Stiefmütterlich behandelt

Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften müssen mehr für die Mitte tun
Wichtiges Thema für die Mitte: Die Ausstattung der Schulen. (Foto: dpa)
Wichtiges Thema für die Mitte: Die Ausstattung der Schulen. (Foto: dpa)
In den großen Debatten sind die klassischen Arbeitnehmer vernachlässigt worden, kritisieren Gert G. Wagner, Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW), und Anselm Mattes, Manager der Econ GmbH, die das DIW berät. Sie räumen mit dem Mythos auf, die Zahl der regulär Beschäftigten sei drastisch zurückgegangen und skizzieren, was für sie getan werden muss.

Die Mitte der Gesellschaft ist nach wie vor groß. Sie verschwindet keineswegs, trotz manch gegenteiliger Behauptungen. In den vergangenen Jahren ist die Mitte in Deutschland und Europa in den großen Debatten ignoriert worden, weil sich der intellektuelle, politische und öffentliche Diskurs vorrangig auf die Ränder der Gesellschaft – reich wie arm – konzentriert hat. Dabei ist vielfach vergessen worden: Nur wer die Mitte der Gesellschaft erreicht und so eine Mehrheit findet, kann auch denen wirksam helfen, die unterhalb der Mitte sozial positioniert sind.

Zuerst einmal ist festzuhalten: Seit 2005 wachsen in Deutschland ökonomische Ungleichheit und Armut keineswegs mehr systematisch an – wie dies einige Jahre zuvor der Fall war. Ob man einen Anstieg der Armuts-Risikoquote von 14,7 Prozent im Jahr 2005 auf 15,7 Prozent in 2015 als einen bedeutsamen Anstieg interpretiert, hängt sicherlich von der Perspektive des Betrachters ab. Denn ein Prozent der Bevölkerung bedeutet ungefähr 800.000 Menschen. Und das entspricht der Einwohnerschaft einer Großstadt und ist damit bedeutsam. Aber werden Armut und Armutsrisiko mit der statistischen Erhebung des Mikrozensus oder anderen gängigen Statistiken wirklich so genau gemessen, dass die Veränderung von einem Prozentpunkt aussagekräftig ist? Im Mikrozensus werden die Einkommen nur grob erfragt. Ein Sprung in den Armuts-Statistiken für 2015 geht zudem auf die bessere Erfassung von Zuwanderern nach Deutschland zurück und hat nichts mit einer systembedingten gesellschaftlichen Verarmung zu tun.

Gegenüber immer neuen Alarmmeldungen ist also Skepsis angebracht. Dass diese keine bloße akademische Spitzfindigkeit ist, zeigen andere Statistiken: Noch nie waren die Menschen im wiedervereinigten Deutschland so zufrieden wie gegenwärtig. Richtig ist aber auch, dass wir inzwischen viele Beschäftigungsverhältnisse zählen, die der Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich widersprechen. Etliche Unternehmer haben aus prekärer Beschäftigung Geschäftsmodelle entwickelt, die Rechtsnormen untergraben. Deswegen war es wichtig, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen. Und deswegen ist es wichtig, der Leiharbeit und den Werkverträgen einen Rechtsrahmen zu geben. Und Minijobs in Unternehmen sollten ebenso auf den Prüfstand kommen.

Allerdings zeigen Auswertungen des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP): Die meisten prekären Beschäftigungsverhältnisse sind nicht zu Lasten der ganz normalen Arbeitsplätze entstanden. Die regulär beschäftigte Arbeitnehmermitte verschwindet also nicht. Aber schaut man genau hin, sieht man, dass eine ganz andere Gruppe bröckelt. Der Anteil der Nichterwerbstätigen an der Bevölkerung zwischen 18 und 67 Jahren hat in den vergangenen 30 Jahren abgenommen. Gleichzeitig gibt es eine wachsende Zahl von Frauen und Männern, die befristet, in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sowie in der Solo-Selbstständigkeit gelandet ist. Die Zunahme dieser nichtnormalen Beschäftigung ging – in der Makrobetrachtung – zu Lasten der Nicht-Erwerbstätigkeit, vor allem der von (Haus-)Frauen.

