Das Lamm im Wolfspelz

Ein Versuch, Karl Barth zu verstehen
Arbeits- und Liebesgemeinschaft: Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum um 1930. Fotos: KBA
Arbeits- und Liebesgemeinschaft: Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum um 1930. Fotos: KBA
Mit einem Paukenschlag betrat Karl Barth vor einhundert Jahren die theologische Bühne. Auch fünfzig Jahre nach seinem Tod ist seine geistige Hinterlassenschaft sehr umstritten. Georg Pfleiderer, Systematischer Theologe an der Universität Basel, beleuchtet Werk und Person von verschiedenen Seiten und kommt zum Schluss, dass die angebliche schroffe Dialektik bei Barth eigentlich Dialogik ist.

"Gott ist der Welt und dem Menschen radikal fremd, aber Gott überwindet diese unendliche Distanz und sagt zum Menschen unbedingt Ja. Dieses unbedingte Ja Gottes zum Menschen ist Jesus Christus in Person. Er ist der Mensch für andere. So dürfen dank ihm auch wir leben.“ - Allgemein, aber nicht speziell theologisch gebildeten, insbesondere jüngeren Menschen Karl Barths Theologie zu erklären, ist einerseits leicht und mit sehr wenigen Sätzen zu erledigen, andererseits erstaunlich schwierig und zeitaufwendig. Barths theologische Grundeinsichten klingen nämlich einerseits banal - (die Sätze sind doch eigentlich nur eine Kurzform des Glaubensbekenntnisses, oder?), andererseits widersprüchlich (wieso radikal fremd, wenn zugleich unbedingtes Ja?), je nach mitgebrachter Eigenfrömmigkeit entweder strange (kann ich denn Gott nicht in mir selbst, in der Natur, unter Freunden erfahren?) oder evangelikal-mainstreamig (jesus-fromm).

Warum braucht es eine Dogmatik mit 13 dicken Bänden (60 cm Regalplatz!), um solche einfachen theologischen Wahrheiten zu präsentieren? Und wieso hat dieser Mann darüber hinaus noch weit mehr geschrieben? Inzwischen zählt allein die Werkausgabe 53 Bände, und jedes Jahr erscheint im Schnitt ein weiterer. Und warum wird über diesen Schweizer Theologen mehr als über jeden anderen Theologen des 20. Jahrhunderts geschrieben? Was macht ihn so wichtig?

Versuche, Barth zu erläutern und zu verstehen, sollten bei dieser Spannung zwischen (anscheinend oder scheinbar) einfacher theologischer Botschaft und enorm aufwändig und differenzierter theologischer Entfaltung einsetzen. Führt man sich entsprechende Erläuterungsversuche vor Augen - etwa den Wikipedia-Artikel -, dann stößt man - als Antwort auf diese Fragen und zugleich neue Frage - auf eine für diese Theologie charakteristische zweite Spannung, nämlich auf diejenige von unmittelbarer Konzentration auf die Bibel und sie auslegende kirchliche Bekenntnisse als Barths Programm einerseits und zeitgeschichtlicher Kontextualität des 20. Jahrhunderts andererseits.

In der Tat hat sich keine andere Theologie im 20. Jahrhundert so sehr aus ihrer Zeit heraus und in die Bibel hinein zu reflektieren versucht wie die Theologie Karl Barths, und zugleich scheint keine andere Theologie dieser so konflikt- und katastrophenreichen Ära der Moderne so eng mit dieser ihrer Zeit verflochten zu sein wie gerade diese. Barths theologischer Denkweg lässt sich nur erzählen vor dem Hintergrund der großen geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, soweit er dieses erlebt, erlitten und auf seine Weise mitgestaltet hat: liberales Bildungsbürgertum und sozial zerklüftete Industriegesellschaft um 1900, Erster Weltkrieg, Revolutionszeit an dessen Ende, Weimarer Republik, Aufstieg der Nazis, „Drittes Reich“ und Kirchenkampf, Judenverfolgung, Untergang; Kalter Krieg, Antikommunismus, Demokratie, Etablierung einer offenen, pluralistischen Gesellschaft.

Andererseits hat Barth die Aufgabe der Theologie in und gegenüber allen diesen Ereignissen immer nur darin gesehen, konzentriert auf die Bibel zu hören. Zwar hat Barth die Bibel für die Theologie nicht wiederentdeckt, wie seine damaligen und heutigen Follower gerne behaupten, aber er hat doch sein eigenes theologisches Denken dezidiert und programmatisch als Nach-Denken des von den biblischen Autoren Gedachten beziehungsweise Bezeugten zu verstehen gegeben.

