Spuren im Sand

Im brandenburgischen Falkensee bewahren Museumsleute die Erinnerung an die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar
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Vor 75 Jahren wurde die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar (1894-1943) von Berlin nach Auschwitz deportiert und ermordet. Kolmar, die als eine der bekanntesten deutschsprachigen Dichterinnen ihrer Zeit gilt, wurde nur 48 Jahre alt. Ihr Leben wurde ausgelöscht, das Museum Falkensee bei Berlin hält das Andenken an die Dichterin wach. Eine Spurensuche.

Wenn ich tot bin, wird mein Namen schweben Eine kleine Weile ob der Welt. Wenn ich tot bin, mag es mich noch geben. Doch ich werde bald verlorengehn, Wie das Wasser fließt aus narbigen Krug, Wie geheim verwirkte Gabe der Feen Und ein Wölkchen Rauch am rasenden Zug.

Zeit ihres Lebens hat Gertrud Kolmar (1894-1943) ihre Gedanken an Zeit und Ewigkeit formuliert. Ihr lyrisches Werk entstand in der Stille einer kleinen Kolonie nordwestlich von Berlin, in Finkenkrug, einem Ortsteil vom heutigen Falkensee. Hier erlebte sie ihre produktivste Zeit, setzte sich literarisch intensiv mit ihrer heimischen Naturlandschaft auseinander. Hier unternahm sie ihre Spaziergänge auf den sommerwarmen Wegen, aus denen die Lärchen und Birken in den weiten blauen Himmel aufstiegen, bis die Nazis sie zwangen, nach Berlin umzuziehen, sie 1943 nach Auschwitz deportierten und ihr Leben auslöschten.

Zeilen aus den Gedichten Gertrud Kolmars führen durch das Falkenseer Museum.
Zeilen aus den Gedichten Gertrud Kolmars führen durch das Falkenseer Museum.

Heute wie damals ist Falkensee ein Ort, an dem Menschen eine neue Heimat suchen, großstadtmüde Berliner gegenwärtig genauso wie einst Gertrud Kolmar. Falkensee, im Nordwesten Berlins gelegen, gehört zum brandenburgischen Landkreis Havelland. Auf einer Fläche, die die Größe von Halle/Saale hat, leben 45.000 Einwohner. Was lässt sich auf der Suche nach Gertrud Kolmar in Falkensee heute noch finden? Ein Fachwerkhaus, säuberlich restauriert, birgt Museum und Galerie Falkensee. Darin auf zwei Etagen Kunst und Regionalgeschichte, die die Geschichte der Stadt sinnfällig machen, archäologische Funde, Zeitzeugen der Stadtentwicklung, Kriegstagebücher bis hin zum reichlich bestückten Schaudepot.

In diesen denkmalgeschützten Räumen hat sich ein kleines Museumsteam das Andenken an Gertrud Kolmar auf die Fahnen geschrieben. Im Museum empfängt Gabriele Helbig, gebürtige Falkenseerin, Hüterin und Herz der Kolmar-Erinnerung.

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Gleich im Entree der erste Schriftzug: „Irgendwann wird es Zeit, still am Weiler zu stehen, Schmalen Verrat zu sichten, zögernd heimzugehen, Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.“

Die 52-jährige Helbig hat mit einem kleinen Team einen Erinnerungsort für die Dichterin geschaffen und mit der Dokumentation der Regionalgeschichte im Museum Falkensee geschickt verbunden. Biographisches sowie Zitate der jüdischen Dichterin führen fast wie ein Leitfaden durch die ständige Ausstellung.

Wenige Fragmente

Oben angekommen stößt der Besucher auf eine alte Schreibmaschine desselben Typs, die Kolmar benutzte, auf ihre Prosa und Lyrikbände in verschiedenen Sprachen; ein Faksimile eines Briefes an ihren Cousin Walter Benjamin lädt zum Lesen ein.

Neun historische Rosen blühen seit 2011 Jahr für Jahr in dem eigens angelegten Rosengarten. Kolmar bedichtete die Rosen, die ihr Vater in Falkensee-Finkenkrug kultivierte.
Neun historische Rosen blühen seit 2011 Jahr für Jahr in dem eigens angelegten Rosengarten. Kolmar bedichtete die Rosen, die ihr Vater in Falkensee-Finkenkrug kultivierte.

