Die Union ist keine Heimat mehr

Manche Evangelikale neigen der AfD zu – häufiger aber ist man unpolitisch
Auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg 2013. Foto: epd/ Norbert Neetz
Auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg 2013. Foto: epd/ Norbert Neetz
Als evangelikal verstehen sich in Deutschland weniger als drei Prozent der Bevölkerung. Einige dieser sehr frommen Christen, die Bekenntnis-Evangelikalen sowie viele unabhängige Gemeinden, sind politisch rechtskonservativ. Sie unterstützen meist die AfD. Manche akzeptieren den Glauben anderer Christen nicht, wenn er nicht zum religiös-sittlichen Aktionsprogramm wird. Eine Analyse des Publizisten und Verhaltenswissenschaftlers Hansjörg Hemminger.

Politik und Medien sind davon überzeugt, dass die evangelikale Bewegung (sofern man ihr überhaupt einen Gedanken widmet) wie der konservative Katholizismus politisch eng mit der Alternative für Deutschland (AfD) verbunden ist. Der Blick hinüber in die USA legt diese Sichtweise nahe. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Der deutsche Evangelikalismus ist anders als in den usa gesellschaftlich schwach und nur teilweise politisiert. Man unterscheidet üblicherweise drei bis vier Lager. Erstens: Allianz-Evangelikale aus den Landeskirchen, dem Pietismus und klassischen Freikirchen, benannt nach der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA). Zweitens: Pfingst-Evangelikale einschließlich unabhängiger, neucharismatischer Gemeinden. Drittens: Bekenntnis-Evangelikale aus der Konferenz Bekennender Gemeinschaften (KGB). Viertens: Sonstige, nämlich Aussiedler- und Migrantengemeinden, nicht charismatische unabhängige Gemeinden usw.

Die Bekenntnis-Evangelikalen sowie viele unabhängige Gemeinden sind politisch rechtskonservativ, sie unterstützen meist die AfD. In den anderen Lagern gibt es oft eine grundsätzliche Distanz zur Politik, und es gibt dort eine Minderheit von sogenannten Linksevangelikalen. Früher fühlten sich viele Evangelikale in den Unionsparteien heimisch. Inzwischen findet man wichtige eigene Positionen dort nicht mehr wieder: den Schutz der traditionellen Ehe, die Förderung familiärer Kindererziehung, eine vorsichtigere, eher konservativ-moralisch orientierte Sexualaufklärung, den Schutz des ungeborenen Lebens usw. Auch die Ablehnung der sogenannten Gender-Ideologie und der Evolutionstheorie spielt eine Rolle. Ebenso gibt es die Sorge, dass der Islam sowohl in der Politik, als auch in den großen Kirchen zu naiv gesehen wird. Wie viele Evangelikale deshalb die AfD wählen, ist unklar.

Die „Christen in der AfD“ sind jedenfalls ein überschaubares Grüppchen und kommen zu einem erheblichen Teil aus dem Rechtskatholizismus. Ihre frühere Bundesvorsitzende Anette Schultner, die einer Freikirche angehört, verließ nach der Bundestagswahl die AfD mit der Begründung, dass dort bürgerlich-konservative Positionen gegen Nationalismus und Rechtsradikalismus nicht durchsetzbar seien. Der Vorgang zeigt, wie wenig Gewicht die Evangelikalen in der AfD haben; ihr Beitrag zum rechtspopulistischen Wählerreservoir ist gering. Als evangelikal verstehen sich weniger als drei Prozent der Bevölkerung; höchstens ein Prozent ist dem protestantischen Fundamentalismus zuzurechnen.

