Licht am Horizont?

Über die aktuellen Zahlen zu den Kirchenaustritten

Der Himmel ist blau, und viele bunte Luftballons steigen in die Höhe – ein schönes Foto gelang am 20. Mai auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg, als dort bei herrlichem Wetter die „Weltausstellung Reformation“ eröffnet wurde. Ein Foto wie gemacht für gute Nachrichten. Es ziert aktuell den Titel der diesjährigen Statistikbroschüre der EKD, und das passt, denn diesmal waren keine schlechten Zahlen zu verstecken oder zu verschleiern wie im Vorjahr (siehe zz 2016/9).

Im Gegenteil: Die Zahl der evangelischen Kirchenaustritte ist signifikant zurückgegangen: Von 211.264 im Jahr 2015 auf 190.000 im Jahr 2016. Ein Rückgang um etwa zehn Prozent. Wie kommt’s? Steht Deutschland vor einer Erweckungsbewegung? Das wäre im Jahr des Reformationsjubiläums eine schöne Nachricht.

Leider ist die Wahrheit eine andere: Der Rückgang der Austritte liegt in erster Linie daran, dass die toxischen Folgen des automatischen Abzugs der Kirchensteuer auf Kapitalerträge langsam abklingen, der vor einigen Jahren für Unruhe und stark erhöhte Austritte sorgte. Die Banken schrieben damals wenig sensibel formulierte Briefe an ihre Kunden, und viele von ihnen reagierten mit dem Kirchenaustritt. Das machte sich besonders 2014 bemerkbar, als die evangelische Kirche 270.000 Austritte zu beklagen hatte – fast doppelt so viele wie 2013! 2015 war die Zahl der evangelischen Kirchenaustritte schon wieder um fast 60.000 gesunken. Und 2016 nun nochmal um 20.000. Es könnte durchaus sein, dass diese erfreuliche Entwicklung die nächsten Jahre anhält, denn ein Blick in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte lehrt, dass Effekte, die zu stark erhöhten Kirchenaustritten führen – Anfang der Neunzigerjahre war es zum Beispiel die Einführung des Solidaritätszuschlags, der mit 7,5 Prozent der Lohnsteuer in ähnlicher Höhe lag wie die Kirchensteuer – über eine Frist von einigen Jahren wieder abklingen.

Das scheint jetzt auch im Falle der Kirchensteuer auf Kapitalerträge so zu sein. Bis allerdings so niedrige Austrittszahlen wie 2006 erreicht werden – damals verließen nur gut 120.000 Menschen die evangelische Kirche – kann es noch eine Weile dauern.

Mit Kirchenaustrittszahlen wird gerne Politik gemacht. Unterschiedliche kirchliche Interessengruppen behaupten dann, dass weniger Menschen aus der Kirche austräten, wenn sich „die Kirche“ in ihren öffentlichen Äußerungen und ihrem Auftreten anders verhielte, nämlich so, wie es die jeweiligen Interessengruppen gerne hätten. Die Konservativen hätten es gerne konservativer, die Progressiven gerne progressiver. In der Tat, 2010 bis 2013, also kurz bevor die Malaise mit der Kapitalertragssteuer die Zahl der Austritte in beiden großen Kirchen in die Höhe trieb, hatte besonders die römisch-katholische Kirche mit einigen negativen, inhaltlichen Faktoren zu kämpfen, zum Beispiel mit der Aufdeckung schlimmer Missbrauchsfälle oder dem Skandal um den Bau der Bischofsresidenz in Limburg. Diese hatten dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Kirchenaustritte 2013 bereits auf einem recht hohen Level befunden hatte.

Ansonsten allerdings – das lehrt der Blick auf die langfristigen Entwicklungen – sind Kirchenaustrittszahlen kaum konkret inhaltlich konnotiert. Sie sind letztlich als Kollateralschäden des Traditionsabbruchs in unseren Breiten in Kauf zu nehmen. Traurig, aber wahr.

Reinhard Mawick

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Meinung"