Entdeckung an der Grenze

Klartext
Foto: privat
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten in den kommenden Wochen stammen von Traugott Schächtele. Er ist Prälat in Schwetzingen.

Gute Lehrmeister

Miserikordias Domini, 15. april 2018

Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. (1. Petrus 5,2–3)

Die Kirche als Ort des herrschaftsfreien Miteinander aller Mitglieder, der Wohlhabenden und der Ärmeren, der Ehren- und der Hauptamtlichen, der Ordinierten und Nichtordinierten – ist das nur ein frommer Wunsch? Wenn Menschen mir von ihren Erfahrungen mit der Kirche berichten, schwingt häufig einiges an Enttäuschung mit. Demnach scheint sich die Kirche nicht allzu sehr von der Welt zu unterscheiden. Auch in der Kirche gibt es eben ein Oben und ein Unten, Macht und Ohnmacht, Sieger und Verlierer.

Verantwortung in der Kirche wahrzunehmen, ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen, das war wohl auch in der Kirche nicht selbstverständlich, auf die sich der Erste Petrusbrief bezieht, die gerade ein halbes Jahrhundert alt war. Ansonsten hätte es dieser Ermahnung durch einen uns unbekannten Theologen nicht bedurft. Dass er für sich die Autorität des Apostels Petrus in Anspruch nimmt, lässt auf den Ernst der Lage schließen, konkret: auf schwaches Führungspersonal.

Leiten heißt, nicht über andere zu herrschen. Und Verantwortung wahrnehmen, ist nicht ein unabwendbares Schicksal, das einem auferlegt ist, sondern oft eine ehrenvolle Aufgabe – durchaus mindestens so sehr Berufung wie Beruf. Und sie dient keineswegs dem Zweck, vor allem die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Faire Entlohnung auch in Kirche und Diakonie: ja! Aber eben nicht um „schändlichen Gewinns“ willen.

„Führen heißt zuallererst Vorbild sein“, hat mir einmal ein Unternehmer gesagt. Dieser Anspruch gilt aber nicht nur für die, die in der Kirche ein Leitungsamt haben, sondern für alle, die ihr Leben am Vorbild Jesu ausrichten. Insofern sind Kirche und Welt nicht voneinander zu trennen. Und die Kirche kann, was eine glaubwürdige Leitungskultur angeht, bei der Leitungsverantwortung gerade von der Erfahrung der Weltmenschen unglaublich viel lernen.

Reife Erkenntnis

Jubilate, 22. April

Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. (2. Korinther 4,16)

In Sitzungen überfällt mich manchmal eine bleierne Müdigkeit. Und daran ist nicht immer nur der Sauerstoffmangel schuld. Die Energien eines Menschen, das spüre ich dann, sind eben nicht unbegrenzt. So wie ich mir das Leben des Paulus vorstelle, seine Reisen und die Korrespondenz mit den zerstrittenen Gemeinden, bin ich sicher, dass es ihm auch nicht anders erging. Dass der Völkerapostel nicht müde wurde, kann ich ihm nicht so recht abnehmen. Jedenfalls schreibt er seinen Mitchristen in Korinth auch, dass er unter heftigen Schmerzen zu leiden hat. Und Schmerzen entziehen Energie. Diese Erfahrung dürfte nicht einmal einem Paulus erspart geblieben sein.

Ich vermute, dass aber genau in dieser Erfahrung der eigentliche Kern seiner Botschaft liegt: Mein Menschsein vollendet sich nicht darin, dass ich meine körperlichen Möglichkeiten perfektioniere. Denn Wellness braucht nicht nur der Körper, sondern genauso die Seele. Wer sich ein ums andere Mal die Haut straffen lässt, hält den Prozess der Alterung seiner Zellen nicht auf, sondern verdeckt ihn bestenfalls noch für eine Weile.

Was mich wirklich ausmacht, liegt im Kern meines Menschseins verborgen. Äußeres Welken und inneres Wachsen sind Prozesse, die sich in entgegengesetzter Richtung vollziehen, aber zusammengehören. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass in den Kirchen die Zahl der älteren Leute die der jüngeren in der Regel übertrifft. Manche Einsichten reifen eben erst bei zunehmender Dauer unserer Lebensgeschichte.

Diese Erkenntnis war schon zu Zeiten des Paulus nicht wirklich neu. Aber der Apostel macht sie sich auch theologisch zunutze. Er übersetzt sein Verständnis der Rechtfertigung aus der Sprache der Theologie in die Sprache menschlicher Erfahrung. Und das ist durchaus ein gewagtes Unternehmen – Missdeutungen nicht ausgeschlossen. Aber es ist faszinierend, meine Grenzen, die eher mehr werden, nicht als das Ende meiner Möglichkeiten zu deuten, sondern als Durchbruch zu einer neuen Lebensperspektive – und als Möglichkeit, Gott in den Labyrinthen meines Lebens immer neu zu entdecken.

Zweiter Blick

Kantate, 29. April

Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! (Apostelgeschichte 16,28)

Da sieht ein Gefängnisdirektor dem Scheitern seiner Lebenspläne ins Auge. Prominente Gefangene sind ihm zur sicheren Verwahrung anvertraut worden. Jetzt kann er sich bewähren und – an seinem beruflichen Aufstieg arbeiten. Doch alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Selbst die Natur. Denn ein Erdbeben bringt die Mauern des Gefängnisses zum Einsturz. Und was könnte Silas und Paulus, die beiden Gefangenen, davon abhalten, sich aus dem Staub zu machen?