Nur Fragmente sind geblieben, die sich authentisch der Dichterin zuordnen lassen. Helbig weist auf die kleinen ausgestellten Reklamebilder, die die Firma Hag zu Kolmars Zeiten ihrem Kaffee beilegte und die die Dichterin zu ihrem Zyklus Das Preußische Wappenbuch (1934) inspirierten. Darin bedichtet sie alle preußischen Provinzen, von Ost- und Westpreußen über Brandenburg und Schlesien bis nach Westfalen und dem Rheinland. Die einzelnen Ausstellungsbereiche sind mit einem sinnfälligen Zitat der Dichtung Kolmars überschrieben, die die Literaturwissenschaftlerin Regina Nörtemann auswählte. Die Naturabteilung öffnet sich mit zwei Zeilen aus dem Gedicht Die Reiher: „Die schwarzen Reiher flogen über grüngoldnes Birkengerinnsel.“ Daneben das Präparat eines Reihers. Oder die Zeile: „Die Erdenkindheit. Die doch nicht mehr ist.“ Sie führt in die archäologische Abteilung von Falkensee ein. Es folgt der Raum, der die Zeit des Nationalsozialismus zeigt. „Sie irren im Lager um mit kranken, entsetzten Blicken Und leben wahrscheinlich noch. Das können sie nicht begreifen.“ Dieses Gedicht aus dem Zyklus Das Wort der Stummen verweist auf die Verhältnisse in den Lagern. Auch in Falkensee gab es seit 1943 ein KZ-Außenlager. Zwischen einem Koffer mit Kriegstagebüchern und der Lagerglocke bekommen Gertrud Kolmar und andere jüdische Bewohner von Falkensee noch einmal ein Gesicht: Wohnhaus, Familienbild, Biographie und Hinweis auf Stolpersteine finden sich auf Bildtafeln.

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Als hilfreich erwies sich, dass das Werk Gertrud Kolmars dem Staat DDR kein ideologisches Bauchgrimmen machte. 1978 verfassten die Literaturwissenschaftlerin Maria Schaare und der Künstler Kurt Magritz einen Brief an den Bürgermeister der Stadt Falkensee, in dem sie sich für eine Gedenktafel einsetzten. Ein Jahr später schon wurde sie am Wohnhaus der Familie Chodziesner feierlich enthüllt, wie der Besucher am Ende des Rundgangs erfährt.

Ein ausführliches Merkblatt des Museums gibt Auskunft über das Leben der Dichterin, die 1894 als ältestes von vier Kindern des Strafverteidigers und Justizrates Ludwig Chodziesner und seiner Frau Elise in Berlin geboren wird. Volks- und höhere Mädchenschule, der Erwerb von Sprachdiplomen in Französisch und Englisch und ihre Arbeit in Hamburg als Erzieherin, das alles kann der Besucher nachlesen. 1923 zieht die Familie ins Havelland, in die Villenkolonie nach Neu-Finkenkrug in die Manteuffelstraße 9. Unter dem Künstlernamen Gertrud Kolmar - es ist der deutsche Name für die polnische Stadt Chodzies, aus der die Vorfahren stammten, veröffentlicht die Dichterin ihre Lyrik und Prosawerke in Finkenkrug/Falkensee. Hier pflegt sie ihre kranke Mutter bis zu deren Tod, führt ihrem Vater den Haushalt und das Sekretariat. Einzig ein Mokkaservice ist aus dieser Zeit erhalten und über Umwege wieder nach Falkensee gelangt. Gabriele Helbig, die seit 23 Jahren das Museum leitet, will ihm nun einen Platz in der Dauerausstellung einräumen.

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Nun also in die Manteuffelstraße 9, die heute Feuerbachstraße 13 heißt. Der Weg in die Villenkolonie Neu-Finkenkrug führt über Kopfsteinpflaster, entlang an repräsentativen Siedlungsvillen und Sommerhäusern. Der alte Baumbestand säumt die Straße. Vorbei am Gertrud-Kolmar-Weg steht der Besucher vor dem Eingang zum ehemaligen Wohnhaus. Zwei Stolpersteine aus Messing, für die Dichterin und ihren Vater, finden sich kaum sichtbar im staubigen Sandboden. In den Bürgersteig gesetzt hat sie der Künstler Gunter Demnig mit der Vorbereitungsgruppe Stolpersteine Falkensee, um die Namen der Opfer zurück an die Orte ihres Lebens zu bringen, dem letzten frei gewählten Wohnort.

