Durchkreuzte Bilder

Klartext
Die Gedanken zu den Sonntagspredigten im Februar und März stammen von Jürgen Wandel. Er ist Ständiger Mitarbeiter der zeitzeichen.

Dankbarer Rückblick

Sonntag Invokavit, 18. Februar

In allem erweisen wir uns als Diener Gottes … als die Sterbenden, und siehe, wir leben …als die Traurigen, aber allezeit fröhlich. (2. Korinther 6,4–10)

Ich wurde geboren sieben Jahre, nachdem Deutschland vom Nazismus befreit und der Krieg beendet worden war. Und ich wuchs in Westdeutschland auf. Mein Leben wurde also weder durch Schergen einer Diktatur, noch durch Bomber und Tiefflieger bedroht. Und für meinen Glauben musste ich weder Freiheit noch Leben riskieren. Das unterscheidet mich von Paulus, den damaligen Christen in Korinth und vielen meiner Zeitgenossen in Asien und Afrika.

Trotzdem muss auch ich, im Rückblick auf mein Leben, staunend feststellen: Siehe, ich lebe. Es grenzt für mich an ein Wunder, dass ich die Kindheit überlebt habe. Denn damals erlebte ich ein paar lebensbedrohliche Situationen. Der dramatischsten war ich ausgesetzt, als ich so um die acht Jahre alt war. Meine Mutter machte mit mir Urlaub am Bodensee. Da ich noch nicht schwimmen konnte, hatte sie mich zu dem Teil des Strandbades gebracht, der seicht und für Nichtschwimmer bestimmt war. Aber dort hielten sich keine anderen Kinder auf. So wurde es mir bald langweilig. Ich ging, ohne meiner Mutter etwas zu sagen, dorthin, wo etwas los war, wo sich die Schwimmer tummelten.

Die Treppe, die dort von dem betonierten Ufer in den See führte, war von Algen bedeckt und glitschig. Ich rutschte aus und ging sofort unter. Von den vielen Badegästen sah das nur ein Mann. Er zog mich aus dem Wasser und rettete mir das Leben. Kinder sind besonderen Gefahren ausgesetzt. Aber auch als Erwachsene erleben wir unmittelbar oder bei Verwandten, Freunden und Bekannten: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Und das gilt nicht nur für uns persönlich, sondern für die ganze Schöpfung. Man denke nur an den Klimawandel oder die Atomwaffen. Sie schienen nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nur noch wenige zu beunruhigen.

Man kann versuchen, die Gefahren, die Tag für Tag drohen, zu verdrängen. Aber weil das letztlich unmöglich ist, werden die einen zynisch und verspotten diejenigen als „Gutmenschen“, die die Welt menschlicher machen wollen. Und andere, oder dieselben, versuchen so viel wie möglich aus dem Leben rauszuholen, auch auf Kosten der Mitmenschen.

Christen können dem Unheil, das ihnen und anderen widerfahren kann, dagegen ins Auge sehen. Lutheraner und Katholiken müssen das sogar, wenn sie in der Kirche sind. Denn dort fällt ihr Blick auf ein Kruzifix. Es erinnert an Leiden und Sterben. Aber das Kreuz ist zugleich ein Hoffnungszeichen, ein Symbol dafür, dass das Leben siegt und nicht der Tod. So wird anschaulich, was sich mit Paulus als Merkmal christlicher Existenz beschreiben lässt, „als die Sterbenden, und siehe wir leben“.

Ehrlicher Rückblick

Reminiszere, 25. Februar

Gott wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch.

