Die digitale Gretchenfrage

Die Kirchen müssen in den sozialen Netzwerken präsenter sein
Foto: epd
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Bis zu drei Stunden ist der Durchschnittsdeutsche täglich online. Doch die Kirche begegnet ihm in der digitalen Welt viel zu selten, meint Jonas Bedford-Strohm. Der Sohn des EKD-Ratsvorsitzenden arbeitet als Journalist in der digitalen Entwicklung des Bayerischen Rundfunks und forscht am Lehrstuhl für Medienethik der Hochschule für Philosophie in Heidelberg über die ethischen und sozialen Implikationen der Digitalisierung.

Na, wie hast Du’s mit der Digitalisierung? Wie alle Institutionen suchen auch die Kirchen in Deutschland nach einer Antwort auf das, was Jürg Müller in der NZZ die Gretchenfrage des angebrochenen Jahrhunderts nannte. Zwar ist weder das protestantische noch das katholische Kirchenmilieu bisher als bekennender Treiber der digitalen Revolution aufgefallen. Aber auch hier hat ein tiefgreifender Umwälzungsprozess begonnen. Ohne Zweifel langsamer als manches Ministerium oder Teile des öffentlich- rechtlichen Rundfunks, und etwa eine Generation nach den digitalen Pionieren in der freien Wirtschaft, nehmen die Kirchen die Herausforderung, ihren Gründungsimpuls auch im digitalen Raum zu verwirklichen, als eine ihrer Grundaufgaben an.

Manch einer wird sagen: Weg mit dem Teufelszeug! Aber eine immer größer werdende Gruppe kann immer weniger nachvollziehen, warum die Kirche sie alleine lässt, sobald sie Computer, Smartphone oder Tablet in die Hand nehmen. Denn die digitale Vernetzung bietet unverhoffte Möglichkeiten für die Kirche, wieder näher an die Menschen zu kommen und als täglicher Begleiter buchstäblich hautnah in der Hosentasche zu stecken, griffbereit im Rucksack zu sein, oder morgens und abends dort zu liegen, wo früher bei allen die Bibel lag – auf dem Nachttisch.

Auch wenn das digitale Potenzial der Kirchen noch lange nicht ausgeschöpft ist, gibt es eine Reihe von Vorzeigeprojekten, die weltweit als Leuchttürme herausragen: Der Papst zum Beispiel, oder zumindest sein Team, nutzt Twitter-Kanäle auf neun verschiedenen Sprachen, um seine fast 30 Millionen Follower mit prägnanten Worten an Grundwahrheiten des christlichen Glaubens zu erinnern. So nah und so regelmäßig ist das geistliche Wort zumindest im analogen Raum für viele Jugendliche nur selten. Und wer nun ins Feld führt, dass aufgrund der Zeichenbegrenzung auf Twitter nichts als belanglose Phrasen zu teilen ist, der sei erinnert: Keine der Seligpreisungen der Bergpredigt ist länger als 140 Zeichen.

Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie 2016 verbringen die Deutschen etwas über zwei, Nutzer mit mobilen Geräten sogar fast drei Stunden täglich online – zumeist ohne die Kirche auf dem Schirm zu haben. Unternehmen wie Google und Amazon arbeiten mit ihren intelligenten Hausgeräten zwar schon seit längerem an sogenannten Zero-User-Interface- Geräten ohne Bildschirm. Wenn man aber bedenkt, dass diese Geräte oft nur in Verbindung mit Bildschirmen wirklich kreativ zu nutzen sind, das Smartphone unter Jugendlichen flächendeckend verbreitet ist und auch bei älteren Menschen die Zahl der Smartphonenutzer steigt, ist davon auszugehen, dass die Nutzung von digitalen Medien mit Bildschirm noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat.

Kurzum: Die Digitalisierung ist längst im Gange, ob es uns passt oder nicht. Vor einer proaktiveren Digitalpolitik werden sich also auch die Kirchen nicht dauerhaft verschließen können, wenn sie sich nicht schleichend aus den praktischen Lebensvollzügen der Menschen verabschieden wollen. Da Kommunikation für die Mehrheit der Nutzer im digitalen Raum die Hauptaktivität ist, käme eine Verweigerung der Präsenz in diesem Raum einem Affront gleich. Mancher wird sich ob der eher rudimentären Präsenz vieler Kirchen in den sozialen Netzwerken schon gefragt haben, ob die Kirche überhaupt noch mit ihm reden will.