Hinter Hecken, Büschen und Bäumen verborgen lag die Villa, in der Gertrud das Eckzimmer im ersten Stock bewohnte. So zeigen es alte Fotos im Museum. Ihr Vater und sie wurden Ende 1938 zum Verkauf des Hauses gezwungen und mussten im Januar 1939 in eine Wohnung in einem so genannten Judenhaus in Berlin-Schöneberg umziehen. Im Juli 1948 enteignet, gehört das Haus seit 1949 zur Lessing-Grundschule, gegenwärtig ist dort der Schulhort untergebracht. Wo früher der Vater Rosen kultivierte, ertönt Kinderlachen und Geschrei. Man springt ins Heute und zurück. Nichts ist von der einst hochherrschaftlichen Villa zu erahnen. Nichts erinnert mehr an die Garten- und Waldlandschaft, nichts an den märkischen Garten, den die Dichterin in ihren Gedichten beschrieb. Helbig erklärt, Loggia und Balkon mit der schönen Säule sind abgerissen worden, aber die drei Gauben sind noch da. Verloren weist eine einsame Gedenktafel am Eingang auf die ehemalige Bewohnerin hin. In Kolmars Zimmer ist heute das Büro der Hortleiterin untergebracht. Raumaufteilung, Treppenhaus und die Büchereinbauschränke haben die Zeiten überdauert.

Neue Schulbibliothek

„Ob Gertrud Kolmars Name schweben wird und wie lange, liegt auch an uns, ob wir es vermögen, an sie zu erinnern“, sagt Gabriele Helbig. Eines liegt ihr am Herzen: Vielleicht könne die Stadt in dem Haus eine Gertrud-Kolmar-Schulbibliothek unterbringen. Denn das Haus wird, so Helbig, auf Dauer zu klein für die vielen Falkenseer Kinder. Dieser Enthusiasmus macht Freude.

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Zurück im Falkenseer Museum, wo Gabriele Helbig durch den eigens angelegten Gertrud-Kolmar-Rosengarten führt. Gertrud erfand die Rosen, die ihr Vater kultivierte, neu, bedichtete sie und setzte ihnen mit dem Gedichtzyklus Bild der Rose ein bleibendes Denkmal: „Milch“, „Die Trauernde“ oder „Die Rose des Kondors“ überschrieb sie die Rosen. Manche Sorten sind verzauberte Frauen, andere werden zu Zitronenfaltern, Zwergflamingos oder Kanarienvögel. „Einige Rosen aus Kolmars Garten sind so alt, dass wir sie nicht mehr finden konnten, von anderen gab es im Rosarium nur noch ein Exemplar, das die Züchter mit einem Ableger nicht gefährden wollten“, erzählt Helbig. Nun blühen neun alte Rosensorten im Garten hinter dem Museum. Dazu die Neuzüchtung Gertrud Kolmar, die ihr der Rosenzüchter Jan D. Janßen aus Hamburg gewidmet hat.

Dass ihr Werk die Nazizeit überstand, hat Gertrud Kolmar auch Hilde Benjamin zu verdanken, erzählt Museumsfrau Helbig im Rosengarten. Die spätere Justizministerin der ddr hat in ihrem Wochenendhaus im benachbarten Brieselang den Gedichtzyklus Das Wort der Stummen verwahrt. Schon der im August 1938 erschienene Gedichtband Die Frau und die Tiere war nach der Pogromnacht im November 1938 eingestampft worden. Und während drei Geschwister Deutschland verließen, blieb Gertrud Kolmar. Sie musste ab Sommer 1941 in einer Berlin-Lichtenberger Kartonagefabrik arbeiten. Ihrer Schwester Hilde schreibt sie: „. ich bekam Heimweh nach F. (inkenkrug). - die Menschen dort liebe ich nicht, im Gegenteil, aber die Wiesen, den Wald. Und die Tiere . Ob ich dieses ‚verlorene Paradies‘ je einmal wieder finden werde?“

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Helbig erzählt weiter: von der hohen Zahl der nsdap-Mitglieder in Falkensee und von dem Novemberpogrom, das auch das scheinbar so stille Finkenkrug nicht auslässt, von eingeschmissenen Scheiben in der Villa der Chodziesners und vom Vater Ludwig, der verhaftet wird und erst nach vier Tagen wieder freikommt.

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Warum, fragt Gabriele Helbig, ist Gertrud Kolmar, anders als ihre Geschwister, nicht emigriert? Eine große Frage, über die sich viele Literaturwissenschaftler den Kopf zerbrochen haben. War es die Nähe zum Vater? Oder hat sie sich bewusst dagegen entschieden, mit offenem Blick ihr Schicksal kommen sehen? 1942 wird der Vater nach Theresienstadt verschleppt, am 2. März 1943 Gertrud Kolmar nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Ich atme, schwimme

In einer tiefen, beruhigten Pracht,

Demütige Stimme

Unter dem Vogelgefieder der Nacht.

Komm denn und töte!

Mag ich nur ekles Geziefer dir sein:

Ich bin die Kröte

Und trage den Edelstein.

Weitere Informationen

Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Suhrkamp Verlag, Berlin 2001, 390 Seiten, Euro 11.

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Text: Kathrin Jütte / Fotos: Hans-Jürgen Krackher

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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