Präzise

Über Inklusion
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Endlich ist es da: das Buch, das die ersten Schritte auf dem langen Weg schildert.

Endlich ist es da: das Buch, das die ersten Schritte auf dem langen Weg schildert, der uns von der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen zu einem Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung führen wird. Gleich vorweg: Das Buch ist prall mit Erfahrung gefüllt, stark in den persönlichen Schilderungen und präzise bei dem Versuch, die Fortschritte und Rückschläge bei dem Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderungen in die Zeitgeschichte einzuordnen. Man genießt es, darin zu lesen, durch Originaldokumente zu blättern und in einer Familienbildungsstätte in Hamburg-Lokstedt den Geburtsort einer theoretisch und praktisch durchdachten Inklusion zu entdecken.

Die Stärke des Buches ist die Systematik seiner Darstellung. Zunächst wird an die Abwehr von Behinderung erinnert, also an das Verschweigen und Abschotten von Behinderten in Anstalten und das Töten von Behinderten. Kirche und Gesellschaft gewinnen aus diesen „gefährlichen Erinnerungen“ Perspektiven, die „eine andere Zukunft in sich tragen“. Bis weit in die Siebzigerjahre hinein wurden Menschen mit Behinderungen noch „versorgt“. Jederzeit kann die Versuchung eines solchen „alten Denkens“ wiederaufleben.

Eva Bohne zeigt dann an eigenen Erfahrungen, wie aus der gemeinsamen Beratung mit Eltern behinderter Kinder und deren Kompetenz intuitiv eine sozialintegrative Pädagogik gefunden wird.

So wird der Paradigmenwechsel deutlich, der einem pädagogischen Ansatz entsprang: dem Besprechen des Alltags mit Behinderten. Die originäre Kompetenz im Umgang mit der Behinderung der Kinder und der eigenen Behinderung wurde mit der Fachkompetenz zusammengebracht. Der Alltag der Eltern mit Kindern wurde zum Anlass, die Schule, die Ausbildung, den Beruf und den Übergang in die Selbstständigkeit als Lebensbereiche für ein Miteinander zu erobern. Behörden und Ämter, Einrichtungen und Institutionen, schließlich auch kirchliche und diakonische Werke haben sich diesem Nachdenken geöffnet.

Ebenso klar wird aber auch, dass es Gegenkräfte gab und gibt: Da beansprucht die Diakonie auf dem Gebiet der Behindertenhilfe ihr Monopol; denn eine Bildungseinrichtung kann nicht Kinder mit Behinderungen und deren Eltern gerecht werden. Und doch ist dadurch die richtige Spur gelegt.

Im dritten Teil geht es um Zumutungen für Kirche und Theologie. Würde deren Menschenbild „aus dem Rollstuhl“ heraus entwickelt, so fänden sie zu geerdeteren Gottesvorstellungen. Deren Merkmale: Zuwendung und Verständnis, Humor und Widerstand gegen alle Verlockungen der Allmacht. Eine lebensfreundliche Gestaltung des Alltags für Menschen mit und ohne Behinderungen, für Junge oder Alte, für Menschen, denen ein Unfall oder eine Krankheit engere Grenzen gesetzt hat. Vor allem aber gäbe es nicht „Objekte der Versorgung und Barmherzigkeit“, sondern Subjekte mit einem selbstbestimmten Leben. Eva Bohne selbst beschreibt solche Aufbrüche der Theologie und wie Initiativen des Weltkirchenrates sich in einem Hamburger Kirchenkreis auswirken. Diese „Einblicke in unsere jüngste Zeitgeschichte“, so der Untertitel, weisen perspektivisch in die Zukunft. Unabweisbar ist eines: Die bisher erreichten Erfolge sind dringend auch rechtlich und völkerrechtlich abzusichern.

Wolfgang Vogelmann

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