Messerscharfes Hören

Diese betont biblische Theologie hat er aber - und das ist ihr drittes unverwechselbares und wiederum in sich spannungsvolles Kennzeichen - einerseits als offenes und darum auch immer wieder neues Hören auf die biblischen Zeugen, andererseits als hochgradig bestimmtes, sozusagen messerscharfes Hören verstanden und präsentiert. Mit der messerscharfen Bestimmtheit der Barthschen Theologie (beziehungsweise mit ihrem Anspruch auf solche Bestimmtheit) hängt zugleich ihre auffällige Streitbarkeit zusammen. Ungeachtet der von ihm selbstverständlich wahrgenommenen inneren Vielstimmigkeit der Bibel war Barth der Auffassung, dass eine heutige biblische Theologie unbedingt auf Eindeutigkeit zielen müsse.

Und solche Eindeutigkeit musste, wo nötig, auch mit dezidierten Ablehnungsurteilen, auch gegen vermeintlich ihm nahestehende Theologen wie etwa Emil Brunner, dem er 1934 ein scharfes „Nein“ entgegenschleuderte, bekundet werden. Solches schroffe „Nein!“ war aus Barths Sicht nötig, weil - viertes Spannungsmerkmal seiner Theologie - Abweichungen („Irrtümer“) in theologischen Grundsatzfragen, in denen es nämlich um die Erkenntnisgrundlagen der Theologie insgesamt ging, mit zwingender Notwendigkeit fatale Folgen im gesamten theologischen Denken wie auch im christlichen Lebensvollzug zeitigen mussten. Insbesondere war er davon überzeugt, dass ein nicht ungeteiltes Hören auf die Bibel und nur auf die Bibel, sondern auch auf andere Quellen, wie menschliche Erfahrung, Geschichte, Vernunft zwangsläufig zu einer falschen Theologie, falschen Ethik, falschen Politik führen musste.

Wer 1933 oder 1934 nicht alles auf die eine Karte Bibel und damit Jesus Christus setzte, geriet aus seiner Sicht geradezu zwangsläufig auf die schiefe Ebene, die mit dem Vernunftoptimismus der Aufklärung und dem romantischen Humanismus Schleiermachers angefangen hatte, aber mit den „Deutschen Christen“ als der Nazi-Kirchenpartei enden würde. Dass einer wie der aufrechte Emil Brunner sich von einem solchen Vorwurf sträflich missverstanden fühlte und sich dadurch fast bis an sein Lebensende in den Sechzigerjahren verletzt fühlte, hat er - „um der Wahrheit willen“ - in Kauf nehmen zu müssen gemeint.

Diese für sie konstitutiven Spannungen prägen auch die Wahrnehmung und die wissenschaftliche Rezeption der Theologie Karl Barths seit ihren Anfängen und bis zum heutigen Tag. Von Freund und Feind ist Barth als „prophetischer Theologe“ wahrgenommen worden, der entweder die wissenschaftliche Theologie verraten und durch ein Predigen im höheren Ton ersetzt hat - so kritisch Adolf von Harnack - oder den Irrweg der Selbstsäkularisierung der modernen liberalen Theologie durch ein neues Hören auf das Wort Gottes beendet hat.

Man hat Barth als neuorthodoxen Offenbarungspositivisten gelesen, der vom Leser und Christen verlange, die Vernunft an der Garderobe der Dogmatik abzugeben und ein „Friss Vogel oder stirb“ zu akzeptieren, so einmal kritisch Dietrich Bonhoeffer, oder man kann Barth als Erneuerer einer Bekenntnistheologie, als Wiederentdecker der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse und einer an ihnen orientierten dogmatischen Sprache feiern - so viele Barthverehrer nicht nur, aber vor allem in den USA (George Hunsinger zum Beispiel, der Barth zugleich für seine politische Ethik bewundert).

Sublimer Modernisierungsversuch?