(Jesaja 5,7)

Vor hundert Jahren endete der Erste Weltkrieg mit der Niederlage des deutschen Kaiserreichs. In den folgenden Jahren, in der Weimarer Republik wurde versäumt zu untersuchen, wer Deutschland in den Krieg getrieben und einen Verständigungsfrieden mit den Kriegsgegnern hintertrieben hatte. Nur die linken Demokraten um die pazifistische Zeitschrift Das andere Deutschland, unter ihnen Kurt Tucholsky, drangen darauf, die Schuldfrage zu klären und die Schuldigen beim Namen zu nennen. An dieses heiße Eisen trauten sich selbst die Politiker nicht heran, die die Republik trugen. Sie hatten Angst, von den Rechten als „vaterlandslose Gesellen“ denunziert zu werden. So konnten die Ex-Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die Stahlbarone und ostelbischen Junker von ihrer Schuld ablenken und andere beschuldigen, die Entente, die Deutschland „eingekreist“ habe, und die „Novemberverbrecher“, die die kaiserliche Armee „erdolcht“ hätten. Diese Propaganda, die auch von vielen evangelischen Kirchenmännern unterstützt und verbreitet wurde, beförderte Aufstieg und Machtübernahme der Nazis.

An diesem Beispiel wird deutlich: Eine Nation, die die dunklen Kapitel ihrer Geschichte ausblendet, Schuld verdrängt und Unrecht verschweigt, schadet sich am Ende selbst. Natürlich fällt es dem Einzelnen wie einem Volk schwer, Fehlentscheidungen oder gar Verbrechen zuzugeben. Umso mehr beeindruckt, dass das im Alten Testament anders ist. Schon deswegen ist es auch für Christen unverzichtbar. Denn die Hebräische Bibel macht aus Sünden keine Tugenden, aus der Geschichte des Volkes Gottes keine Heldengeschichte, sondern schildert auch die dunklen Kapitel. Ein Beispiel dafür ist das „Weinberg-lied“ des Jesaja, über das heute gepredigt wird. Es erinnert nicht nur an Rechtsbrüche, die sich irgendwann in der Geschichte des Volkes Israel ereigneten. Vielmehr wird auch dem Leser und Hörer im 21. Jahrhundert deutlich: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (den auch Jesus verkündigte) erweist sich als „heilig in Gerechtigkeit“ (Jes 5,16). Und das hat Folgen: Wer an diesen Gott glaubt, ist verpflichtet, für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen.

Nüchterner Blick

Okuli, 4. März

Führt euer Leben in Gottesfurcht, solange ihr hier in der Fremde weilt; denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi. (1. Petrus 1,17–19)

Die Vorstellung, dass Blut fließen und Jesus einen brutalen Tod am Kreuz sterben musste, um die Menschheit zu erlösen, löst Befremden, Schaudern, Ablehnung aus. Auch bei Christen hat sich leider das Bild eines Gottes festgesetzt, der nur durch ein Opfer, nämlich das seines Sohnes, gnädig gestimmt wird. Aber was der Erste Petrusbrief anspricht, lässt sich so übersetzen, dass es auch Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts verstehen: Das Kreuz ist ein Spiegel, der dem Betrachter wichtige Einsichten vermittelt. Es durchkreuzt die falschen Bilder, die sich Menschen von sich und Gott machen, und eröffnet eine neue Sicht:

1. Das Kreuz zeigt, wozu Menschen fähig sind. Sicher, in normalen Zeiten töten nur wenige einen Mitmenschen. Aber schon in einer Diktatur geht die Tötungshemmung zurück. Und diejenigen, die sich nicht am Töten beteiligen, schauen oft weg oder beteiligen sich an Rufmord oder brüllen zusammen mit anderen: „Kreuzige ihn.“ Im Krieg fallen erst recht die Schranken, die die Erziehung errichtet hat, kommt zum Vorschein, was sich sonst hinter einer Fassade der Anständigkeit verbirgt.

2. Darüber hinaus konfrontiert das Kreuz den Menschen mit anderen Projektionen und Illusionen. Der Mensch neigt dazu, sich Gott nach seinem Bilde zu formen. Und das Ergebnis ist ein allmächtiger Herrscher, der diejenigen vernichtet oder zumindest bestraft, die nicht an ihn glauben. Wer einen solchen Gott verehrt, wird intolerant, dämpft die Fähigkeit zum Mitleid und behandelt die Mitmenschen entsprechend. Doch dieses Götzenbild zerstört der Gott, an den Christen glauben. Denn er wird freiwillig schwach und ohnmächtig. So solidarisiert er sich mit den Schwachen, Ohnmächtigen, Ausgestoßenen.

