Gemischte Angelegenheit

Die Bundesländer gehen sehr unterschiedlich mit dem Schulfach Religion um
Glastafel an der Reichstagspromenade: Das Grundgesetz schützt den Religionsunterricht. (Foto: dpa)
Glastafel an der Reichstagspromenade: Das Grundgesetz schützt den Religionsunterricht. (Foto: dpa)
Der Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, dessen Existenz das deutsche Grundgesetz garantiert. Und dennoch wird über kaum ein Fach so sehr diskutiert. Zumal die Ausgestaltung und seine Einbettung in den schulischen Alltag in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Matthias Drobinski, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, beschreibt die Lage.

Religionsunterricht. Das ist in den Erinnerungen der Schülergenerationen seit den Siebzigerjahren jenes Fach, wo nette, aber ein wenig schluffige Lehrer mal über Jesus redeten, mal über Sekten und mal über Drogen, in dem der Anspruch überschaubar blieb und das Hausaufgabenpensum menschlich – und am Ende bekam auch der faulste Schüler mindestens eine Drei. Dieses Reli-Klischee spiegelt, wenn man so will, das Bild, das viele Menschen aus der halbdistanzierten Mehrheit der Kirchenmitglieder haben: Religion soll nett sein und gut tun, keinesfalls aber anstrengen und stören – und erst recht sollen die Kirchen nicht versuchen, über ihre Pfarrer oder Religionslehrer Erwachsenen wie Schülern den rechten Glauben beizubiegen. Religion erscheint in diesem Licht als ein freundliches, im Grunde harmloses Fach.

Und trotzdem wird über kein Schulfach seit Jahrzehnten immer wieder so heftig gestritten wie über diesen Religionsunterricht. Mathematik, Deutsch oder Englisch mögen versetzungsrelevant sein, die Noten dort über Schullaufbahn und Studienfach entscheiden; Religionslehrerinnen und Religionslehrer mögen im Lehrerzimmer manchmal eher Gaststatus genießen. Aber: Der Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, dessen Existenz das deutsche Grundgesetz garantiert. Im Artikel 7 heißt es im Absatz 3: „Der Religionsunterricht ist (...) ordentliches Lehrfach.“ Und: „Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“

Der Staat hat also darauf zu achten, dass nichts unterrichtet wird, das sich gegen Recht und Gesetz richtet. Ansonsten aber mischt er sich nicht in die Inhalte des Unterrichts ein. Der Staat stellt und bezahlt in der Regel die Religionslehrer – die aber brauchen auch die Erlaubnis der Kirchen, um unterrichten zu dürfen. Bei schweren Verstößen gegen kirchliche Regeln können sie diese Erlaubnis verlieren. Der Religionsunterricht ist damit eine „res mixta“, eine gemischte Angelegenheit von Staat und Kirche. Die Idee stammt aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Sie war ein Kompromiss zwischen den Sozialisten, die gar keine Religion in der Schule haben wollten, und der katholischen Zentrumspartei, die für die Konfessionsschulen kämpfte; formuliert hat diesen Kompromiss der liberale Abgeordnete Friedrich Naumann. Weil die Konstellation bei der Diskussion ums Grundgesetz 1948 wieder die gleiche war, übernahm man einfach die Artikel von damals. Nur die Staaten Hamburg, Bremen und Berlin, die schon zuvor eigene Gesetze für den Religionsunterricht verabschiedet hatten, durften bei ihren Regelungen bleiben.

Über Jahrzehnte blieben diese Verhältnisse unhinterfragt. In dem Maße aber, in dem das gesamte Staat-Kirchen-Religionen-Verhältnis in der Bundesrepublik strittig wird, ist auch der Religionsunterricht in der Diskussion. Darf in einem zunehmend säkularen Land der Staat den großen Kirchen einen derartigen Raum in der Schule einräumen? Können die Kirchen diesen Raum überhaupt noch füllen, wenn die Zahl der katholischen und evangelischen Schüler abnimmt, wenn es in manchen Regionen schwierig wird, Religionslehrer zu gewinnen? Was ist andererseits mit dem Recht der Eltern, dass ihre Kinder in einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht etwas über ihren Glauben erfahren? Welche Zukunft also kann, soll dieser Religionsunterricht haben?