Der Zuwachs prekärer Beschäftigungsformen ging zunächst nicht auf das Konto geldgieriger Kapitalisten. Am Beginn dieser Entwicklung standen vielmehr schwerwiegende politische Fehlentscheidungen: Wechselnde Koalitionen haben die Mitte, vor allem die Arbeitnehmermitte, seit 30 Jahren nicht mehr wirklich unterstützt. Drei Beispiele: Es gab – erstens – in weiten Teilen unseres Landes kein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuung, das beiden Elternteilen oder Alleinerziehenden erlaubt hätte, einer ganz normalen Beschäftigung nachzugehen. Zweitens: Das BAFÖG wurde und wird so stiefmütterlich behandelt, dass Studierende aus Familien der Arbeitnehmermitte kaum mehr auf eine solche Förderung rechnen können. Hunderttausende müssen sich ihr Studium vielmehr als Minijobber verdienen. Und drittens hat die staatliche Forcierung von Minijobs im Jahr 2003 in der Privatwirtschaft die Kreativität vieler Arbeitgeber beflügelt, Wettbewerb zu Lasten von Beschäftigten auszutragen.

Für einzelne Arbeitgeber, deren Geschäftsmodell nicht Qualität ist, sondern Dumping, kamen Fehlsteuerungen wie diese offenbar gerade recht. Sie etablierten im Handel, in den Schlachthöfen oder Hotels eine Arbeitskultur, in der eine Arbeit, die einst für ein gutes Auskommen sorgte, von einer ungleich größeren Zahl prekär Beschäftigter ausgeübt wurde. Es gab also durchaus Verdrängungseffekte in nennenswerter Zahl. Aber im Gesamtbild hat nicht die sozial abgesicherte Beschäftigung in Voll- und in Teilzeit abgenommen, sondern die Nichterwerbstätigkeit. Der Anteil ganz normaler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zu denen heutzutage auch alle gezählt werden sollten, die einer regulären Teilzeitarbeit von mehr als 19 Stunden in der Woche nachgehen, ist seit Mitte der Achtzigerjahre so gut wie stabil geblieben, bei rund 75 Prozent der Frauen und Männer zwischen 18 und 67 Jahren. Allerdings muss man auch feststellen, dass die realen Brutto- und Nettoeinkommen dieser Arbeitnehmermitte von etwa 1991 bis in jüngste Zeit stagnierten. Aber seit einigen Jahren geht es langsam aufwärts. Jüngste Analysen zeigen, dass innerhalb von fünf Jahren etwa die Hälfte der Geringverdiener deutlich besser bezahlt wird. Seit etwa 2006 wird auch der Anteil der Niedrigverdiener an allen Beschäftigten nicht mehr systematisch größer.

Wer in Deutschland politische Mehrheiten finden will, der muss sich fragen: Nützt das, was ich fordere und tue, der breiten Arbeitnehmermitte? Baue ich damit Menschen Brücken von der Prekarität zu einem sozial sicheren und besseren Leben? Ausgangspunkt aller Überlegungen muss aber sein, dass die Bundesrepublik kein Land ist, in dem 80 Millionen bedauernswerte und schutzbedürftige Frauen und Männer leben. Die Mehrheit der Menschen zählt sich vielmehr zur Mittelschicht und ist mit ihrem Leben zufrieden. Aber viele von ihnen beschleicht das Gefühl, dass es nicht immer so gut bleiben kann. Diese Sicht auf die Welt wird von einer Sorge um Flüchtlingszuwanderung gespeist, von Fremdenfeindlichkeit und der Angst vor der Globalisierung. Konkrete persönliche Zukunftssorgen beziehen sich aber (nahezu) ausschließlich auf die eigene Absicherung im Alter, Rentenhöhe und Renteneintrittsalter sowie – wenn auch deutlich seltener – auf die Sicherheit des Industriestandorts Deutschland und des eigenen Arbeitsplatzes.

Sowohl repräsentative Statistiken wie auch anekdotische Evidenz zeigen: Normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durchaus reale Probleme, so gut es ihnen im Durchschnitt auch geht. Das ist der Fall, wenn man sie mit der Kindererziehung, beruflichen Weiterbildung (die Digitalisierung kommt) und der Wohnungsnot alleine lässt. Sie haben weiter ein Problem damit, wenn sie nicht wissen, wie sie Arbeit und Pflege von Verwandten nebeneinander organisieren sollen. Sie haben ein Problem damit, wenn der Wechsel zur Teilzeit eine Sackgasse in der Arbeitsbiografie bedeutet. Sie haben ein Problem damit, wenn die Bruttoeinkommen zwar steigen, nicht aber die realen Nettoeinkommen. Sie haben ein Problem damit, wenn ihre Rente schlechtgeredet statt sicherer gemacht wird. Vor allem hat die am besten ausgebildete aktive Generation in Deutschland und Europa ein Problem damit, dass sie ignoriert wird, weil sich der intellektuelle, politische und öffentliche Diskurs vorrangig auf die Ränder der Gesellschaft konzentriert.