Die Zahlen in den usa liegen prozentual mehr als zehnmal so hoch. Ein politischer Anspruch wird hierzulande daher, wenn überhaupt, oft defensiv vertreten. Typisch ist die Forderung von Peter Hahne, die er im Januar 2017 in Wittenberg erhob, die evangelische Kirche solle sich aus der Politik heraushalten. Dass sich auch die US-Evangelikalen aus der Politik heraushalten sollten, hörte man nicht von ihm. Die Nachrichtenagentur idea griff nicht nur die Forderung Hahnes auf, sondern transportiert auch sonst bevorzugt rechtskonservative Kirchenkritik. Zu ihr gehört eine idealisierte Wahrnehmung der USA: Politischer und theologischer Konservativismus mache jenseits des Atlantiks Kirche und Glauben groß, während der Liberalismus der EKD den Glauben zerstöre. In Wirklichkeit erodiert derzeit in den USA die Basis der evangelikalen Denominationen rapide, und zwar wegen des Bündnisses der weißen Evangelikalen mit dem Rechtspopulismus.

Wie reagierte die evangelikale Bewegung auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2017? In einer Erklärung bat die DEA um das Gebet für die neuen Abgeordneten. Der Einzug der Alternative für Deutschland in den Bundestag wurde mit keinem Wort erwähnt. Der Generalsekretär der DEA, Hartmut Steeb, erklärte das Schweigen mit parteipolitischer Neutralität. Nicht zum ersten Mal machte er damit klar, dass er die AfD als politische Vertretung zumindest mancher Allianz-Positionen und nicht als radikale, undemokratische Partei wahrnimmt.

Viele Evangelikale mit ähnlicher politischer Prägung sehen im Gegenteil die „linksgrünen“ Parteien als gottlos an. Im Gegensatz zu seinem Generalsekretär sagte Uwe Heimowski, Politikbeauftragter der dea in Berlin, dass der Erfolg der AfD vor allem in Ostdeutschland ein Schock für ihn gewesen sei. Die Evangelische Allianz werde klar machen, „dass es keine Schnittmenge zu rassistischen und geschichtsverfälschenden Positionen“ gibt. Entsprechend erklärte Peter Jörgensen, die AfD habe „Egoismus und Rassismus im Wahlkampf salonfähig gemacht“. Er ist der Beauftragte der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (vef) am Sitz der Bundesregierung.

Heimowski und Jörgensen sind baptistische Pastoren und stehen dem Lager eher fern, das politisch und kirchlich von Peter Hahne, Hartmut Steeb, Ulrich Parzany und maßgeblich von der Nachrichtenagentur idea vertreten wird. Dieses Lager kann man als „rechtsevangelikal“ bezeichnen, analog zu den eingeführten Begriffen „rechtskatholisch“ und „linksevangelikal“. Der Begriff „fundamentalistisch“ wäre irreführend, weil alle Genannten keine Fundamentalisten im Sinn der „Chicago-Erklärung“ von 1978 sind. Auch idea vertritt politisch, aber nicht unbedingt theologisch, die Linie des US-Fundamentalismus.

Für Rechtsevangelikale ist das Zentrum christlicher Ethik eine individuelle und soziale Ordnungsethik, die durch die Bibel autorisiert wird. Christliche Politik bedeutet, die biblische Ordnung gesellschaftlich durchzusetzen. Ihr Politikverständnis ist also nur lose mit dem amerikanischen Biblizismus verbunden und eignet sich eher dafür, eine politisch reaktionäre, abendländisch-christliche Identität zu konstruieren. Die AfD bietet scheinbar eine Möglichkeit, diese Identität politisch zur Geltung zu bringen. In Wirklichkeit sind von ihr (wie Anette Schultner eher spät erkannte) nur Lippenbekenntnisse zu einer konservativen christlichen Lebensordnung zu erwarten. Aber die Nähe des rechten Lagers zur AfD verstärkt die Spannungen in der evangelikalen Bewegung.

