Kein Gottesurteil

Der Erste Weltkrieg als Knotenpunkt theologischer Biografien
Karl Barth (1886-1968). Foto: epd
Karl Barth (1886-1968). Foto: epd
Krieg ist ein Bankrott der Politik, kein Gottesurteil. Deshalb werden sich Christen in politische Debatten mit Argumenten einmischen, doch niemals wieder politische Tatsachen zu Heilstatsachen erheben, wie es im Ersten Weltkrieg geschah. Der evangelische Militärbischof Sigurd Rink zeigt hundert Jahre nach dessen Ende, wie prägend der Krieg für theologische Biografien war.

Zu behaupten, evangelische Theologen seien in die Urkatastrophe unserer Epoche verstrickt gewesen, den Ersten Weltkrieg, ist fast untertrieben: Hatten sie doch geistig am Verhängnis maßgeblichen Anteil. Und das „Kriegserlebnis“, wie immer es sich auch konkret gestaltete, wurde für theologische Biografien prägend wie die von Adolf von Harnack, Karl Barth, Emanuel Hirsch und Ernst Troeltsch. Allesamt zeigten sie – zumindest ursprünglich – eine dezidiert liberale Prägung. 1914 fühlten sie sich auf dem Hochfirst ihrer Zeit. Der „Geist von 1914“, die das Bürgertum erfassende Kriegsbegeisterung, wurde gerade unter dieser Voraussetzung zum Gemeingeist bürgerlich geprägter Theologie. Mit heutiger Erfahrung betrachtet, bestürzt die politische Korrumpiertheit. So erblickte der Hochschullehrer Adolf von Harnack (1851–1930) eine „europäische Verschwörung gegen uns“ und sah Deutschland der „Großmacht der internationalen Lügenpresse“ gegenüber. Für Reinhold Seeberg, später Doktorvater Dietrich Bonhoeffers, begründete der „deutsche Geist“ eine „Überlegenheit unter den Völkern“. Er meinte im Juni 1915, vor „voreiligem Frieden“ warnen zu müssen, die Dolchstoßlegende von 1918 vorwegnehmend; alle Schichten des deutschen Volkes einte die Furcht, es könnte „die Feder der Diplomaten verderben, was das Schwert siegreich gewonnen“. Unter Intellektuellen dominierte eine „deutsche“ Staatsauffassung, die Familie, Staat, Berufsstände dem Individuum überordnete und das westliche Konzept der Grundrechte als „fremdartig“ verwarf. Mehrheitlich teilten die Theologen die Autoritätsvergötzung der Bismarckära. Statt eines selbstbewussten Bürgertums repräsentierten sie jenen chauvinistischen Untertanen, dem der Schriftsteller Heinrich Mann mit seinem gleichnamigen Roman das Denkmal setzte.

Der 1886 geborene Karl Barth war als Schweizer schon objektiv ein Außenseiter. Nach Konflikten mit seinem pietistisch geprägten Vater fühlte er sich Deutschland und der liberalen deutschen Theologie nahe – ohne jedoch auf eigenes Urteil zu verzichten, was ihn zunächst fast verzweifeln ließ. Als deutsche Theologen den Krieg zur „ewigen Bewährung“ überhöhten, sah Barth sein humanes Anliegen verraten und schrieb empört: „Die absoluten Gedanken des Evangeliums werden einfach bis auf weiteres suspendiert, und unterdessen wird eine germanische Kampftheologie in Kraft gesetzt.“ Was für Barth (1886–1968) zusammenbrach, war die Synthese aus Kultur und Christentum. Das Christliche hatte in diesem Amalgam offenkundig nicht die Kraft besessen, die Völker vom großen Gemetzel abzuhalten. Sein Abarbeiten dieser theologischen Krise begann in einer fulminanten Exegese des paulinischen Römerbriefs, von der 1918 und 1921 zwei Fassungen erschienen. Besonders die zweite Auflage machte das dahingeschmetterte „totaliter aliter“ zu Barths Markenzeichen. Unter dem akuten Eindruck der geistigen Katastrophe Europas war der theologische Expressionismus des „Römerbriefs“ für Barth die Rettung: Radikale Reduktion auf das eine Motiv des „Gott ist anders“. Grobe, Vermittlung abweisende Schnitte zwischen menschlichem Wollen und Können einerseits, ewiger Wahrheit andererseits. „An den äußersten Rand“ alles Denkens zu treten, wo „der Mensch am Ende ist“, nur noch „Hohlraum“: Einzig das wahrte den Respekt vor dem Ewigen. Mehr als Durchgang konnte diese frühe Form der „dialektischen Theologie“ nicht sein – für Barth und viele seiner Generation war sie nötiger Durchgang, um ein neues Fundament zu finden, auf dem Glaube und Kirche wieder möglich würden.

