Auf Mottentour in Beelitz

Wo Tuberkulosekranke vor 100 Jahren auf Heilung hofften
Der Beelitzer Baumkronenpfad mit dem ehemaligen Alpenhaus, der Frauenheilstätte B4.
Der Beelitzer Baumkronenpfad mit dem ehemaligen Alpenhaus, der Frauenheilstätte B4.
Im brandenburgischen Beelitz-Heilstätten, knapp fünfzig Kilometer südwestlich von Berlin, führt Irene Krause durch ein einzigartiges Relikt der Sozial- und Architekturgeschichte. Die Heilstätten waren vor 100 Jahren die größten und fortschrittlichsten Sanatorien ihrer Zeit. Ein Blick zurück.

"Wertes Fräulein Erna, ich kann Ihnen mitteilen, dass ich mich in den ersten acht Tagen meines Hierseins sehr gut erholt habe. Alle Tage Sonnenbäder, desgleichen Kohlesäure- und Lichtbäder, dreimal in der Woche Ausflug in die Umgebung. Wunderbarer Wald, erstklassiges Essen. Für Unterhaltung ist reichlich gesorgt. Kurkapelle 1a. Man lebt wie ein Baron, nur leider auf kurze Zeit. Viele Grüße an Sie, Ihre Mutter und Willi sendet Karl Schmidt.“ Diese Zeilen schickt der junge Mann am 31. Juli 1925 auf einer Postkarte an Fräulein Erna Dahle in Berlin Südost 33. Ähnlich beschreibt es eine Frau: „Meine Kur besteht nur im Essen, Liegen und Spazierengehen, wir tun den ganzen Tag nichts anderes als baronisieren.“ Sie und Karl Schmidt zählten zu den Hunderttausenden junger Menschen aus Berlin, die vor hundert Jahren in den Lungenheilstätten von Beelitz auf Genesung hofften, denn die schreckliche Tuberkulose, auch „weiße Pest“ genannt, kostete damals Millionen Menschen in Europa das Leben.

Meist künden die Grußkarten von der Genesung ihrer Absender.
Meist künden die Grußkarten von der Genesung ihrer Absender.

Beelitz-Heilstätten, keine fünfzig Kilometer südwestlich von Berlin, versteckt im brandenburgischen Kiefernwald, an der Landstraße 88 gelegen, war ein Ort des medizinischen und technischen Fortschritts. Seit 1994 gehört der Ort mit dem größten Flächendenkmal Brandenburgs zu den wohl bekanntesten „hidden places“ Europas. Auf über 200 Hektar erstreckt sich das Areal, das in der Zeit von 1898 bis 1930 im Stil des Backsteinexpressionismus erbaut wurde. 60 Klinikgebäude und Wohnhäuser, teilweise verfallen und baumüberwuchert, viele von ihnen dem Abriss preisgegeben, andere für Luxuswohnungen saniert – das Gebäudeensemble fasziniert wegen seines morbiden Zustands und aus konservatorischer Perspektive.

Das Männersanatorium von der Westseite mit dem Denkmal des sowjetischen Sanitäters von 1980.
Das Männersanatorium von der Westseite mit dem Denkmal des sowjetischen Sanitäters von 1980.

Eine, die hier jeden Stein und Strauch kennt, ist Irene Krause. Die zertifizierte Gästeführerin, eine Pionierin auf diesem Gelände, hat sich der Sozialgeschichte um 1900 verschrieben und erkundet seit 2001 jedes Gebäude und seine Geschichte. Sie erzählt von den Arbeitern und Tagelöhnern, die unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Berliner Hinterhöfen und Mietskasernen lebten, von ungeheizten Räumen ohne fließend Wasser, Licht und Luft. Von schwerer körperlicher Arbeit und Mangelernährung. Und von den Schlafburschen, die morgens das Bett von der Tagesschicht übernahmen.

Mit dem explosionsartigen Wachstum der Industrie stieg von 1840 bis 1914 die Einwohnerzahl Berlins auf das Zehnfache. „Das Wasser war nicht zu trinken, die Luft nicht zum Atmen“; dieser Satz charakterisiert die Situation in Europas Industriemetropolen zu dieser Zeit. Perfekte Bedingungen für die Ausbreitung von Seuchen, wie Irene Krause erläutert. So starb im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts jeder Dritte an Tuberkulose, eine Vielzahl weiterer Erkrankter war nicht mehr arbeitsfähig. Und Medikamente gegen die tückische Schwindsucht gab es noch nicht. Vor diesem Hintergrund entstanden in ganz Europa Heilstätten, 60 allein von den Landesversicherungsanstalten im Deutschen Reich, von Schlesien bis ins Ruhrgebiet, und als größte und modernste von allen, Beelitz. Federführender Architekt in der ersten Bauphase war Heino Schmieden(1835–1913), Experte für Krankenhäuser, Partner von Martin Gropius.