Anfang 2018 tauchte ein Blog namens Biblipedia im Netz auf und wurde von idea vorgestellt, der darauf abzielt, unliebsame Linksevangelikale an den Pranger zu stellen. Ein Beitrag bezichtigte sogar die Hochschule der Freien evangelischen Gemeinden (FeG) in Ewersbach, anstatt biblischer Theologie eine „linksgrüne“ Ideologie zu lehren. Die Bruchlinien zwischen rechten, unpolitischen und „linken“ Evangelikalen werden durch solche Vorgänge deutlicher. Die Identität der Letzteren wird von ihrem missionarischen Anliegen und ihrer Schrift-Spiritualität geprägt, nicht durch eine politisierte Ordnungsethik. Folgerichtig führte die Streichung der eher marginalen Zuschüsse für idea durch die Synode der EKD Ende 2017 nur zu gemäßigten bis keinen Reaktionen aus den freikirchlichen und pietistischen Milieus.

Von den Rechtsevangelikalen kamen dagegen schrille Anschuldigungen bis hin zu dem Vorwurf, die EKD greife das Grundrecht der Meinungsfreiheit an. Für alle Beteiligten war offensichtlich, dass die Streichung mit der zunehmenden Nähe der Nachrichtenagentur zur AfD zu tun hatte, auch wenn das nicht gesagt wurde. Entsprechend fielen die Reaktionen aus.

Kritik am „System“

Rechtskatholiken und rechte Evangelikale werden mit gutem Grund verdächtigt, dass sie dem demokratischen Staat misstrauen oder ihn ablehnen. Wohlgemerkt, sie werden nicht mit gutem Grund verdächtigt, rechtsextrem zu sein. Aber sie stehen im Verdacht, ähnlich wie in der Weimarer Republik, dem Extremismus den Weg zu ebnen, weil sie nicht bereit sind, die Demokratie zu verteidigen. Dabei stehen konkrete Anliegen – die es durchaus gibt – nicht im Vordergrund. Fundamentalkritik am „System“ dominiert. Insofern sind die der AfD nahe stehenden Evangelikalen durch Sinn- und Identitätszweifel verunsicherte Modernisierungsgegner, wie sie Holger Lengfeld beschrieb. Sie wollen, dass unsere Gesellschaft den Geboten Gottes folgt, und dass sich das Leben der Menschen an der Bibel ausrichtet.

Damit meinen sie jedoch nicht, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ins Zentrum der Politik rücken sollen. Die Gottlosigkeit des Systems zeigt sich für sie nahezu ausschließlich an zwei Themen: Homosexualität bzw. Gender-Ideologie einerseits und Abtreibung andererseits. Ihr Gesicht ist Ulrich Parzany, der durch sein Buch „Was nun, Kirche?“ mediale Beachtung fand. Ähnlich wie die DEA weigerte er sich, einen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und der AfD zu machen. Dietrich Bonhoeffer nannte eine solche politische Haltung „hinterweltlerisch“: Wenn die christliche „societas perfecta“ nicht erreichbar ist, sind alle anderen politischen Systeme gleich schlecht oder zumindest gleichgültig.

Wenn sich jedoch ein Zugang zur politischen Macht abzeichnet, schlägt das hinterweltlerische Politikverständnis in ein säkularistisches um: „Dazu muss Glaube sich verfestigen zu religiöser Sitte und zu Moral, Kirche zum Aktionsorgan für religiös-sittlichen Neubau ... Wir müssen uns eine starke Festung bauen, in der wir mit Gott gesichert leben können.“

Dass rechte Evangelikale sich bei uns allen Ernstes politisch verfolgt fühlen, verrät die Sehnsucht nach einer solchen „starken Festung“. Dafür genügt es, dass die evangelikale Bewegung (durchaus zum Teil unfair) öffentlich kritisiert wird, und dass Menschen ein Recht darauf haben, ihr Leben nicht an christlichen Überzeugungen zu orientieren. Dass Christen und Kirchen ebenso das Recht haben, für ihren Glauben zu werben und ihre Religion zu leben, ist zu wenig, um „gesichert leben zu können“. Man akzeptiert den Glauben anderer Christen nicht, wenn er nicht zum religiös-sittlichen Aktionsprogramm wird. Nur so lässt sich die Fixierung der evangelikalen Bewegung auf das Thema Homosexualität verstehen, die (sofern das überhaupt noch möglich war) durch eine Erklärung der dea zur „Ehe für alle“ 2017 weiter verstärkt wurde. Es ist eine bittere Ironie, dass viele Evangelikale in den USA von der Ablehnung der „Ehe für Alle“ und des geltenden Abtreibungsrechts motiviert wurden, Donald Trump zu wählen. Sie wählten einen Präsidenten, der gegen Sozialhilfe und Gesundheitsfürsorge kämpft und damit direkt gegen die traditionelle Familie und gegen die Lebensmöglichkeit ungeborener Kinder. Die Anliegen der deutschen Evangelikalen würden von der AfD ebenso kühl verraten werden, würde sie tatsächlich politische Macht erringen.

