Jeremia, die Heulsuse

Sarah Köhler findet Neues zu einem berühmten Propheten und Klagepriester
Foto: Andreas Schoelzel
Foto: Andreas Schoelzel
Am Anfang klagte Jeremia nur, und erst viel später wurde er Prophet – das hat Sarah Köhler, Theologin in Jena, in ihrer Dissertation herausgefunden.

Zu Beginn meines Studiums schrieb ich mich zunächst für das Hauptfach Klassische Archäologie ein, denn alles, was damit zusammenhängt, hatte mich schon als Kind fasziniert. Dazu wählte ich Altorientalistik und Biologische Anthropologie als Nebenfächer. Ich merkte dann aber schnell, dass mein Hauptfach kaum auf dem Grabungsfeld, sondern vielmehr am Schreibtisch stattfinden würde. Also bin ich nach nur zwei Wochen umgeschwenkt auf Theologie. Allerdings war mir von vorherein klar, dass ich nicht Pfarrerin werden wollte. Nach einigen Semes-tern strukturierte ich mich dann nochmal um, studierte schließlich Altorientalistik als zweites Hauptfach und gab Biologische Anthropologie auf – alles geht eben nicht.

Meine beiden Hauptfächer habe ich sehr gerne zu Ende studiert, denn sie ergänzten sich perfekt. Bei der Promotion entschied ich mich für die Theologie, da ich persönlich glaubte, dass ein „Dr. theol.“ auch außerhalb der Universität, also auf dem freien Arbeitsmarkt, noch andere Möglichkeiten bereithält. Also habe ich den „Dr.-theol.-Weg“ beschritten, bin aber trotzdem in meiner Arbeit immer interdisziplinär geblieben zwischen Theologie und Altorientalistik.

Zum Thema meiner Arbeit kam es eher zufällig: Mein späterer Doktorvater an der Universität Jena, Hannes Bezzel, hatte ein dreijähriges Promotionsstipendium der Evangelischen Landeskirche in Mitteldeutschland für das Themenfeld „Jeremia und die deuteronomistische Redaktion“ zu vergeben. Ich war gerade mit dem Magister fertig, da wurde mir die Stelle quasi auf dem Silbertablett angeboten. Ich musste nur zugreifen – da hatte ich wirklich Glück. Zudem konnte ich das Thema ein wenig in Richtung Alter Orient anpassen, Jeremia blieb dabei bestehen. Nach einer umfänglichen Einarbeitungszeit in das alttestamentliche Prophetenbuch entschied ich, dass es in der Dissertation um die Klagetexte in den angenommenen Grundtexten des Jeremia-Buchs und die entsprechenden alt-orientalischen Vergleichstexte gehen soll. Das hatte den Vorteil, dass ich weiterhin interdisziplinär zwischen Theologie und Altorientalistik arbeiten konnte. Der Titel meiner Arbeit, die gerade erschienen ist, lautet nun „Jeremia – Fürbitter oder Kläger? Eine religionsgeschichtliche Studie zur Fürbitte und Klage im Jeremiabuch“.

Seit den Achtzigerjahren gelten die Kapitel vier bis zehn als älteste Schicht des Jeremiabuches. Es handelt sich zum einen um Klagetexte, in denen die Zerstörung einer Stadt bedauert wird, und zum anderen um die Berichte von dem „Feind aus dem Norden“, der dieses Unheil herbeiführt. Die Klagetexte dieser Kapitel sind der Forschung oft ein Rätsel gewesen: Warum beginnt ein Prophetenbuch mit Klagen, in denen Jeremia, die Hauptperson, überhaupt nicht vorkommt? Wer ist der Kläger, und wie wurde aus dem Kläger der Prophet Jeremia?

Diesen Fragen bin ich in meiner Arbeit nachgegangen, indem ich die Texte aus dem Buch Jeremia mit einem großen altorientalischen Textkorpus verglichen habe, das über 1?500 kultische Texte in verschiedenen Gattungen enthält. Dort gibt es viele Texte, die vom Inhalt her denen im Jeremiabuch sehr ähnlich sind und in denen es um das kultische Beklagen von Städten geht, die zerstört wurden.

Ich habe in meiner Arbeit herausgefunden, dass die entsprechenden Texte im Jeremiabuch starke thematische und motivische Gemeinsamkeiten mit diesen kultischen Texten aufweisen, die ein Klagepriester, ein sogenannter kalû vorgetragen hat. Dieses kultische Amt ist in Mesopotamien vom ausgehenden dritten bis zum Ende des ersten Jahrtausends belegt und hat eine lange Tradition. Die wichtigste Aufgabe des kalû im Alten Orient war es, durch seine gesungenen Klagen die Herzen der Götter zu beruhigen, um Unheil, wie eben die Zerstörung von Städten, abzuwenden.

Das hat nun gar nichts mit Prophetie zu tun, denn ein Prophet ist ja jemand, der eine Botschaft Gottes für die Zukunft ansagt. Was ist also in der Textgeschichte des Jeremiabuches passiert? Kurz gesagt: Die Klagen mit ihren Unheilsbeschreibungen werden literarisch zu Ankündigungen des Unheils umgestaltet. Und für diese Ankündigung des Unheils braucht man dann noch einen gottinspirierten Ankündiger, einen Propheten, und das ist dann auf der letzten literarischen Stufe Jeremia. Dahinter steht der theologische Wunsch der Autoren nach der Zerstörung Jerusalems: „Es wäre gut gewesen, wir hätten es vorher gewusst.“ Jeremia war also nur literarisch Prophet und nicht historisch. Deswegen können wir die Suche nach einem Propheten Jeremia zumindest in diesen Grundschriften aufgeben. Durch diese Ergebnisse lassen sich auch viele weitere Spezifika des Jeremiabuches besser erklären, auf die ich in meiner Arbeit ebenfalls eingehe.

Ich bin übrigens sehr froh, dass ich ein Stipendium hatte, um die Dissertation zu schreiben. Ich konnte mich so voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren und habe es zudem noch geschafft, ein Fernstudium in Projektmanagement zu machen, wer weiß, wozu das nochmal gut ist.

Eine wichtige Hilfe war auch meine liebevoll von mir benannte „thulb-Gruppe“. Das sind die Menschen, die ich während des Schreibens meiner Dissertation in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek – kurz thulb – kennengelernt habe. Unter ihnen habe ich in den vergangenen Jahren richtig gute Freunde gefunden, zum Beispiel eine Kunsthistorikerin und einen Ur- und Frühgeschichtler. Wir haben unsere Tage gemeinsam strukturiert, und haben – als jeweils Fachfremde – die Texte der anderen gelesen, das war als Korrektiv sehr gut. Insofern war das Ganze überhaupt nicht so einsam, wie man vielleicht denkt. Im Gegenteil: Wir hatten in den Jahren viel Spaß und haben uns zum Beispiel witzige One-Sentence-Charakterisierungen unserer Arbeiten ausgedacht. Ich habe, was mein Thema betrifft, mal gesagt: „Jeremia war eine richtige Heulsuse.“ Das ist natürlich nicht wirklich ernst gemeint, aber es bringt auf den Punkt, dass Jeremia eben viel eher Klagepriester war und erst im späteren literarischen Prozess zum Propheten umstilisiert wurde.

Auf jeden Fall unterstützt das Ergebnis meiner Arbeit die Erkenntnis der biblischen Wissenschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist: Das alte Israel war kulturell, religiös und literarisch sehr viel mehr mit seiner orientalischen Umwelt verbunden als man in der Theologie lange gemeint hat.

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

Sarah Köhler

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