Protest und politisierte Religion
Ein halbes Jahrhundert später – so viel Erinnerung an 1968. Rudi Dutschke und die Kulturrevolution, protestierende Studenten in Berlin, Frankfurt und anderswo, Kampf gegen den Vietnamkrieg und den westlichen Konsumkapitalismus, Flowerpower und Frauenaufbruch. Und am Ende steht immer wieder die Frage: Erfolg oder Scheitern? Hat die 68er-Revolte das Koordinatensystem der Bundesrepublik verschoben oder hat sie versagt? Das Hadern mit dem Kapitalismus ist nicht zu Ende, während die Fundamentalkritik an parlamentarischer Demokratie und „scheißliberalem“ Rechtsstaat sich schnell als Irrweg erwies. Mindestens bleibt, so würden viele übereinstimmen, ein nachhaltiger Wertewandel. Er beförderte die Liberalisierung von Lebensverhältnissen, die Zerstörung traditioneller Autoritäten und eines steifen Patriarchalismus nicht zuletzt im Privatleben, der auch das Verständnis von Demokratie bis in die Sechzigerjahre eingeengt hatte.
Von Religion und Kirchen war bisher nicht die Rede, und man wird auch kaum behaupten können, dass diese Dimension von 1968 fünfzig Jahre später eine zentrale Rolle spielt. Das mag mit der selektiven Erinnerung einer Gesellschaft zusammenhängen, in der die Säkularisierung inzwischen weit fortgeschritten ist, und in der sich die alltägliche Selbstverständlichkeit von Religion und Konfession, wie sie die frühe Bundesrepublik noch kennzeichnete, verloren hat. Doch das ist höchstens eine Teilerklärung, zumal die These nicht allzu riskant ist, dass Religion im öffentlichen Diskurs, in den kulturellen Debatten, auch im Selbstverständnis der Eliten in Deutschland heute eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie in den späten Sechzigerjahren. Zu denken wäre etwa, in Stichworten, an die Bedeutung von Theologie und Religion in den ethischen und gesellschaftspolitischen Diskursen, an die Renaissance von Religion als Thema der Intellektuellen, an die „Kirchenfreundlichkeit“ unserer politischen Führung und an alles auch, was an der Präsenz und Debatte des Islam hängt.
Man kommt kaum an der nüchternen Einsicht vorbei, dass die religiöse Motivation, die christliche Prägung in den Aufbrüchen vor einem halben Jahrhundert schlichtweg keine zentrale Rolle spielte. Das war nicht nur im westdeutschen 1968 so, sondern auch anderswo in Westeuropa und in Nordamerika – erst recht dort, wo (wie in Frankreich oder Italien) die kommunistischen Traditionen der Arbeiterbewegung die Studenten und jungen Akademiker mehr als in der Bundesrepublik prägend waren, und wo zugleich deren Frontstellung zum dominanten Katholizismus eine lange Geschichte hatte, bis zurück zur Französischen Revolution.
Zum tief empfundenen Muff und Mief, von dem die 68er sich zu befreien suchten, gehörte der ritualisierte Sonntagsgottesdienst in gebügelter Hose und frisch gestärkter Bluse. Die Adenauer-Republik, der viele entkommen wollten, verkörperte ja auch eine Art neues Bündnis von Thron und Altar: nicht mehr das protestantische des Deutschen Reiches von 1871, sondern das des katholischen Rheinlands und seiner provisorischen Hauptstadt Bonn. Explizite Kirchen- oder Religionsfeindlichkeit blieb zwar selten, aber von der zeitweiligen Agenda einer säkularistischen fdp abgesehen, war das besondere Verhältnis von Staat und Kirche den meisten nicht wichtig genug – es galt die Ordinarien zu stürzen, den Kapitalismus zu überwinden, den Vietnamkrieg zu beenden und bei alldem frei zu leben und zu lieben.