Spätestens an diesem Punkt erweist sich der Satz, dass alle an denselben Gott glauben, als falsch, so gut er gemeint ist. Dass Gott schwach wird, dürften Muslime vermutlich ablehnen. Aber selbst Christen haben sich damit schwer getan und sind immer wieder zu einem Gott zurückgekehrt, „der Eisen wachsen ließ…drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in seine Rechte“. Nach dem Verfasser dieser Zeilen, Ernst Moritz Arndt (1769–1860), ist in Berlin eine evangelische Kirche benannt.

Veränderter Blick

Lätare, 11. März

Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.

(Philipper 1,21)

Das ist nicht einfach so dahin gesagt oder eine fromme Floskel für den Gottesdienst. Paulus schreibt diese Worte, als er wieder einmal im Gefängnis sitzt, vielleicht in Ephesus. Sie fassen zusammen, was sein Leben auszeichnet: Der Apostel reist unermüdlich um die damalige Welt, um Menschen, vor allem Nichtjuden, für das Christentum zu gewinnen. Dabei riskiert er sein Leben, nicht nur bei Stürmen auf dem Mittelmeer. Und möglicherweise endet es mit dem Märtyrertod in Rom.

So lebte und wirkte Paulus in einer Welt, die fundamental anders war als unsere. Und so unterscheiden sich auch die Christengemeinde im mazedonischen Philippi Mitte des ersten Jahrhunderts von den Kirchengemeinden im nordbadischen Philippsburg des 21. Jahrhunderts. Die Philippsburger haben zwar eine wesentlich höhere Lebenserwartung als die Bewohner von Philippi. Aber der Tod bleibt schrecklich – für den, der stirbt, und für diejenigen, die zurückbleiben. Sie dürften den Tod nicht als „Gewinn“ betrachten, sondern als Verlust. Es sei denn, der Verstorbene muss so sehr leiden, dass er und/oder seine Angehörigen den Tod als Erlösung erleben.

Man darf natürlich nicht vergessen, dass Paulus im Gefängnis sitzt und dabei auch noch seine ganze Kraft aufwenden muss, um seinen Mitchristen in Philippi per Brief ins Gewissen zu reden. Kein Wunder, wenn er angesichts der Mehrfachbelastung „Lust“ hat, „aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein“ (Phil 1,23).

Was bei Paulus in Philipper 1,12 eher triumphal klingt, wird in Melchior Vulpius’ Choral „Christus, der ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“ dagegen realistisch, einfühlsam, seelsorglich umgesetzt: „Wenn meine Kräfte brechen, mein Atem geht schwer aus und kann kein Wort mehr sprechen: Herr, nimm mein Seufzen auf“ (EG 516,4).

Ein „Gewinn“ kann das Sterben sein, wenn es im übertragenen Sinn verstanden und mit „loslassen“ übersetzt wird. Dann wird auch der Zusammenhang mit dem Leben in Christus deutlich. Der Mensch ist „in sich verkrümmt“, sprich: auf sich bezogen. Darin sehen der Kirchenvater Augustin und der Reformator Martin Luther seine Sünde. Jesus richtet die in sich verkrümmten Menschen auf und ihren Blick von ihnen weg auf andere, auf Gott und den Nächsten. Das ermöglicht Begegnungen und einen Austausch, im Gebet und im Gespräch. Und weil dabei etwas zurückkommt, wächst der Mensch – manchmal sogar über sich hinaus.

Der Heidelberger Psychoanalytiker Rainer Holm-Hadulla hat es einmal negativ formuliert: „Menschen wachsen nicht, wenn sie nicht gesehen und beantwortet werden.“

Jürgen Wandel

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