Inmitten von Normalos

Kirchliche Perspektiven in einer rein weltlichen Welt
Die Zeit, dass die Kirchen den öffentlichen Diskurs allein bestimmen, ist vorbei. Protest der religions-kritischen  Giordano-Bruno-Stiftung gegen den Reformationstag als Feiertag, Bonn 2017. Foto: EKD/ Meike Boeschemeyer
Die Zeit, dass die Kirchen den öffentlichen Diskurs allein bestimmen, ist vorbei. Protest der religions-kritischen Giordano-Bruno-Stiftung gegen den Reformationstag als Feiertag, Bonn 2017. Foto: EKD/ Meike Boeschemeyer
Wo steht die evangelische Kirche in der Gesellschaft der Gegenwart? Diese Frage wird derzeit oft mit Hilfe des Paradigmas der Säkularisierung beantwortet. Horst Gorski, Vizepräsident im EKD-Kirchenamt und Leiter des Amtes der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), geht dieser These nach und plädiert für konzentrierte, aber unaufgeregte Modernität.

Saeculum“ ist das lateinische Wort für „Zeitalter“. „Säkular“ wurde zum Begriff für alles, was zur „zeitlichen“ im Gegensatz zur „geistlichen“ Welt gehört. So wurde Säkularisation zur Bezeichnung der Übereignung von Kirchengütern an den Staat am Anfang des 19. Jahrhunderts. Max Weber begründete dann Anfang des 20. Jahrhunderts das Narrativ, wonach Säkularisierung die fortschreitende und unumkehrbare Entfernung des modernen Menschen von der Religion als Folge der Entzauberung der Welt durch Aufklärung und Industrialisierung bedeutet. Dieses Narrativ steht – mit Varianten – im Hintergrund, wenn heute gesagt wird, die Säkularisierung unserer Gesellschaft schreite voran, immer weniger Menschen gehörten einer der beiden großen Kirchen an, immer weniger Menschen glaubten an ein Leben nach dem Tod oder an die Auferstehung. Mit dieser Beschreibung wird die evangelische Kirche in eine Defensivposition gestellt, denn sie soll erklären, warum gegen den fortschreitenden Prozess der Entkirchlichung eben kein Kraut gewachsen sei.

Gegen die Säkularisierungstheorie ist manches eingewandt worden, unter anderem die Tatsache, dass Religion auch 300 Jahre nach dem Beginn der Aufklärung und 200 Jahre nach dem Beginn der Industrialisierung immer noch nicht ausgestorben ist. Auch wird eingewandt, dass Entzauberung und Säkularisierung unklare Begriffe seien, Metaphern eigentlich, die das Gemeinte nur andeuteten, aber nicht erklärten. Und schließlich scheint Säkularisierung in dem beschriebenen Sinne ein auf Mitteleuropa konzentriertes Phänomen zu sein.

Auf der EKD-Synode in Bonn im November 2017 hielten Detlef Pollack und Lucian Hölscher Impulsvorträge zur Auswertung des Reformationsjubiläums unter der Überschrift „Zukunft auf gutem Grund“. Während Pollack eine Variante der Weberschen Säkularisierungsthese vertrat und der Kirche ins Stammbuch schrieb, sie sei „einer Vielzahl von säkularen Prozessen ausgesetzt“ und deshalb „schon seit langem nicht die Herrin ihres Schicksals“ hielt Hölscher dagegen: Mit diesem Konzept ziehe die Kirche „eine falsche Grenze zwischen Innen und Außen“; ja, sie habe sich einen „Popanz“ aufgebaut, gegen den sie den Kampf weder gewinnen kann noch gewinnen sollte. Die säkulare Gesellschaft sei nicht das Gegenüber der Kirche, sondern das Forum, innerhalb dessen sie sich zu bewähren habe; sie sei damit auch „Ideenspender und Partner im Streit um die normativen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens“.

Neben diese beiden Ansätze ließen sich weitere stellen. So kann man fragen, ob es angesichts der Bedeutungsvielfalt und der begrifflichen Unklarheit überhaupt sinnvoll ist, das Säkularisierungsparadigma zu bemühen. Mindestens aber ist es notwendig, dass die evangelische Kirche ihr Säkularisierungsnarrativ und damit ihr Verhältnis zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft klärt. Was zumeist als eine Krise der Kirche in der Gegenwart verstanden wird, ist zunächst ein Umformungsprozess des christlichen Glaubens, der vor etwa 300 Jahren begann. Mit dem Übergang vom Alt- zum Neuprotestantismus, beziehungsweise mit der Auflehnung von Aufklärung und Pietismus gegen die orthodoxe protestantische Theologie um 1700, vollzog sich eine Transformation, die mindestens ebenso entscheidend für den Protestantismus war wie die Reformation selber.