Großzügige Architektur entrückt vom Milieu der Wohnquartiere: Das Treppenhaus des Männersanatoriums von der Südseite.
Großzügige Architektur entrückt vom Milieu der Wohnquartiere: Das Treppenhaus des Männersanatoriums von der Südseite.

An diese Vergangenheit erinnert Irene Krause, die nur noch am rollenden R als gebürtige Fränkin zu erkennen ist, während sie mit ihren Gästen den „Mottenausflug“ unternimmt. „‚Du hast die Motten‘, war damals ein Todesurteil“, sagt Krause. Denn die Tuberkulose fraß Löcher in die Lungen, wie Motten in den Stoff. Die Folge: ein Husten in den Tod, durch Tröpfcheninfektion hochansteckend.

Was also tun? Arbeitskräfte fehlten überall. „Die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren, saubere Luft zum Atmen, gesundes und reichhaltiges Essen, genügend Schlaf und Ruhe, keine Anstrengung und nur gemäßigte Bewegung an der frischen Luft in wunderschöner Umgebung“, erklärt Krause das Konzept der Beelitzer Heilstätten.

Die 61-Jährige zeigt alte Fotos und liest Ansichtskarten von Patienten vor. Wie vor hundert Jahren stehen hier noch das Badehaus, das Männersanatorium und das Verwaltungsgebäude. Dort das Casino, wo die unverheirateten Ärzte und Angestellten ihre Mahlzeiten einnahmen – die verheirateten aßen zuhause. In diesem Haus fand sich ein Betsaal für jüdische Patienten. Für Protestanten und Katholiken gab es eine gemeinsame Kapelle mit zwei Sakristeien. Diese wurde bei der Evakuierung 1945 beschädigt und Anfang der Siebzigerjahre abgetragen. Viele der Häuser waren mit Fachwerk, Türmchen, Giebeln und Ornamenten verziert, alles unter ästhetischen Gesichtspunkten. Die vermeintlich großvolumigen Schornsteine sind dagegen Luftabzüge. Das herrschaftliche Badehaus dient heute oft als Filmkulisse; die Toten Hosen, Silly und Rammstein drehten dort Musikvideos.

Brandenburger Zauberberg

„Wenn man sieht, wie liebevoll die Einrahmungen der Fenster in den Hausliegehallen gemacht wurden, diese Häuser haben einfach eine Seele, das darf man nicht verscherbeln“, sagt Krause. Doch inzwischen gibt es verschiedene Eigentümer; Wohncontainer und Sperrzäune bekunden anstehende Bauvorhaben.

Die Patienten benutzten „Taschenfläschchen für Hustende” als Spuckflaschen. Diese Flaschen wurden auch „Blauer Heinrich“ genannt.
Die Patienten benutzten „Taschenfläschchen für Hustende” als Spuckflaschen. Diese Flaschen wurden auch „Blauer Heinrich“ genannt.

Dreh- und Angelpunkt des Areals und seiner technischen Infrastruktur war damals das Heizkraftwerk, das auch heute noch mit seinem frisch sanierten 45 Meter hohen Wasserturm alles überragt. „Es ist eine der ältesten Anlagen der Kraft-Wärme-Kopplung, die noch bis in die Siebzigerjahre Strom erzeugt hat“, berichtet Krause. Und: Es versorgte das gesamte Gelände über ein unterirdisches, mehr als zehn Kilometer langes Kanalnetz nicht nur mit Wärme, sondern auch mit Trink- und Warmwasser. Im Winter hielt es die Wege schneefrei. Seit 1996 kümmert sich der Förderverein Heiz-Kraft-Werk, dem auch Krause angehört, um die Erhaltung des Baudenkmals, dessen Eigentümer der Landkreis Potsdam-Mittelmark ist. Derzeit wird ein Pumpenhäuschen wieder hergerichtet.

Als natürliche Klimaanlage gelangte gefilterte Frischluft über ein ausgeklügeltes Leitungssystem in die Krankenzimmer. Im Original erhaltene Fliesen von Villeroy & Boch legen Zeugnis von der Wertigkeit der Baumaterialien ab. Die von Irene Krause dokumentierten Speisepläne verweisen auf die nahrhafte und reichhaltige Kost, die in Beelitz serviert wurde. Und wie waren die Heilungschancen? Auch darauf hat die sachkundige Führerin eine Antwort. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die Erfolgsquote sehr hoch. Das zeigt auch ein Beispiel aus der Lungenheilstätte der Männer. Von den 1?884 im Jahr 1926 entlassenen Patienten galten 1?487 als geheilt oder wesentlich gebessert, nur 397 von ihnen blieben erwerbsunfähig.

Nahrhafte Kost unterstützte die Selbstheilungskräfte.
Nahrhafte Kost unterstützte die Selbstheilungskräfte.