Aus der Traum des Direktors vom weiteren Aufstieg. Also will er sein Leben wegwerfen. Denn seine Kraft reicht nicht aus, die Scham über das Versagen auszuhalten. Doch die Katastrophe verwandelt sich für ihn zu einem Wunder.

Es ist eine kleine Summe der Theologie, mit der Paulus den Gefängnischef von seinem Vorhaben abbringt. „Halte dein Leben ruhig fest. Wir machen uns nicht davon!“ Paulus und Silas agieren mit einer paradoxen Intervention. Sie fühlen sich frei, um im Gefängnis zu bleiben. Anstatt das eigene Leben in Sicherheit zu bringen, retten sie das ihres Kerkermeisters. Ja, Paulus bringt ihn auf diese Weise gewissermaßen zum Singen.

Dass der Gefängniskommandant plötzlich nicht mehr an seine militärische Kariere denkt, sondern seine Lebensgeschichte nun im Angesicht Gottes plant und die Gefangenen einfach mit nach Hause nimmt, verschafft der Geschichte ein Happyend. Aber ihr Dreh- und Angelpunkt liegt im nächtlichen Verlies. Dort übernehmen gleich drei Menschen Verantwortung für ihr Leben. Sie handeln gegen alle Vernunft und jede Erwartung. Aber am Ende hat es sich für alle ausgezahlt.

Es ist die Aufforderung zum zweiten Blick: Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Und schon gar nicht das Leben. Denn am Ende gibt es einen Grund zum Singen. Meistens jedenfalls.

Freie Hände

Rogate, 6. Mai

Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung! (Kolosser 4,2)

Viele Menschen, gerade Protestanten schließen beim Beten die Augen. Keinerlei Eindrücke von außen sollen sie ablenken und auf andere Gedanken bringen. Schließlich soll das Gebet innig sein. So führt es zur Konzentration auf sich selber und auf das, was dem Leben Sinn, Kraft und Orientierung gibt. Und es stellt Gott diejenigen, die uns am Herzen liegen, womöglich auch aus eigenem Interesse, vor Augen und ohne danach zu fragen, was für sie gut ist.

Mir gefällt die alternative Art zu beten, zu der der Verfasser des Kolosserbriefes rät. Beten, so schreibt er, heißt in besonders intensiver Weise wach zu sein. Und wach sein, meint, die Welt im Blick zu haben, Verantwortung wahrzunehmen, steuernd einzugreifen. Dies ist nicht nur ein Programm für eine Ausnahmesituation. Es ist vielmehr eine Lebenshaltung. Ausdauernd, beharrlich sollen Menschen in dieser Art und Weise der Welt begegnen – und sie verändern. Vielleicht droht das Beten bei uns ja auch deshalb aus der Mode zu kommen, weil wir ihm nichts mehr zutrauen und – weil wir uns nichts zutrauen.

Beten und die Verantwortung für unsere Welt wahrzunehmen, muss kein Gegensatz sein. Ja, Beterinnen und Beter sind besonders wach für das, was sich um sie herum tut. Das bedeutet nicht, Gott außen vor zu lassen und nur auf die eigenen Möglichkeiten und Kräfte zu setzen. Im Gegenteil. Eine Lebenshaltung, die die Welt nicht sich selber überlässt, kann nur durchhalten, wer weiß, dass er es nicht alleine richten muss. Denn für das Gelingen all dessen, was ich in diese Welt einbringe, steht am Ende ein anderer ein. Und je mehr ich aus der Hand gebe, was mich überfordert, desto mehr sind meine Hände frei, um Hand anzulegen. Wenn es eng wird mit meinen Kräften, kann ich meine Sinne immer noch nach innen lenken. Und dann gerne auch einmal die Augen schließen.

Enge Verbindung

Himmelfahrt, 10. Mai

Ich bin das A und das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige. (Offenbarung 1,8)

Leben heißt: Spannungen aushalten, Spannungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Interessen, zwischen dem, was man bis jetzt für richtig gehalten hat und was plötzlich auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, und auch Spannungen zwischen Irdischem und Himmlischem.

Der die Risse zwischen Gott und Mensch mit seinem Leben überbrückt, macht sich an Himmelfahrt davon – scheint es. Gott hatte sich für einige Zeit in die allzu irdischen Lebensumstände der Menschen eingemischt. Aber deren kurzzeitiges Hosianna wich dem „Kreuzige ihn“.

Gut, dass dann irgendwann alles ein Ende hat. Der, in dem Gott und Mensch zusammengehalten wurden, bringt sich wieder in Sicherheit – so will es der Bericht der Himmelfahrt Jesu uns vermeintlich glauben machen.

Aber der Anfang der Offenbarung des Johannes legt hier Widerspruch ein. Himmel und Erde bleiben untrennbar verbunden – über alle unterschiedlichen Denkoptionen hinweg und durch alle Zeiten hindurch. Alpha und Omega markieren die Weite dessen, was im Wirkradius Gottes möglichen ist – jenseits aller Möglichkeiten der Menschen. Gott nimmt sich nicht aus dem Spiel. Himmel und Erde bleiben vielmehr unentwirrbar ineinander verwoben – wie Gott und Mensch in dem einen, der hilft, den Blick in den Himmel zu richten. Himmelfahrt ist kein Orts-, sondern ein Perspektivwechsel. Dass alles Gute „von oben“ kommt (Jakobus 1,17), ist keine Vertröstung, sondern eine (Über-)Lebensgarantie. Und ein Argument, den Himmelfahrtstag nicht verkommen zu lassen.

Denn seit Himmelfahrt wächst zusammen, was beieinander bleiben muss – gerade wenn die Lebensumstände nicht himmlisch anmuten.

Traugott Schächtele

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