Diese Transformation führte die geistesgeschichtlich noch dem Mittelalter zuzurechnenden Spuren der Reformation in die Moderne. Diese Transformation ist es, die das Evangelium mit den modernen Begriffen von Freiheit, Toleranz und dem modernen Verständnis der Partizipation aller an gleichen Rechten zu versöhnen suchte. Was wir heute üblicherweise als Identitätsmarker des Protestantismus ansehen, entstand in dieser Zeit. Anthropologie und Soteriologie wurden unter Absehung von der Erbsündenlehre reformuliert, denn die Menschen trieb nicht mehr vordringlich die Angst um, als Sünder nicht vor Gott bestehen zu können, sondern sie fürchteten, in den nun offen stehenden Möglichkeiten eines freien Lebensentwurfes den Sinn ihres Lebens zu verfehlen.

Unter den Vertretern des Neuprotestantismus ist Ernst Troeltsch (1865–1923) sicherlich der konsequenteste Denker. In seinem Aufsatz „Luther und die moderne Welt“ von 1908 sieht er den Kern der Theologie Luthers in einer neuen Gottes-idee, nämlich, dass der Glaube an Gott zum Wesen des Menschen gehöre und dass das „Wesensverhältnis von Gott und Kreatur … von Hause aus eine innere Lebenseinheit“ ist. Von diesem Kerngedanken baut er Brücken zum Individualismus und der auf Diesseitigkeit ausgerichteten Existenz des modernen Menschen. Die uns heute beschäftigende Aufgabe der Reformulierung religiös-theologischer Begriffe ist also nicht neu. Sie wurde bereits in dieser Traditionslinie des Neuprotestantismus um 1900 entschieden aufgegriffen.

Karl Barths Römerbriefkommentar von 1919 war dann das Fanal zur Desavouierung aller theologischen Richtungen, die in der Tradition von Neuprotestantismus, Kulturprotestantismus oder liberaler Theologie standen. Ihnen wurde eine „Wort-Gottes-Theologie“ gegenübergestellt, die keinen religiösen „Anknüpfungspunkt“ beim Menschen für das Evangelium kennt, sondern den Ruf Gottes als des „ganz Anderen“ dem Menschen in seiner Existenz gegenüberstellt. Mit dieser Wende zur Wort-Gottes-Theologie wurden das Evangelium und seine Kommunikation in den Mittelpunkt gerückt; es wurde aber gleichzeitig ein Jahrhundert neo-orthodoxer Theologie eingeleitet in dem Sinne, dass Theologie als lehrmäßige Entfaltung des Bekenntnisses verstanden wurde.

Der restaurativ-absichernde Charakter dieser Theologie entsprach vermutlich der Erschütterung der Menschen, die nach zwei verheerenden Weltkriegen nach Halt suchten. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis theologische Ansätze sich wieder dezidiert auf neuprotestantische Traditionen bezogen, so etwa Wolfhart Pannenberg oder Trutz Rendtorff, der in seiner Ethik ausdrücklich an Ernst Troeltsch anknüpfte. Falk Wagner, Ulrich Barth, Friedrich Wilhelm Graf, Wilhelm Gräb – es wären etliche am Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zu nennen. Im Fokus dieser Theologien steht, Lebensdeutungskompetenz sowohl für die persönlichen Sinnfragen als auch für die gesellschaftlich-sozialethischen Fragen unter den Bedingungen der Moderne zu gewinnen.

Nachfolge als Option

Auch die Vertreter der Wort-Gottes-Theologie standen vor der Frage, wie die Botschaft des „ganz Anderen“ die Menschen ihrer Zeit erreicht. Vielleicht hat das niemand deutlicher empfunden und radikalere Konsequenzen daraus gezogen als Dietrich Bonhoeffer. Er attestierte den Menschen seiner Zeit eine Gleichgültigkeit gegenüber der Religion, die ihn nach einem „religionslos-weltlichen“ Verständnis des Christentums suchen ließ. Gott als metaphysische Wirklichkeit sei mit Christus am Kreuz gestorben: „Vor Gott und mit Gott leben wir ohne Gott.“ Weil Gott in Christus Mensch geworden ist, lasse sich nur weltlich von Gott reden. Für das christliche Leben bedeute dies als einzige mögliche Option: „Nachfolge“; für die Kirche, dass sie „für andere“ da sei. Anders als beim Säkularisierungsparadigma der Weberschen Tradition werden in dieser Traditionslinie Kirche und säkulare Gesellschaft nicht einander gegenübergestellt, sondern der Kirche wird die Aufgabe zugewiesen, selbst „säkular“ zu werden. Das bedeutet für sie aber keinen Verlust des Kerns ihres Glaubens, sondern im Gegenteil dessen Reformulierung als Glaube an die radikale Ankunft Gottes in der Welt in Jesus Christus. An diesen Gedanken haben etliche Theologen in der Nachkriegszeit angeknüpft, zum Beispiel Gerhard Ebeling (1912–2001).

Nach dem Reformationsjubiläum 2017 stehen wir also an sich vor keiner neuen Frage. Auch dies spricht dafür, Verfallsrhetoriken zu vermeiden, die den Eindruck erwecken, die Welt sei noch nie so „säkular“ oder „nichtreligiös“ gewesen wie heute. Wir stehen vielmehr immer noch in jenem Transformationsprozess, der vor 300 Jahren begonnen hat und in dessen Verlauf immer wieder versucht wird, die Übersetzung religiösen Glaubens aus antiken und mittelalterlichen Denk- und Sprachformen in den geistigen Horizont der Moderne zu leisten. Die evangelische Kirche tut gut daran, sich bewusst in dieser Traditionslinie zu verorten.