Keine antireligiöse Bewegung
Mit vielen guten Gründen hat die Forschung in den vergangenen Jahren ein allzu einfaches Narrativ fortschreitender Säkularisierung in der Moderne in Zweifel gezogen: Religion suchte sich neue Ausdrucksformen statt zu verschwinden; die Kirchen erwiesen sich als erstaunlich anpassungsfähig, gerade in Deutschland. Dennoch bleibt richtig: Die 68er-Bewegung war in ihrem Kern weder eine religiöse, noch eine antireligiöse Bewegung, hat aber den Trend der Entkirchlichung und des Glaubensverlusts verstärkt. Heute ist, mit Hans Joas gesprochen, Glaube eine Option. Vor fünfzig Jahren aber wurde der Nicht-Glaube zu einer Option, zur veritablen Normalität jenseits von ein paar Außenseitern und Freidenkerkreisen.
Aus einer eher binnenkirchlichen Sicht, aus der Perspektive von Religions- und Theologiegeschichte, mag das jedoch anders aussehen. Dann treten die religiösen Spuren der 68er-Bewegung klarer hervor. Rudi Dutschke – war das nicht der religiöse Sozialist aus Luckenwalde, das Mitglied der evangelischen Jungen Gemeinde? 1968 – gehörten dazu nicht kirchliche Proteste gegen die Notstandsgesetze und das ökumenische „Politische Nachtgebet“ Dorothee Sölles und Fulbert Steffenskys in Köln, im Gefolge des Essener Katholikentags? Der Historiker Pascal Eitler hat die damals viel diskutierte „religiöse Wende“ Max Horkheimers, also eines Heroen der neomarxistischen „Frankfurter Schule“, rekonstruiert und auf die Politisierung von Religion um und nach 1968 hingewiesen. Auch wenn für die wichtigsten Akteure der Revolte eine religiöse Motivation keine große Rolle spielte oder, wie bei Dutschke, in der politischen Radikalisierung zwischen 1966 und 1968 stark in den Hintergrund trat, wurde doch Religion vom Protest infiziert, angesteckt von den Impulsen linker Theorie und Praxis, herausgeholt aus dem Reservat des Unpolitischen. So steht die Chiffre „1968“ für die Entstehung und den wachsenden Einfluss des deutschen „Linksprotestantismus“, binnenkirchlich ebenso wie in der weiteren Gesellschaft und Kultur.
Dieses Bild ist nicht ganz falsch, und einer wie Wolfgang Huber, der spätere Berliner Bischof und EKD-Ratsvorsitzende, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren geradezu als eine Inkarnation des Linksprotestanten galt, würde sofort darauf insistieren, wieviel seine Theologie und seine politischen Positionen er den 68ern verdanke. Aber es ist wiederum zu einfach. Denn „1968“, auch wenn man den Beginn der Bewegung und der Proteste, ohne gänzlich unscharf zu werden, etwa auf das Jahr 1965 verlegt, war kein Urknall der Politisierung von Religion, oder gar einer Umstülpung des Protestantismus von der konservativen zur linken Hegemonie. Die Wurzeln des Linksprotestantismus – zu dem Begriff wird gleich noch etwas zu sagen sein – reichen tiefer, ebenso, wie sie in mancher Hinsicht eher in der Nach-68er-Zeit zu suchen sind.