Man hat Barth als dezidiert antiliberalen Theologen, geradezu als theologischen Fundamentalisten verstanden, ja seine Dogmatik als theologisches Pendant zum politischen Totalitarismus dekonstruiert, so die Münchner Theologen Falk Wagner und Friedrich Wilhelm Graf. Oder man kann ihn als sublimen Modernisierungsversuch der Theologie mit den Mitteln einer selbst-kritischen Moderne, als theologische Rekapitulation des Grundprinzips der Moderne, „Autonomie/Selbstbestimmung“, an der Position Gottes selbst (Trutz Rendtorff) deuten, als eigenständige theologische Variante der geistesgeschichtlichen Turns zur Sprache und zur Performanz in den Zwanzigerjahren (Lynn Poland, Georg Pfleiderer), als Repräsentanten einer bewussten Selbstbegrenzung der Theologie in Zeiten eines post-modernen Vernunftpluralismus (Thies Gundlach), als Wiederentdecker des christlichen Masternarrativs vom Bund Gottes mit dem Menschen und der Schöpfung (Hans Frei), in der verschmitzten, aktuellen Version von Ralf Frisch als großen augenzwinkernden Storyteller, der alle verbiesterte Wahrheitssuche der Theologie hinter sich lässt und den Menschen fröhlich zuruft „Alles gut!“ - oder wiederum ganz im Gegenteil als felsenhaften Verteidiger eines eschatologischen theologischen Realismus gegenüber den apologetischen Seichtheiten moderner Subjektivitätstheologie (Michael Welker und Schüler).

Warum wird bis heute so heftig um Karl Barth und die Deutung seiner Theologie gestritten? Antwort 1: Weil diese Theologie offenbar ebenso prägnant wie vieldeutig, ebenso antimodern wie modern ist. Antwort 2: Weil es bei diesem Streit nie nur um Karl Barth, also um einen markanten Fall neuerer Theologiegeschichte, sondern immer zugleich auch um die Gegenwart und Zukunft der Theologie, um die grundsätzlichen, normativen Fragen geht: Was ist heute die Aufgabe und notwendige Gestalt der Theologie? Und darüber hinaus: Wohin sollen sich Christentum und Kirche heute und in Zukunft entwickeln?

Dass das bis heute funktioniert, dass man im Medium von Deutungsstreiten über die Theologie Karl Barths sich über die eigene Gegenwart verständigen kann, ja, dass man, wie Ralf Frisch keck formuliert, von daher sogar behaupten darf, dass diese Theologie „ihre beste Zeit noch vor sich hat“, ist vielleicht tatsächlich das Beste und Ehrenvollste, was man vom Lebenswerk eines theologischen Gelehrten zu seinem 50. Todestag sagen kann.

Skeptisch gegenüber solchem Optimismus könnte allerdings stimmen, dass für Journalisten und Medienschaffende, dass für heutige Menschen - in der Mehrzahl ja Nachgeborene - das bei weitem Interessanteste an Karl Barth gar nicht seine Theologie ist und schon gar nicht deren Deutungspotenziale, sondern das private Dreiecksverhältnis, in dem er seit 1929 über dreißig Jahre lang in häuslicher „Not-Gemeinschaft“ und doppelter Bundes-treue mit Ehefrau Nelly und seiner Geliebten und Mitarbeiterin, Charlotte von Kirschbaum, gelebt hat.

Selbst die ehedem bildungsbürgerlich-seriöse Neue Zürcher Zeitung interessiert sich in ihrem Gedenkartikel zum 50. Todestag, der im Oktober erschien, fast nur dafür, und auch der verdienstvoll gutgemachte Dokumentarfilm von Peter Reichenbach hätte angesichts seiner starken Konzentration auf dieses Thema, wie Spötter meinen, statt „Gottes fröhlicher Partisan“ fast besser „Gottes fröhlicher Bigamist“ heißen sollen. Anders als in diesem Boulevard-Format scheint man Theologie heutigen Menschen nicht mehr zumuten zu wollen.

Nicht zu bestreiten ist: Barths Person und Privatleben bietet in der Tat genug Stoff für einen ergreifenden Roman. Den hat der Schriftsteller-Theologe Klaas Huizing soeben - über weite Passagen glänzend - geschrieben. Er bringt Normalleserinnen wie versierten Barthkennern den frommen Geisteshelden für einmal - zwar in dichterischer Freiheit, aber dadurch umso mehr - als Menschen aus Fleisch und Blut nahe; und das ist ja nicht schlecht. „Zu Dritt“ heißt der Roman - natürlich in hintergründig-ironischer Anspielung auf die Gedankenfigur, die für Barths dogmatische Theologie schlechterdings konstitutiv ist: die Trinitätslehre. Die hintergründige Anspielung ist dabei ihrerseits vordergründig, also nicht ernsthaft gemeint: Einen Schlüssel zu Barths Theologie versucht Huizing aus Barths privater Ménage-à-trois auch in seinem parallel erschienenen theologischen Annäherungsversuch an «Gottes Genossen» nicht zu basteln (siehe auch Seite 36).