Als Heilstättenführerin leistet Irene Krause Pionierarbeit. Wie kommt eine Neuzugezogene dazu, sich der weiträumigen Krankenhausanlage anzunehmen? In die Archive hinabzusteigen, sich in Gebäude und Menschen des 19. Jahrhunderts hineinzuversetzen und ihr Wissen weiterzugeben? Über Wiesbaden und Bonn führte ihr Weg die gelernte Kauffrau nach Beelitz, wo sie eine Ausbildung zur Touristikerin absolvierte. Seitdem sind ihr die Heilstätten ans Herz gewachsen. Bei einem Archivbesuch in Bonn wertete sie alte Ausgaben der Vorwärts aus und wurde auf der Suche nach Artikeln über die Heilstätten in der Ausgabe vom 14. Mai 1912 fündig: An diesem Tage berichtete der Vorwärts über einen großen Aufstand in den Heilstätten. Anlass war ein Erlass der Landesversicherungsanstalt, der die Besuchsrechte für Patienten einschränken sollte – „wegen des geschlechtlichen Verkehrs eines männlichen Pfleglings mit einer weiblichen Person“.

Augenfällig bei einem Gang über das Gelände ist auch die Artenvielfalt des Baumbestandes. Neben Kiefern wachsen Eichen, Buchen und Trompetenbäume. Es gibt ganze Alleen mit Silberlinden und Pyramideneichen. Ein Buntspecht stolziert über den Rasen vor den Liegehallen, und ein Eichhörnchen sammelt Maronen ein.

Irene Krause engagiert sich im Förderverein Heiz-Kraft-Werk.
Irene Krause engagiert sich im Förderverein Heiz-Kraft-Werk.

Überall auf dem Gelände stehen Tafeln, die über Geografie und Geschichte der Anlage informieren. Handwerksbetriebe, Bauernhöfe, Tierzucht, eine eigene Bäckerei, eine Fleischerei, ein Postamt, die Liegehallen. Die Straße nach Fichtenwalde teilt noch heute die Gesamtanlage in Frauen- und Männerabteilungen. Auf der einen Seite waren die Frauen untergebracht, mit Wasch- und Kochküche, auf der anderen Seite die Männer. Die Bahnstrecke teilt die Sanatorien (nicht ansteckend) auf der Südseite von den Heilstätten (ansteckend) auf der Nordseite.

Das morbide Ambiente dient oft als Filmkulisse: die Männerheilstätte B1 von 1902.
Das morbide Ambiente dient oft als Filmkulisse: die Männerheilstätte B1 von 1902.
Das Klavier im Badehaus ist kein Original, sondern eine Requisite von Fotografen.
Das Klavier im Badehaus ist kein Original, sondern eine Requisite von Fotografen.

Wenig hat sich am historischen Plan der Anlage verändert. Über die Ruinen des früheren Frauenheilstättengeländes führt nun ein 320 Meter langer Pfad mit einem 40 Meter hohen Aussichtsturm. Von dort kann der Besucher das Areal mit einem spektakulären Weitblick einsehen. Unten streifen verstohlen blickende Fotografen über das Gelände. Und auch „Horrortouristen“, wie Irene Krause sie nennt.

Zur Geschichte der Beelitzer-Heilstätten gehört auch die Besetzung durch die Rote Armee im Jahre 1945. Schon fünf Jahre später richteten die sowjetischen Streitkräfte hier ihr Militärkrankenhaus ein, das größte außerhalb der Sowjetunion. Noch heute erinnern kyrillische Schriftzüge an diese Zeit. Aufsehen erregten die Heilstätten, als im Frühjahr 1990 Erich Honecker um Schutz auf dem sowjetischen Hoheitsgebiet bat und dort fast ein Jahr in einer sanierten Chefarztvilla ausharrte, um dann nach Moskau auszureisen. Ein Bruchstück der Geschichte, die Irene Krause auf ihrer Mottentour lebendig werden lässt. Samstags und sonntags, wieder und wieder.

Saniert und wieder in Funktion: die ehemalige Männerheilstätte aus dem Jahr 1907, heute Neurologie.
Saniert und wieder in Funktion: die ehemalige Männerheilstätte aus dem Jahr 1907, heute Neurologie.
Der wiederhergerichtete Wandelgang im Park der Anlage, gesäumt von Pyramideneichen.
Der wiederhergerichtete Wandelgang im Park der Anlage, gesäumt von Pyramideneichen.

Informationen

Irene Krause, Führungen - siehe Link

Führungen durch das Heizkraftwerk finden von April bis September am letzten Freitag des Monats um 14:00 Uhr statt. Treffpunkt im Innenhof oder telefonisch 03 32 04/3 47 03 und 03 32 04/3 91 67.

Baumkronenpfad, Baum und Zeit, Straße nach Fichtenwalde 13, 14547 Beelitz-Heilstätten.

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Text: Kathrin Jütte / Fotos: Hans-Jürgen Krackher

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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