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich auch die Lage des Religionsunterrichtes verändert. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind die Christen eine Minderheit, die meisten Menschen gehören keiner Konfession an. Entsprechend richtete das Land Brandenburg 1996 das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“, kurz LER ein – unter der evangelischen Kultusministerin Marianne Birthler von den Grünen; auch vielen ostdeutschen Christen ist bis heute die enge Bindung der Kirchen an den Staat fremd. Im LER-Unterricht sollten alle Schüler neutral über die verschiedenen Religionen und Ethik-Konzepte informiert werden, ob sie Mitglied einer Kirche sind oder nicht; Marianne Birther sah dies auch als Chance für die Kirchen, Schülerinnen und Schüler mit dem Christentum bekannt zu machen, die ansonsten gar nichts über die Religion erfahren würden, die Geschichte und Kultur des Landes geprägt hat – und immer noch prägt. Der konfessionelle Religionsunterricht allerdings wurde als freiwilliger Unterricht an die Randstunden gedrängt. Die Kirchen liefen Sturm gegen LER und klagten vor dem Bundesverfassungsgericht. Sie mussten im Verlauf der Debatte allerdings auch zugeben, dass sie in Brandenburg gar nicht genug Religionslehrer hätten, um einen allgemeinen Religionsunterricht zu organisieren. Der Streit endete im Dezember 2001 mit einem Kompromissvorschlag des Bundesverfassungsgerichts: Brandenburg darf weiterhin LER anbieten – die „Bremer Klausel“, die eine von Artikel 7 des Grundgesetzes abweichende Organisation des Religionsunterrichts ermöglicht, gilt auch für das 1990 wieder entstandene Bundesland. Das Land muss aber den konfessionellen Religionsunterricht aufwerten.

2006 führte dann auch das Land Berlin, für das ebenfalls die Bremer Klausel gilt, einen allgemeinen Ethik- und Religionskunde-Unterricht ein; der konfessionelle Religionsunterricht blieb, wie auch der Humanistische Lebenskundeunterricht – als freiwilliges Wahlfach bestehen. Die evangelische und die katholische Kirche sammelten dagegen Unterschriften für den vom CDU-Politiker Christoph Lehmann initiierten Volksentscheid „pro Reli“ – das Land sollte einen regulären konfessionellen Religionsunterricht einführen. Der damalige Berliner Erzbischof Kardinal Georg Sterzinsky, vor allem aber Berlins damaliger evangelischer Bischof Wolfgang Huber setzten sich sehr für die Initiative ein. Tatsächlich sammelte „pro Reli“ mehr als 140.000 Unterschriften und erzwang so einen Volksentscheid.

Der allerdings endete mit einer bitteren Niederlage für die Kirchen. Nicht einmal 30 Prozent der Berliner beteiligten sich an der Abstimmung – zu wenige, um das erforderliche Quorum zu erfüllen. Und mehr als 51 Prozent stimmten gegen den Religionsunterricht. Das hat jenen Bildungsexperten Auftrieb gegeben, die meinen, dass es bundesweit Zeit sei, den konfessionellen Religionsunterricht durch einen bekenntnisneutralen Religions- und Lebenskunde-Unterricht zu ersetzen – übrigens dann auch den Ethik-Unterricht, der zur Zeit mal ein Ersatzfach für den Religionsunterricht ist, wie in Baden-Württemberg, Bayern und sechs weiteren Ländern – und mal ein Wahlpflichtfach und damit faktisch gleichberechtigt mit dem Religionsunterricht, wie in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Eines ihrer wichtigen Argumente: Seit Jahren sinkt die Zahl der Schüler im Religionsunterricht, und es steigt die Zahl derjenigen, die einen religionsneutralen Ethik-Unterricht besuchen. In Bayern nahmen 2001/02 noch 1,27 Millionen Schülerinnen und Schüler am katholischen oder evangelischen Religionsunterricht teil; im Schuljahr 2014/15 war die Zahl auf 1,025 Millionen gesunken. Die Zahl der Ethik-Schüler stieg im gleichen Zeitraum von 143.000 auf 229.000. Selbst in christlich geprägten Regionen geht also die Zahl der Reli-Schüler zurück und steigt die Zahl der Ethik-Schüler. Geradezu dramatisch ist die Lage für den Religionsunterricht in entkirchlichten Stadtteilen wie Berlin-Marzahn: Dort hatten sich 2013 nur 50 Schüler zum katholischen Reli-Unterricht angemeldet – dabei wohnen in dem Plattenbau-Viertel mehr als 100.000 Menschen. Der religionskritische Politologe Carsten Frerk berechnet allein die Personalkosten für den Religionsunterricht mit 1,6 Milliarden Euro und kommt zu dem Ergebnis: eine gigantische Subvention für Institutionen, denen die Felle davonschwimmen.

Man kann mit den gleichen Zahlen allerdings auch gegen die Abschaffung des Religionsunterrichts argumentieren, für die immerhin mit einer Zweidrittel-Mehrheit der Bundestagsabgeordneten das Grundgesetz geändert werden müsste. Schließlich nehmen nach wie vor in ganz Deutschland mehrere Millionen Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht teil, sehr viel mehr als am Ethik-Unterricht. Selbst in säkularen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern besuchen 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler den evangelischen Religionsunterricht, ein Prozent den katholischen – und 49 Prozent den Ethik-Unterricht, bei nur 20 Prozent Christen im Land sind das überraschende Zahlen. In Brandenburg steigt die Zahl der Kinder, die sich von ler befreien lassen und am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen, vor allem am evangelischen. Auch in Berlin entscheiden sich ungefähr 100.000 Jungen und Mädchen, neben dem verpflichtenden Ethik-Unterricht auch am Religionsunterricht teilzunehmen – zum lebenskundlichen Unterricht des Humanistischen Verbandes kommen 63.000 Kinder und Jugendliche. Wobei man präziser sagen muss, dass vor allem den Eltern der Kinder der Religionsunterricht wichtig ist: Bei den Grundschülern sind die Anmeldezahlen besonders hoch, bei den Oberstufenschülern sind sie besonders niedrig.

