ermöglicht somit fortan ein Leben, wofür uns die Natur eigentlich nicht geschaffen hat. Mit dramatischen Folgen: Die Menschheit wird zwar erfolgreicher und die Bevölkerungszahlen wachsen, aber das Leben wird auch komplizierter und die sozialen Unterschiede größer.
Die Bibel zeigt einerseits, was der Mensch der kulturellen Evolution zu verdanken hat. Insbesondere, wenn es gilt, existenziell bedrohlichen Herausforderungen zu trotzen. Der Glaube an eine übernatürliche, göttliche Macht ist dabei zweifellos hilfreich. Etwa indem erklärt wird, woher die Angst vor dem Tod oder das Bedürfnis nach Gerechtigkeit herkommen. Andererseits illustriert die Bibel aber auch, wie leicht der moderne Mensch - stets wider alle Vernunft - in alte Verhaltensmuster zurückfällt.
Ohne deterministisch zu sein, vermag die Natur die kulturelle Evolution offenbar immer noch in archaischen Bahnen zu halten. Das erweist nach Schaik und Michel auch die Bibellektüre. Unsere menschliche Natur ist nun einmal nicht von der menschlichen Kultur zu trennen. Wer sich etwa hinsichtlich der allgegenwärtigen Latenz von Sexualität und Gewalt weigert, einige für den Menschen typische, da genetisch verankerte Verhaltens- und Wahrnehmungsdispositionen anzuerkennen, individualisiert in fahrlässiger Weise grundsätzliche Menschheitsprobleme.
Die Bibel macht diesen Fehler nicht. Sie dokumentiert tagebuchartig, wie mühsam es ist, zu lernen, in großen, anonymen Gesellschaften zu leben. Und sie kennt auch den Preis dafür.
Dieses leidenschaftlich vorgetragene Plädoyer, die Bibel auch einmal aus rein evolutionärer Sicht zu betrachten, liest sich trotz mancher Überlängen wie ein spannender Wissenschaftsschmöker.
Reinhard Lassek
Reinhard Lassek
Reinhard Lassek ist Wissenschaftsjournalist. Er lebt in Celle.