Permanente Selbstüberholungsdynamik

Dabei wäre das - bei aller gebotenen Vorsicht - durchaus reizvoll und im Wortsinne erschließungskräftig! Wer sich nämlich etwas intensiver mit Barths Theologie und ihrem Entwicklungsgang beschäftigt, kann zum Schluss kommen, dass die eigentliche Musik dieser Theologie, aber auch ihr eigentliches, überwiegend verborgenes Problem, das zugleich wiederum für die permanente Selbstüberholungsdynamik dieses theologischen Unruhegeistes verantwortlich ist, weder in der Gotteslehre, noch in der Christologie und Anthropologie, sondern an der Stelle des Dritten im Bunde spielt, trinitarisch: an der Stelle des Heiligen Geistes. Für diese Deutungsthese gibt es einen starken Zeugen: Barth selbst. In einem berühmten, in seinem Todesjahr veröffentlichten „Nachwort“ zu einer Auswahlsammlung von Texten seines großen Antipoden Friedrich Schleiermacher schreibt er: „Alles, was von Gott dem Vater und Gott dem Sohn . zu sagen ist, wäre in seiner Grundlegung (!) durch Gott den Heiligen Geist, das vinculum pacis inter Patrem et Filium (Band des Friedens zwischen Vater und Sohn), aufzuzeigen und zu beleuchten.“

Dabei hatte Barth offenbar nicht nur den aus Altersgründen nicht mehr geschriebenen letzten, pneumatologischen Teil seiner Kirchlichen Dogmatik vor Augen, sondern wie der Hinweis auf die Grundlegungsproblematik zeigt, eine - neuerliche - Revision seines Ansatzes.

Die Dialektik der Theologie Karl Barths, die nicht umsonst seit den Zwanzigerjahren „dialektische Theologie“ genannt wird, ist in der Tat eine, die mit starken, strukturell eigentlich unversöhnlichen Gegensätzen arbeitet (und darum bis heute permanent Auslegungsgegensätze erzeugt!); gut reformiert: Finitum non capax infiniti (das Endliche kann das Unendliche nicht aufnehmen). Menschliche Subjektivität, menschliche Religion, aber auch menschliche (liberale) Religions-Theologie (Schleiermacher) stehen Gott, der absoluten Subjektivität, seiner Selbst-Offenbarung und einer darauf und einseitig nur darauf sich abstützen wollenden Theologie (Karl Barth) diametral und scheinbar unversöhnlich gegenüber.

Und doch geschieht ja das Wunder: Gott wird Mensch. Im Christuspunkt berührt die „Tangente den Kreis“ und von da aus erzeugt Gott eine Heils-, eine Bundesgeschichte mit dem Menschen. Auf die kann man allerdings nicht von außen wie ein Zuschauer blicken, sie ist nicht real wie ein Stein oder Baum real ist, und ist doch „das allerrealste Wesen“. Man kann nur an ihr teilhaben, sie glauben. Das aber geschieht ubi et quando visum est Deo (wo und wann Gott will).

Barths schroffe dialektische Abgrenzungstheologie ist in Wahrheit eine weiche, werbende Einbeziehungstheologie, ein Lamm im Wolfspelz, eine theologische Bewegung, eine Dialektik als Dialogik mit der Leserin und dem Leser. „Es scheint.“, so kommentiert Barth 1922 die lange Grußliste am Ende des paulinischen Römerbriefs, „.dass es einmal ein Publikum gegeben hat, dem man den Römerbrief zumuten konnte, dem er eine Antwort auf seine eigenen Fragen war.“

Es scheint, dass diesem Publikum die Theologie (diese Theologie!) ohne weiteres das aktuelle Thema war. Es scheint, dass diese Geister sehr freie, sehr weite, sehr bewegliche Geister waren. Wir wundern uns über dieses Publikum mehr als über die anderen historischen Probleme, die uns durch den Römerbrief etwa gestellt werden. Auch um Barths Theologie heute zu verstehen, braucht es offenbar „freie Geister“ im Sinne Nietzsches. Vielleicht freiere, als Barth sie unter seinen kirchlich-neoorthodoxen Verehrern früherer Zeiten gefunden hat.

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Georg Pfleiderer

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