Sprechhandlungen

Hermeneutik des christlichen Glaubens
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Fast ein Jahrhundert nach Heideggers Sein und Zeit und siebzig Jahre nach Bultmanns Theologie des Neuen Testaments liegt nunmehr die Analyse des gläubigen Daseins vor.

Wenn Ingolf U. Dalferth in diesem Buch vom religiösen Ereignis spricht, dann geschieht dies oft mit dem in der Hermeneutik angesagten Wort „Widerfahrnis“. Wer gerade vom Glauben spricht und im Glauben sprechen möchte, sollte sich dessen bewusst sein und bleiben, dass ihm der Glaube widerfahren, also gegeben ist. Somit geht es in der Hermeneutik des christlichen Glaubens um das „Eingebettetsein“ menschlichen gläubigen Verstehens in das Sich-selbst-Verstehen Gottes als Schöpfer des Menschen. Nach dem genetivus subjectivus ist das Verstehen Gottes eingebunden in die göttliche Selbstauslegung, und nach dem genetivus objectivus wird Gott vom Menschen als der verstanden, der ihn geschaffen und zum Glauben bestimmt hat.

Der Glaubende unterscheidet sich aktuell von Gott und distanziert sich von seinem aus der Tradition übernommenen und gar selbst entwickelten Selbst-und Weltverständnis. Seine Unterscheidung befähigt ihn zur Entscheidung für Gott. Glaube versteht sich demnach nur mit Freiheit und wird aus Liebe zum Schöpfer und zu seinen Geschöpfen aktiv. In Widerfahrnis des Glaubens wird ihm das Erlebte und Erfahrene, wie das aus der Erfahrung Ermittelte, kritisch hinterfragbar.

Gerade um das Verstehen Gottes als den, der überhaupt erst wirklich und wahrhaftig verstehen lässt, genauer zu erfassen, ist es für eine theologische Hermeneutik geboten, ihr genuines Verstehen mit einem allgemeinen Begriff dessen, was und wie vom Menschen verstanden werden kann, in einem historischen Durchgang zu vergleichen. So richtet sich das genuine Unterscheiden des Verstehens auch auf dieses selbst und auf dessen verschiedene (philosophische und theologische) Modalitäten. Dalferths Darstellung thematisiert dabei das Grundmedium, in dem sich menschliches Verstehen stets bewegt: die Sprache. Der Leser dieses Buches erfährt, wie und weshalb sich die Sprachwissenschaft als eine paradigmagische Disziplin des 20. Jahrhunderts von der rein deskriptiven (Strukturalismus) zu einer erklärenden generativ konzipierten Wissenschaft (Noam Chomsky) und zuletzt gar auf einen handlungsgeleiteten Begriff der kommunikativen Kompetenz (Jürgen Habermas) hin entwickelte.

In drei großen Kapiteln beweist Dalferth seine umfassende linguistische und hermeneutische Kompetenz, um seine Leser in die epochale Bedeutung der Sprachwissenschaft für das 20. Jahrhundert einzuführen, wie man sie in einer theologischen Monographie nicht unbedingt erwartet hätte. Im letzten Kapitel seines Buches kann der Züricher Hermeneutiker dann davon überzeugen, wie wichtig für den stets sachgerechten Gebrauch christlicher Rede die Kenntnis sprachwissenschaftlicher Einsichten werden kann. So kritisiert er es, wenn in liturgischer Praxis, um die Wirkmächtigkeit von Sprechhandlungen zu behaupten, von der hermeneutischen Differenz zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden abgesehen und die religiöse Wirkung schon ganz dem sprachlichen Vollzug zugetraut wird.

Hier müssten stets die sprachliche Regel und die Regel des Glaubens differenziert werden. So genannte perlokutionäre Sprechakte seien zwar im Blick auf das, was sie zeigen wollen, wirksam, aber damit sie religiös effektiv werden können, bedürfen sie des Heilshandelns dessen, auf den sie lediglich hinweisen. Sie sind als menschliche (kirchliche) Sprachhandlungen ganz auf ein überlegenes Handeln angewiesen. Sie verweisen auf das, was nur von Gott her wirklich und wahr werden kann. Gegen die modische Wiederkehr magischen Verstehens ist festzuhalten: Rite vollzogen bedeutet noch nicht effektiv geworden. Im Gottesdienst werden keine Zauberformeln gesprochen. Fast ein Jahrhundert nach Heideggers Sein und Zeit und siebzig Jahre nach Bultmanns Theologie des Neuen Testaments liegt nunmehr die Analyse des gläubigen Daseins vor.

Friedrich Seven

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