Die AfD wurde im Vorfeld der Wahl von den großen Kirchen als Gefahr gebrandmarkt. Man fragt sich im Nachhinein, ob die öffentliche Empörung über die inszenierten Tabubrüche der Rechtspopulisten nicht kontraproduktiv war. Viele (nicht alle), die der AfD ihre Stimme gaben, wollten genau das haben, was sie bot: Stimmungsmache gegen das politische System, Schüren von Ängsten, Rassismus, Deutschtümelei, Verschwörungsdenken. Man trat den verhassten und insgeheim ob ihrer Macht beneideten, progressiven Eliten als reaktionäre Elite entgegen.

Der Rechtspopulismus fordert die Kirchen zu mehr heraus als zu politisch und ethisch korrekten Statements. Solange die evangelische Position bei Bildungsprofis und Medienmachern zustimmungssicher und transportgarantiert ist, taugt sie nicht viel, weil sie sich von deren Moralismus kaum unterscheidet. Diese Eliten haben keine wirkliche Begründung für die Empörung über die AfD zu bieten, oder nur eine, die zirkulär auf sich selbst verweist. Die humane Moral gilt, weil sie human ist. Wie soll das die Frustrierten und Geängstigten überzeugen, die ihre eigene Lage als inhuman und den Moralismus der Eliten als repressiv erleben? Die evangelische Kirche muss die Sehnsucht nach Rechtfertigung einer beschwerlichen, gebrochenen, scheinbar wertlosen und unbeachteten, eben „abgehängten“ Existenz hinter der hässlichen Fassade des Rechtspopulismus erkennen. Sie muss davon sprechen, dass diese Existenz anders gerechtfertigt werden kann als durch Neid und Hass. Sie muss das Evangelium für eben diese Menschen neu zur Sprache bringen.

Dem Zeitgeist verfallen?

Man kann nicht behaupten, dass die Vordenker und PR-Experten unserer Kirche sensibel auf das Bedürfnis nach einer tragfähigen Lebensordnung bei den kulturell Verunsicherten und „Abgehängten“ reagieren. Sie bekräftigen eher die Vorbehalte gegen den Rechtspopulismus in den politisch progressiven, bildungsnahen Milieus, zu denen sie selbst gehören. Aber es reicht nicht, denen zu predigen, die es am wenigsten nötig haben. Ich wünsche mir eine geistliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsevangelikalismus der Hahnes und Parzanys darüber, wo sich die Mitte christlicher Ethik tatsächlich findet, und was aus ihr tatsächlich folgt.

Die rechten Evangelikalen in Führungspositionen werden sich von der angeblich dem Zeitgeist verfallenen Kirche kaum ansprechen lassen. Andere Evangelikale lassen sich jedoch für einen Dialog über Rechtspopulismus und AfD gewinnen: die etablierten Freikirchen, der Pietismus des Gnadauer Verbands, viele evangelikale Ausbildungsstätten und Werke. Aber warum sollte man sich die Mühe machen? Nun, die Evangelikalen werden in der evangelischen Kirche dringend gebraucht. Denn einseitige Perspektiven gibt es in allen kirchenpolitischen Lagern. Die evangelikale Perspektive kann viel zum Ausgleich zwischen ihnen und zu einer Erweiterung des Gesichtsfelds beitragen.

Hansjörg Hemminger

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