Reli, das Fach der nett schluffigen Lehrer, ist also nach wie vor durchaus beliebt. Insgesamt nimmt die Zahl der Schülerinnen und Schüler zwar ab, die an ihm teilnehmen, und es gibt einige Regionen in den neuen Bundesländern, in denen er in seiner bisherigen Form kaum noch aufrecht zu erhalten ist. Aber das Fach steht weder vor dem Zusammenbruch noch vor dem unaufhaltsamen Niedergang. Viele Religionslehrer sagen heute selbstbewusst: Wir bringen in die Schule, was sonst keiner leisten kann. Wir Religionslehrer unterrichten authentisch über unseren Glauben. Bei uns kommen die existenziellen Themen zur Sprache und unser Unterricht dient der Persönlichkeitsentwicklung, bei der es nicht nur auf die Noten ankommt. Und ja: Man kann nicht neutral über Religionen, über Glauben unterrichten. Es bringt jeder Lehrer seinen eigenen Glauben und Nichtglauben mit in den Unterricht, die angebliche Neutralität der Religionskunde ist ein Konstrukt. Und ein Staat, der von sich aus definiert, was der Inhalt dieser und jener Religion ist, der ist kein freiheitlicher, sondern ein übergriffiger Staat.

Der Religionsunterricht steht also auf den ersten Blick einigermaßen gesichert da: Dass der Artikel sieben des Grundgesetzes in absehbarer Zeit geändert wird, der ihn garantiert, ist arg unwahrscheinlich; in den meisten Regionen der Bundesrepublik gibt es auf absehbare Zeit genügend Teilnehmerinnen und Teilnehmer und auch die entsprechenden Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Es scheint sogar die Bedeutung des Religionsunterrichts als Ort der stellvertretenden Identitätsvermittlung zuzunehmen: Die Religionslehrer sollen an religiöser und kultureller Identität vermitteln, was die Elternhäuser nicht mehr vermitteln können.

Eine Ewigkeitsgarantie für den Religionsunterricht bedeutet dies aber nicht – in einer Gesellschaft, in der Religion nicht mehr selbstverständlich ist, muss auch der Religionsunterricht immer wieder Gründe liefern, warum es ihn weiterhin geben soll; die Antwort: „Es gibt ihn halt, weil es so im Grundgesetz steht“, wird auf Dauer kein hinreichender Grund sein. Dazu gehört sicher die Profilierung als Fach, das über die klassisch leistungsorientierten Schulfächer hinausweist. Dazu gehören aber auch die solide Wissensvermittlung und die mühsame Aufgabe, Kinder und Jugendliche in einer glaubensmäßig zunehmend indifferenten Welt sprach- und diskursfähig zu machen. Dazu gehört auch die Frage, wo und wie weit der konfessionelle Religionsunterricht die Konfessionsgrenzen überschreiten darf, soll, gar muss. In Berlin soll es ab dem kommenden Schuljahr einen „konfessionell-kooperativen“ Religionsunterricht geben, wenn an einer Grund- oder Oberschule nicht mehr genügend Schüler für den konfessionell getrennten Unterricht zusammenkommen.

In einigen Bundesländern gibt es Kooperationsmodelle zwischen den Konfessionen, zum Beispiel in Baden-Württemberg, so weit wie in Berlin gehen die Kirchen nirgendwo sonst. Dass dies Pioniercharakter hat, wenn wohl vor allem aus der Not heraus, kann man annehmen. Zu einem wichtigen Argument für diesen Religionsunterricht sind inzwischen die Muslime geworden, die weder 1919 noch 1948 eine Rolle spielten, als der Religionsunterricht in die Verfassungen von Weimar und Bonn kam. Für sie gab es lange einen religionskundlichen Unterricht. Allein: Er wurde nicht angenommen, viele Muslime schickten ihre Kinder in irgendwelche Korankurse mit irgendwelchen Inhalten. Ein islamischer Religionsunterricht könnte dies ändern, hoffen nun die Bildungsplaner in den Ländern. Die Hälfte der Bundesländer bietet mittlerweile als Modellprojekt bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht an, in der Regel in Kooperation mit den muslimischen Verbänden; vor allem Nordrhein-Westfalens im Mai abgewählte Landesregierung arbeitete daran, diesen Unterricht flächendeckend einzuführen. Durch den Streit mit der Türkei und der Erkenntnis, wie eng die türkischislamische DTIP doch von Weisungen aus Ankara abhängig ist, droht den Organisatoren dieses Unterrichts der wichtigste Partner abhanden zu kommen. Der christliche Religionsunterricht wird sich auf absehbare Zeit ohne muslimische Hilfe begründen müssen.

Matthias Drobinski

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