Mit einer besseren Kinderbetreuung, einem auskömmlichen BAFÖG und der schrittweisen Abschaffung von Minijobs in der Privatwirtschaft liegen ganz konkrete politische Maßnahmen auf der Hand. Im Einkommensteuerrecht sollte die Teuerung jährlich ausgeglichen werden, die Zeit der heimlichen Steuererhöhungen durch einen starren Tarif sollte zu Ende gehen. Und das Ehegattensplitting ist immer schwerer zu rechtfertigen. Denn nur wer die breite Mitte der Gesellschaft hinter sich hat, kann denen helfen, die in weniger guten sozialen Lagen stecken. Insbesondere Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler reden gerne von Chancengleichheit. Statt umzuverteilen sollen bessere Chancen ermöglicht werden. Mal abgesehen davon, dass Steuergeld auch für ein besseres Bildungssystem, das Chancengleichheit befördert, ausgegeben werden muss, stellt sich die Frage: Wie lange dauert es, bis bessere Bildung und mehr Chancengleichheit wirken?

Chancengleichheit bedeutet auch eine höhere soziale Mobilität. Und die macht vielen Menschen Angst. Neue Chancen sind auch mit Risiken verbunden. Dann ist der eigene Platz in der Gesellschaft nicht mehr von Geburt an festgelegt. Und selbst perfekte Chancengleichheit kann nicht verhindern, dass einigen Menschen auch in Zukunft nur mit staatlichen Leistungen geholfen werden kann. Und im Übrigen ist mit mehr Chancengleichheit denjenigen nicht geholfen, die so alt sind, dass sie ihre Qualifikation nicht mehr nennenswert verbessern können. Mehr Chancengleichheit bedeutet auch, dass manche ihre Privilegien verlieren werden. Beispielsweise haben viele Eltern in der Mittelschicht Angst, dass es ihren Kindern in einer dynamischen Gesellschaft eines Tages schlechter gehen wird als ihnen selbst. Denn Chancengleichheit bedeutet auch, dass weniger begabte Kinder der Mittel- und Oberschicht (relativ) absteigen können.

Wer mehr Chancengleichheit durch mehr Leistungswettbewerb verwirklichen will, wird dafür nur dann Mehrheiten finden, wenn er die Angst vor Abstiegen vermindern kann. Das ist sehr schwer, aber es stehen Instrumente zur Verfügung, die die meisten Ökonominnen und Ökonomen jedoch nicht gerne einsetzen: progressive Besteuerung und möglichst großzügige Transfers für diejenigen, die ganz unten in der sozialen Hierarchie gelandet sind. Politik für die nach wie vor breite Mitte der Gesellschaft zu machen, bedeutet: Die Kindererziehung wird erleichtert, und die Schulen werden besser. Auch die Weiterbildung muss nicht nur aufgrund der zunehmenden Digitalisierung verbessert werden. Mehr bezahlbarer Wohnraum muss geschaffen und die Pflege von Verwandten erleichtert werden. Bei all dem kann der Staat viel tun. Politik für die Mitte bedeutet aber auch, dass die Einkommen von Spitzenmanagern in einem plausiblen Verhältnis zu den Einkommen der Arbeitnehmermitte stehen müssen.

Allerdings ist für die Politik das Bedürfnis der Mitte nach guter Arbeit schwer einzulösen – wie der Wechsel von Teilzeit in Vollzeit oder das Problem der permanenten digitalen Erreichbarkeit. Hier sind die Gewerkschaften gefordert. Aber deren Stärkung kann der Staat nicht verordnen. Helfen könnte, wenn sich die Gewerkschaften neu auf die Mitte der Gesellschaft konzentrieren. Wer die breite Arbeitnehmermitte politisch erreichen will, darf sich nicht darauf beschränken, nur die Chancengleichheit zu verbessern. Aufstiege dürfen nicht zu extrem hohen Einkommen führen und Abstiege nicht mit zu großen Einkommensverlusten einhergehen. Deswegen sind in Deutschland – im Interesse der Chancengleichheit – wieder höhere Spitzensteuersätze bei der Einkommenssteuer und deutlich höhere Steuersätze für große Erbschaften sinnvoll. Im Interesse des Ziels der Chancengleichheit, das über das gesamte politische Spektrum hinweg konsensfähig ist, ist also mehr Umverteilung von oben nach unten nötig. Nicht als Selbstzweck oder aus Neid, sondern auch um Mehrheiten zu finden für die Verwirklichung von mehr Chancengleichheit.

Hinweis: Der vorliegende Text liegt in alleiniger Verantwortung der Autoren, die ihre persönliche Meinung wiedergeben, nicht die des DIW.

Anselm Mattes und Gert G. Wagner

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