Zunächst reichen sie tiefer, also zeitlich weit zurück: Eine direkte Kontinuitätslinie kommt vielleicht nicht aus der religiösen Dissidenz und ihrer Verbindung zum politischen Radikalismus des Vormärz, wohl aber aus dem sozial engagierten Protestantismus des späten Kaiserreichs, sei es in eher praktischer Nähe zu „Arbeiterfrage“ und Sozialdemokratie wie bei Paul Göhre (1864–1928), sei es in der intellektuellen Affinität zu Marxismus und Sozialismus wie bei Paul Tillich (1886–1965). Die Brücke aus der Zeit des Nationalsozialismus und aus der Bekennenden Kirche schlugen, auf ganz unterschiedliche Weise, Martin Niemöller (1892–1984) und Helmut Gollwitzer (1908–1993). Es war diese Generation der um 1900 geborenen Theologen und Kirchenführer, die in den Fünfzigerjahren dezidiert kritische Positionen in der jungen Bundesrepublik einnahm, zumal in der Frage der Wiederbewaffnung, und sich am Ende des Jahrzehnts in der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ engagierte. Die Vertreter der jetzt oft so genannten Fünfundvierziger-Generation, die erst nach der Zäsur von 1945 politisch sozialisiert wurden und meist seit den frühen Sechzigerjahren öffentlich ihre Stimme erhoben, mögen als die erste Generation des bundesrepublikanischen Linksprotestantismus erscheinen: Jürgen Moltmann (geb. 1926) oder Dorothee Sölle (1929–2003). Aber sie setzten eine Linie fort, die aus dem wilhelminischen Reich bis in die ersten Protestwellen der Adenauerzeit führte.
Auch in institutionellen Kontexten und theologisch-politischen Netzwerken bahnte sich eine Öffnung des Protestantismus zu linken Positionen längst vor 1968 an. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit dem Versagen vor der eigenen politischen Verantwortung und mit der Scheu vor dem klaren Bekenntnis zur Demokratie stand hier im Vordergrund: in der Arbeit der Evangelischen Akademien ebenso wie in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (fest); dazu im Deutschen Evangelischen Kirchentag. Die intellektuell-politische Neugier auf das, was man lange bekämpft und ausgegrenzt hatte, war groß; in der „Marxismus-Kommission“, der etwa Hubers akademischer Lehrer Heinz Eduard Tödt (1918–1991) lange angehörte, konnte man sich dem unbefangen widmen. Elitenmilieus und Netzwerke im Übergang zum Protest der 68er ebenso wie zu einer Kirche in Bewegung verknüpften sich auf besonders markante und eigentümliche Weise in der „protestantischen Mafia“ der frühen Bundesrepublik, zu der Ludwig Raiser (1904–1981), Klaus von Bismarck (1912–1997), Georg Picht (1913–1982) und Hellmut Becker (1913–1993) gehörten – und, nicht zu vergessen, die Weizsäckers. Das „Tübinger Memorandum“ von 1961 gegen Atombewaffnung und für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war eben beides: politisch artikulierter, kritischer Protestantismus und Kontinuität bildungsbürgerlich-adliger Elitenwelt. Die Selbstverständlichkeit, bisweilen die Arroganz des Führungsanspruchs erstreckte sich auf das Mandat der Opposition, bevor eine neue Generation des Protests das Bürgerlich-Elitäre scharf attackierte.
Dann wieder lässt sich argumentieren: Die eigentlich Geburtsstunde des westdeutschen Linksprotestantismus lag später, sie kam erst nach 1968, nämlich im Aufstieg der „Neuen Sozialen Bewegungen“ in den Siebzigerjahren: Frieden, Umwelt, Menschenrechte, „Dritte Welt“; auch in der neuen Frauenbewegung, die sich selber erst von den 68er-Chauvis emanzipieren musste. Ob diese Graswurzelbewegungen das eigentliche, bleibende Erbe von 1968 darstellen, das maoistische K-Gruppen und erst recht die terroristischen Sekten nicht für sich reklamieren können, ist umstritten.
Hin zur Praxis
Ohne den 68er-Protest sind sie schwer vorstellbar, und doch ist der kulturelle Schwenk markant: von einem Stil der (mindestens verbalen) Aggressivität zum Stil der Weichheit und Demut; von der großen Theorie zur lebensweltlichen Praxis; und, nicht zuletzt, von der politischen Ökonomie zur politischen Ethik.