Wenn ich nach dem Studium von Heidelberg nach München ziehe und die städtischen Verkehrsbetriebe mich ungefragt willkommen heißen, aber die Kirche nicht, obwohl ich den lokalen Kirchgemeinden im Gegensatz zu den Verkehrsbetrieben meine persönlichen Daten liebend gerne zur Verfügung stelle, fühlte ich mich nicht willkommen. Zwar resultiert das Verhalten der Kirchengemeinden vermutlich aus einer berechtigten Sorge um die (digitale) Nutzung von Daten, wirklich verständlicher wird es in meinem alltäglichen Lebensvollzug dadurch aber nicht. Ein ehrenwertes Missverständnis scheint sich durchgesetzt zu haben: In einer Zeit, in der hunderte von Unternehmen und Organisationen persönliche Daten von uns haben und offensiv zur Kommunikation mit uns nutzen, wirkt die Enthaltsamkeit der Kirchen nicht wie Fürsorge für das von Datenkraken bedrohte Individuum, sondern schlicht wie Desinteresse. Viele potenziell kirchenaffine junge Menschen fragen sich: „Warum gibt es kaum digitale Gemeinschaft in der Kirche, die auch dann bestehen bleibt, wenn sich mein Wohnort ändert?“

Oder schlimmer – sie fragen erst gar nicht mehr. Der Kontakt zu den Kirchen fehlt vielen jungen Leuten heute, und der Traditionsabbruch zwischen den Generationen ist schon weit vorangeschritten. Die Sinnfragen bleiben, aber die Suche nach Antworten bei Institutionen ist nicht en vogue. Was zunächst als legitime Befreiung von illegitim bevormundenden Mächten begann, ist heute einem latent bis offen vorurteilsbehafteten Grundgestus der Ablehnung gewichen. Die vom Sinus-Institut mit öffentlich-rechtlichen Partnern durchgeführte Jugendstudie „Generation What?“ kommt zu dem Ergebnis, dass 83 Prozent der18- bis 34-Jährigen religiösen Institutionen „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ vertrauen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Bundesrepublik ein Projekt, das im 20. Jahrhundert seinesgleichen sucht: Aus den Ruinen eines totalitären, militaristisch-heroischen Führerstaats wuchsen neue, freiheitsverbürgende Institutionen einer liberal-demokratischen Gesellschaft wie sie auf deutschem Boden noch nie probiert worden war. Und das Experiment ist geglückt. Bis heute ist die Bundesrepublik einer der freiesten Staaten der Geschichte. Doch trotz des Leitbildes der wehrhaften Demokratie wuchs im Laufe der Zeit die Skepsis gegenüber den Institutionen, die diese Demokratie stützten. Besonders die Generation, die nicht mehr selbst am Aufbau der Institutionen nach dem Krieg beteiligt war, hat erste Symptome einer nachlässigen Arroganz entwickelt. Das implizite Motto lautete: „Wer braucht diese Institutionen denn noch – es passt doch alles hier!“ Dass diese Praxis, selbst wenn sie nicht explizit propagiert wurde, langfristig das Vertrauen und den Willen zur Mitarbeit und Weiterentwicklung in den Institutionen erodiert, wird jetzt deutlich. Besonders für die Kirchen ist diese Entwicklung bei jungen Menschen alarmierend.

Die starke Vertrauenskrise von öffentlichen Institutionen und der eklatante Traditionsabbruch in Fragen von Orientierung und Glauben unterstreichen einmal mehr die Bedeutung der zaghaften kirchlichen Initiativen im digitalen Raum. Zumindest Teile der Kirche haben das Thema prinzipiell erkannt und machen sich immer mehr Gedanken, wie die Kirche den Mitgliedern und der Gesellschaft mit welchen Medien am besten helfen und auch im digitalen Raum täglich zur Seite stehen kann. Wenn sie auch in Zukunft eine für alle relevante Kirche sein will, muss sie ihre Präsenz dort drastisch verstärken. Sie muss auch digital in der gesellschaftlichen Kommunikation mitmischen und das Gespräch über den Glauben aus allen Ebenen und Kontexten heraus milieuübergreifend suchen. Sie muss suchen nach der richtigen Balance zwischen digitaler Kommunikation und persönlicher Begegnungen – und dabei ein strahlendes Beispiel für ganzheitliche Gemeinschaft vorleben. Und sie muss sich intensiv Gedanken machen, wie sie Medien Genre-sensibel einsetzen kann. Denn ganz im Ernst: Wieso sollte die christliche Botschaft auf Papier oder Kanzel wahrer sein als auf Facebook, Whats- App und Twitter?

Jonas Bedford-Strohm

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