Der gekreuzigte Christus als Ausdruck göttlicher Solidarität, das konnte Barth damals noch nichts sagen. Noch keimte kein Trost. Doch ein Not wendender Durchgang war es: Absage an bettelnde Apologetik, das Andienen des christlichen Gottes vor Welt und Kultur. Barth schuf sich Raum, um später ein die Vielfalt des Lebens bejahendes, sozialethisch konstruktives theologisches Konzept zu entfalten. Es blieb indes dabei, dass Gott in seiner Souveränität herabkommen muss und nicht das religiöse Gefühl ihn holt. Denn das wäre Anmaßung. 1933 begründete vor allem dies Barths Widerstand gegen die Überhöhung der „deutschen Stunde“. Barths Theologie behielt einen freiheitlichen Impuls – aus der Krise der Weltkriegserfahrung heraus.

Regimekritische Theologen im Ostblock, in der DDR Wolf Krötke oder Richard Schröder, in Ungarn Ervin Valyi-Nagy, bezogen sich selbständig weiterdenkend auf Barths Grundlage. Trotz berechtigter Kritik an einer gewissen Naivität Barths gegenüber dem realen Sozialismus stiftete seine Theologie östlich des „Eisernen Vorhangs“ geistige Befreiung. Barth konnte den humanen Kern der liberalen Ethik in sein reiferes Konzept hinüberretten, weil er ein „Objektives“ fand – Schriftzeugnis und kirchliches Bekenntnis –, woran er sich im Lauf der Zeiten kritisch orientierte.

Sein Generationsgenosse Emanuel Hirsch (1888–1972) dagegen verlor sich geradezu exemplarisch in der „Dialektik der Aufklärung“, um einen später von Max Horkheimer und Theodor Adorno geprägten Begriff zu verwenden. Das liberal-theologische Abschütteln religiöser Bevormundung trieb Hirsch letztlich in die Fänge des politischen Totalitarismus. Bei ihm, der 1914 körperlicher Gebrechlichkeit wegen nicht Soldat werden durfte, waren sicherlich auch persönliche Unsicherheiten und Verletzungen von Einfluss. Den physischen Makel überspielte er mit ideologischem Übereifer. Die Schreibmaschine nannte er „mein Maschinengewehr“. Der Drang des sich ausgeschlossen Fühlenden, am Schicksal der Nation teilzuhaben und mitzuwirken, wird Hirschs Rolle in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus bestimmen. Erschütternd liest sich eine Episode aus dem Ersten Weltkrieg, mit der Hirsch sich 1936 brüstete. Als Seelsorger im Südschwarzwald habe er einer Soldatenmutter das „egoistische“ Gebet um die gesunde Heimkehr des im Feld stehenden Sohnes abgeschlagen; die Frau solle für den Sieg der deutschen Waffen beten und dafür auch das höchste Opfer bereitwillig erbringen. Lange vor 1933 ist die nationale Schicksalsgemeinschaft für Hirsch die totale Lebensordnung, der er alles unterordnet.

In einer Predigt tönt der zum Kriegsdienst Untaugliche 1914: „Krieg ist ein Gottesurteil, aber nur das Volk hat das Recht, dieses Gottesurteil zu fordern, das bereit ist, sich nötigenfalls in diesem Kriege zu verbluten.“ Signifikant ist das Ineinander der aufklärerisch-liberal durchgehaltenen theologischen Prägung Hirschs und seines politischen Engagements. Der systematische Zweifel ist ihm der freien Erkenntnis dienendes, notwendiges Werkzeug. Anders als Barth, der die liberale Theologie unter dem Eindruck des Krieges als ungenügend verworfen hat, will Hirsch auf den Grundlagen einer programmatisch „modernen“ Theologie weiter aufbauen. Genau dieser Zeitbezug erweist sich jedoch als Einfallstor für totalitären Zeit- geist. Vor der Ideologie des Nationalsozialismus – und zuvor des Nationalismus im Kaiserreich – versagt Hirsch das kritische Instrumentarium, das er auf Bibel und kirchliches Bekenntnis doch konsequent anwendet. Im Nationalsozialismus erblickt er distanzlos ein Werkzeug der „Vorsehung“. Die Zeit- und Umstandsbedingtheit aller geistigen und politischen Erscheinungen wird ausgeblendet, die Forderung der „deutschen Stunde“ ist absolut. So zerstört Hirsch die emanzipatorische Komponente der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, die es politischer Macht verwehrt, das Gewissen der Menschen zu fordern.