Denn: Sie hat etwas zu sagen! Es wird auch nach ihr gefragt. Ob es um Veränderungen im Bild von Ehe und Familie geht, um Flucht und Migration oder um den Zusammenhalt der Gesellschaft: Ihr Wort findet Gehör. Und es wird erwartet, dass sie erkennbar als Kirche und mit Bezug zu den transzendentalen Fragen des Lebens spricht. Doch gleichzeitig funktioniert die Kommunikation der Kirche mit der Gesellschaft nicht (mehr) als Einbahnstraße.

Eine Botschaft oder ein Orientierungswissen nur einseitig weiterzugeben, erweckt bei vielen den Eindruck, die Kirche sitze auf einem hohen Ross oder sei weltfremd. Es ist aber auch sachlich nicht angemessen, weil auch die Gesellschaft Werte generiert wie zum Beispiel Toleranz, Nachhaltigkeit und Demokratie. Stärker als noch vor zehn Jahren ist deshalb heute der partnerschaftliche Dialog gefordert. Dazu bietet die Traditionslinie, die sich aus dem Neuprotestantismus speist, wertvolle Anknüpfungspunkte, weil es gerade ihre Stärke ist, nach dem Menschen, seinen Hoffnungen und Ängsten und nach seiner Religion zu fragen.

Vor diesem Hintergrund können drei Perspektiven für die evangelische Kirche formuliert werden.

Erstens zur Orientierung der Kirche über ihre Funktion in der modernen Gesellschaft: Bisher zeigen Begriffe wie konfessionslos, kirchenfern, nichtkirchlich, a-religiös oder gar gottlos, die Verlegenheit an, nur vom Verlust der Allzuständigkeit der Kirche aus denken zu können. Im Hintergrund dieser Begrifflichkeit steht ein Säkularisierungsparadigma als Verfallstheorie. Fragt man die so Bezeichneten, die Menschen unserer Zeit, wie sie sich selbst sehen, erhält man meist zur Antwort: normal. Vielleicht ist es an der Zeit, Kirche als „Kirche inmitten von Normalen“ zu verstehen. Diesen „Normalen“ kommt die Kirche wohl gelegentlich eigenartig vor.

Es ist ihre Chance, ihre Eigenart als kompetente Partnerin mit einem breiten Orientierungswissen bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzubringen.

Zweitens zu Stärkung der Lebensdeutungskompetenz der Theologie: Dass unerwartet viele Menschen am 31. Oktober 2017, dem Reformationstag, die Gottesdienste besucht haben, hat deutlich gezeigt, dass viele „normale“ Menschen auch bei der Kirche nach Lebensdeutungskompetenz suchen. Streit um Fragen einer Wiederkehr des Religiösen allgemein mögen unfruchtbar sein, aber der Rekord am Reformationstag zeigt schon, dass die evangelische Kirche durchaus nach ihrer theologischen Lebensdeutungskompetenz gefragt wird, von Einzelnen und auch im Raum des öffentlichen Lebens. Das Erbe der theologischen Umformungsprozesse des Neuprotestantismus hält hier Ansätze bereit, sich beherzt der Gegenwart zu stellen, nach der Religion der Menschen zu fragen und die Menschen mit ihren Hoffnungen und Ängsten angesichts der durch Globalisierung und Digitalisierung gegebenen Herausforderungen in den Mittelpunkt theologischen Nachdenkens zu rücken.

Keine Hilfestellung

Drittens zur Klärung der ekklesiologischen Grundsignatur. Die evangelische Kirche versteht sich als Volkskirche. Selbst mit einer Mitgliedschaft von um die zehn Prozent in manchen Regionen Ostdeutschlands hat sie auch dort ihren Charakter als Volkskirche bisher aufrechterhalten können. Das hat mit ihrer Stärke in anderen Regionen und mit ihrer geschichtlich geprägten Rolle in Deutschland zu tun. Natürlich ist fraglich, ob sie auf Dauer ihre eigene Reproduktion wird leisten können. Von außen wird ihr keine Hilfestellung mehr zuteil, denn es gibt heute „keine nichtreligiösen Gründe mehr, sich zu einer Religion zu bekennen“ (Niklas Luhmann). Im Raum der Kirche wird man neu durchbuchstabieren müssen, was es heißt, heute Kirche Jesu Christi zu sein. Vielleicht ist es an der Zeit, die vertraute Perspektive auf Gott umzudrehen und die christliche Botschaft so zu plausibilisieren: Nicht die Menschen benötigen Gott, sondern Gott benötigt die Menschen, um an seinem Reich zu bauen, seine Schöpfung zu erhalten, seine Gerechtigkeit und seinen Frieden zu verwirklichen.

Horst Gorski

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Horst Gorski

Dr. Horst Gorski ist Theologe und war unter anderem von 2015 bis Juli 2023 theologischer Vizepräsident der EKD und Leiter des Amtsbereiches der VELKD in Hannover. 


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