Gerade darin lag der Ansatzpunkt für die religiösen Motivationen und kirchlichen Netzwerke, die für die Neuen Sozialen Bewegungen, ganz anders als für die 1968er-Bewegung, eine konstitutive Rolle spielten – am wenigstens in der Frauenbewegung, aber umso mehr im Kampf für Frieden, weltweite Gerechtigkeit und Umweltschutz, für die „Bewahrung der Schöpfung“. Solche theologisch-politische Sprache war den 68ern fremd, selbst wenn sie von missionarischem Eifer und Heilssuche bewegt gewesen sein mögen.
Was heißt denn überhaupt „Linksprotestantismus“? Vier Elemente lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, nennen: Erstens geht es um eine Kritik der Macht und der Mächtigen. Stattdessen wird, häufig mit Dietrich Bonhoeffer begründet, die Perspektive der Schwächeren, der Armen, der Leidenden eingenommen. Das kann auf politischen Umsturz oder gesellschaftliche Revolution zielen, tut es aber in der Regel nicht. Zweitens das „internationale“ Denken: Auch hier erkennt man eine vordergründige Parallele zum marxistischen Internationalismus, doch der Akzent liegt erneut anders, auf einer ethisch begründeten Solidarität. In der deutschen Tradition ist dieser Internationalismus eine dezidierte Gegenbewegung gegen den National- und Reichs-protestantismus, der zwischen 1871 und 1945 dominierte. Das dritte Moment ist die Politisierung der Religion beziehungsweise des Glaubens. Auch hier ist die Zurückweisung einer (vermeintlich) unpolitischen Haltung eine spezifische Konsequenz aus der deutschen Geschichte. Am wichtigsten wohl für die Genese und das Selbstverständnis des Linksprotestantismus ist der vierte Faktor: die ethische Reflexion auf die Verantwortung des christlichen Glaubens in der Welt, in der Politik ebenso wie in allen Dimensionen der alltäglichen Lebensführung. Alle vier Elemente verweisen, in unterschiedlicher Weise, auf denselben Bezugspunkt: Sie sind – gewiss nicht nur, aber ganz wesentlich – eine Reaktion auf den Nationalsozialismus. Diesen Impetus wiederum teilt der Linksprotestantismus mit der deutschen Variante der 68er-Bewegung.
Neuer Linksprotestantismus
Seit den Siebziger- oder frühen Achtzigerjahren sind viele dieser Impulse Gemeingut und Selbstverständlichkeit geworden, in der evangelischen Kirche ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt. Insofern ist der Linksprotestantismus zum neubürgerlichen Mainstream avanciert. Er hat sich damit abgekühlt, teilweise entradikalisiert – doch wirklich radikal ist er kaum je gewesen, gewiss nicht auf der üblichen politischen Skala. Und anders herum: Er kann es sich zurechnen, eine neue bürgerliche Ethik der liberalen und gebildeten Mittelschichten in der Bundesrepublik, weit über die kirchlichen Kernmilieus hinaus, nachhaltig geprägt zu haben. Zugespitzt kann man deshalb fragen, wie links der Linksprotestantismus eigentlich (noch) ist, zumal er eher als Gegnermarkierung denn als Eigenbezeichnung auftaucht. Er steht nämlich in einem doppelten Spannungsverhältnis, in dem sich theologische und politische Linien kreuzen. Mit den Konservativen, etwa im evangelikalen Milieu, hat er in den Frömmigkeitsstilen mehr gemeinsam, als beide zunächst zugestehen mögen. Und die Linksprotestanten sind nicht nur politisch oft Barthianer, sondern auch theologisch. Sie verbinden politische Ethik und Kerygma und übernehmen dabei von Karl Barth die Kritik am liberalen Kulturprotestantismus. Dessen Erben wiederum treten, wie Friedrich Wilhelm Graf, als die schärfsten intellektuellen Kritiker des Linksprotestantismus auf: eines Protestantismus, der ihnen weniger „zu links“ ist als zu ethisch (oder besser, zu moralisch) und zu fromm (und zu wenig intellektuell) zugleich.
Nur eines ist damit klar. Die Wirkungen von 1968 sind nicht eindeutig. Es bleibt eine offene Geschichte.
Paul Nolte
Paul Nolte
Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.