Diverse Aufbrüche

Das Epochenjahr 1968: Vor fünfzig Jahren ging auch die Theologie neue Wege
Ostermarsch 1968 unter Beschuss in West-Berlin. Foto: BPK
Ostermarsch 1968 unter Beschuss in West-Berlin. Foto: BPK
War das Jahr 1968 auch theologisch ein uneingelöstes Versprechen? Vor fünfzig Jahren wurden Zweifel am Deutungsmonopol überkommener Traditionen in Theologie und Kirche laut. Ein Überblick von Alf Christophersen, Professor für Systematische Theologie an der Universität Wuppertal.

Das Jahr 1968 war auch ein Jahr der Bücher, in denen zeitdiagnostisch und mit Theorieangeboten auf die teilweise revolutionären Ereignisse reagiert wurde. Ein ambitionierter Gestaltungsanspruch ist dabei erkennbar. Fast alle der seinerzeit geführten Debatten haben nichts an ihrer Aktualität verloren, und die Brisanz der aufgeworfenen Problemlagen steht immer noch im Raum, ja hat sich womöglich sogar verschärft. Wer kritisch zurückblickt, begegnet permanent drängenden Rückfragen an das eigene theologische und gesellschaftspolitische Selbstverständnis, die sich nicht mit einem Verweis auf die vermeintlich ausgleichende Macht der Geschichte beruhigen lassen. Zweifel am Deutungsmonopol überkommener Traditionen und Konstrukte wurden zeitgleich vielfach laut, nicht selten kombiniert mit der Aufforderung, nun endlich das Handeln, die Aktion an die Stelle eines womöglich restaurativen Festhaltens am Bestehenden treten zu lassen.

So veröffentlichte Dorothee Sölle 1968 unter dem dialektisch gestimmten Titel „Atheistisch an Gott glauben“ einige „Beiträge zur Theologie“, die zuvor schon an anderen Orten erschienen waren und ihr Provokationspotenzial unter Beweis gestellt hatten. Es war das Jahr, in dem auch die ökumenisch ausgerichteten Politischen Nachtgebete ihren Anfang nahmen. Sie lebten von Sölles Ausstrahlungskraft, waren Forum für den Aufruf, nicht passiv in der Beobachterperspektive zu bleiben. Bei ihrer Suche danach, wie es möglich sein kann, atheistisch an Gott zu glauben, behauptet Sölle die Präsenz Christi im Leid, das den Unschuldigen widerfährt. So gehöre Vietnam in die Karfreitagsliturgie hinein, um von der Gegenwart des Kreuzes sprechen zu können. „Als Erinnerung an ein vergangenes Ereignis wäre sie unwahr, als Gegenwart genommen lehrt sie uns, unsere Welt besser zu verstehen: sie gibt dem Schmerz in der Welt seine Würde“, so dass er nicht gegen Ziele ideologischer, politischer oder auch wirtschaftlicher Art verrechnet werden könne. Sölle vertritt ein Primat der Praxis und bejaht die selbstgestellte Frage die Unwahrhaftigkeit der modernen Gesellschaft und ihre vielfach heuchlerische Moral und Politik bloß.

Wenn davon die Rede war, die Theologie müsse auf die weltweiten Not- und Konfliktlagen revolutionäre Antworten entwickeln, stieß dies naturgemäß auf Widerstand. Dabei blieb es nicht nur bei stiller Reserve, sondern auch konstruktiv wurde versucht, dem eingeübte Standpunkte und Haltungen verunsichernden Phänomen zu begegnen. Mitten in die Debattenlage hinein veröffentlichen Trutz Rendtorff und Heinz Eduard Tödt 1968 in der symbolträchtigen edition suhrkamp „Analysen und Materialien“ zur „Theologie der Revolution“. Sie unterstreichen den globalen Zuschnitt und weisen zumal auf den südamerikanischen Zusammenhang hin. Rendtorff attestiert den Bemühungen der theologischen Revolutionäre ein erhebliches Theoriedefizit, das kaum vom „Handlungsdruck der geschichtstheologischen Atmosphäre“ ausgeglichen werden könne. Er erkennt Analogien zu der in der Weimarer Republik geführten Debatte um die Dialektische Theologie, in der es um die Absolutheit der alles Weltliche durchbrechenden Souveränität Gottes ging. Die von ihm in kritischer Zeitgenossenschaft analysierte „Theologie der Revolution“ charakterisiert er als Ineinander verschiedenster, sich durchaus auch widersprechender Elemente. Sie sei eine „politische Theologie“ und eine öffentliche, auf das Gemeinwesen bezogene. Rendtorff stuft sie als offenbarungstheologisch ein und erkennt aufklärungstheologische Züge, gleichzeitig aber auch einen „Zug zur Irrationalität“. „Im Effekt“, gibt er sich sicher, „neigt sie einer linken Orthodoxie zu“. Entscheidend ist für ihn, dass in den theologisch revolutionären Anläufen, zeitdiagnostische Problemstellungen zugespitzt und dringlich so zum Ausdruck kommen, dass unabweisbare Grundfragen berührt werden.