In der Niederlage von 1918 und dem folgenden politischen Chaos findet Hirsch Indizien der Auserwähltheit des deutschen Volkes. Durch den Untergang der als geborgen erlebten Welt des Kaiserreichs und den Verlust aller bisherigen Werte hindurch offenbare sich der verborgene Gott: „Menschliches Leben kann nur da menschlich sein, wo es die heilige Bindung ehrt und vollzieht, in der es Gott gestiftet hat. Und wo wir heute von Blut und Boden, von Rasse und Vererbung, von Opfer und Pflicht reden, da reden wir von ihr.“ Wo Barth die prophetische Aussage wagt, das „Riesenreich Adolf Hitlers“ werde daran zu Schanden gehen, „dass Gott einer ist“, erhebt Hirsch „Volksgemeinschaft“ und „Kameradschaft“ zum gültigen Ersatz vergangener christlicher Gewissheiten. Wo Barth 1914 die Außenseiterrolle des Nichtdeutschen annimmt, deutschen Ungeist identifiziert und im kritischen Prozess zu einer ethisch tragfähigen kirchlichen Theorie findet, begehrt Hirsch im Grunde lebenslang die Teilhabe am Kriegserlebnis.

An Hirsch, der seinen Platz in der „nationalen Bewegung“ stets angestrengt verteidigte – zum körperlichen Defizit kam der jüdisch klingende Name, der im rechtsnationalen Milieu wiederholt Anspielungen provozierte –, wird auf tragische Art deutlich, wie die gesuchte Überwindung religiöser Mythen erst recht anfällig machen kann für eine irrationale Weltsicht. 1945 aus dem Lehrbetrieb ausgeschieden, verdankte Hirsch seine in Teilen der Theologenschaft fortdauernde Popularität einer gewissen Partisanenrolle. Gegenüber dem in Landeskirchen und theologischen Fakultäten eine nicht immer wohltuende Vorherrschaft erlangenden „Barthianismus“ markierte Hirsch eine Subversivität, die junge Köpfe anzog. Zur seriösen Auseinandersetzung mit seiner Lehre half das nicht. Die Stilisierung zum „Opfer“ und „Kriegsverlierer“ überdeckte auch Hirschs unbelehrbare politische Haltung. Ausdrücklich zog er das Sowjetsystem dem angelsächsischen Individualismus vor, der das „deutsche Wesen“ bedrohe.

Es lohnt schließlich, noch den Weg eines etwas älteren liberalen Theologen zu würdigen, der Hirschs politische Sackgasse zu meiden verstand. Ernst Troeltsch (1865–1923) hatte maßgeblich zu der Kirche und Theologie erfassenden Kriegsbegeisterung beigetragen. Die „deutsche Freiheit“ definierte er als „Staatssozialismus“, in bewusster Abgrenzung zum westlich-demokratischen Grundrechtsstaat. Freiheit gebühre primär dem „Leben des Volksganzen“. Für Troeltsch waren die Deutschen „ein monarchisches Volk, dem ohne starke Führung weder die Reichsgründung noch der Aufstieg zum Industriestaat gelungen wäre“, zudem „ein militärisches Volk“, „arbeitsam“ und „pflichtbewusst“, mit strengem „Einordnungssinn“ ausgestattet. Im Verlauf des Krieges erwies Troeltsch sich aber als lernfähig. Zum Wilhelminismus immer mehr auf Distanz gehend, plädierte er früh für einen Verständigungsfrieden. Anders als viele Intellektuelle sah er die Weimarer Republik positiv. 1918 trat er der liberalen Deutschen Demokratischen Partei bei, wurde Abgeordneter der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung und Unterstaatssekretär im preußischen Kulturministerium. Im März 1923 sollte er als einer der ersten deutschen Wissenschaftler nach dem Krieg eine Vortragsreihe in London, Oxford und Edinburgh halten. Dazu kam es nicht mehr, denn Troeltsch starb plötzlich im Februar 1923 in Berlin.

Weitere bittere Erfahrungen brachten die deutschen evangelischen Kirchen nach 1945 zu einer weitgehend konsensualen neuen Sicht ihrer öffentlichen Verantwortung. Die Berliner Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche wurde zum Mahnmal eines fehlgegangenen Nationalprotestantismus und zum Aufruf, Konflikte künftig rational und möglichst gewaltlos zu regeln. Christen werden „der Stadt Bestes“ suchen, sich in politische Debatten mit Argumenten einmischen, doch niemals wieder politische Tatsachen zu Heilstatsachen erheben. Kirche will Verantwortung kritisch mittragen – wozu auch die seit 1957 geltende Struktur der Seelsorge in der Bundeswehr gehört. Krieg ist ein Bankrott der Politik, kein Gottesurteil. Das Evangelium verleiht aber Geduld und Grundvertrauen in politischen Auseinandersetzungen. Im Rückblick auf die ein Jahrhundert zurückliegende theologische Krise heißt die Devise: Mit der Dialektischen Theologie über diese hinaus! Einerseits ist selbstbewusst festzuhalten, dass Kirche einen Auftrag hat, der „jenseits“ aller Politik gründet. Andererseits gilt es, der liberalen Diskursoffenheit ihr relatives Recht zu sichern. Dabei muss die Theologie freilich gegenüber politischen Positionen und gesellschaftlichen Moden so kritisch auftreten wie gegenüber ihrer religiösen Tradition.

Sigurd Rink

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