Besonders fasziniert Rendtorff der spannungsreiche Zusammenhang von Revolution und Ethik, den prominent Herbert Marcuse aufgerufen hatte. Was geschieht eigentlich, wird jetzt etwa erörtert, jenseits der Revolution? „Muss aber überhaupt die Frage einer nachrevolutionären Ethik aufgeworfen werden – und das ist unumgänglich, wenn man sich nicht mit Utopien begnügen will – dann erweist sich die Ethik als wichtiger denn die Revolution.“ Die Debatte war eröffnet.

Auch Joseph Ratzinger setzte sich in seiner „Einführung in das Christentum“ den Zeitumständen kritisch aus. „Die Frage, was eigentlich Inhalt und Sinn christlichen Glauben sei“, setzt er ein, „ist heute von einem Nebel der Ungewißheit umgeben wie kaum irgendwann zuvor in der Geschichte.“ Die Lage erinnere ihn an das Märchen von „Hans im Glück“: Aus dem Goldklumpen wird nach und nach schließlich ein Schleifstein. Geht, lautet Ratzingers Frage, die gegenwärtige Theologie einen entsprechenden Weg, auf dem sie den „Anspruch des Glaubens“im Verlauf permanenter Interpretationen verliert? Und wenn dies der Fall ist, was passiert dann? Wie erging es eigentlich dem zunächst glücklichen Hans im „Augenblick des Erwachens“? Das Märchen schweigt sich aus. Ratzinger zumindest will dem Desaster zuvorkommen und dazu beitragen, „den Glauben als Ermöglichung wahren Menschseins in unserer heutigen Welt neu zu verstehen“. Er begibt sich deshalb auf die Spur „Gottes in der Geschichte“, in der dem Glauben „Gott als Mensch“ begegne. Dabei grenzt sich der Tübinger Theologe massiv von Versuchen ab, den Glauben zum „Medium der Weltveränderung“ zu erklären. Verhängnisvoll sei es, ihn zu funktionalisieren. Es gebe eine Seinswahrheit, die weder im historischen Faktum noch im Machbaren aufgehe. Dagegen setzt Ratzinger die Begriffstrias „Sinn, Grund, Wahrheit“. Die zentrale Aufgabe sei es, im Glauben stehend, diesen zu verstehen. Werde in der Johannesoffenbarung das neue Jerusalem verkündigt, dann erscheine eine neue Welt, die keine Utopie sei, „sondern Gewißheit, der wir im Glauben entgegengehen“.

Ernst Bloch hat dem utopischen Denken wohl mehr zugetraut als Ratzinger, ja hat sein Potenzial nicht zuletzt im Ringen mit der Kraft des Atheismus ernster genommen. Als er 1961 der DDR den Rücken gekehrt hatte, setzte Bloch mit einer legendären Vorlesung in Tübingen neu an und stellte die von vielfältigen Desillusionierungsprozessen geprägte Frage in den Raum: „Kann Hoffnung enttäuscht werden?“ Bei seinen Antwortversuchen und Grabungen auf utopischem Terrain aktualisiert er dann auch ein Heraklit-Fragment: „Wer das Unverhoffte nicht erhofft, wird es nicht finden.“

Alf Christophersen

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