Der tanzende Barth

Martin Walser: Glauben heißt Fiktionen vertrauen
Martin Walser im Advent 2016. Foto: dpa/ Felix Kästle
Martin Walser im Advent 2016. Foto: dpa/ Felix Kästle
Kein Autor der Gegenwartsliteratur hat sich in jüngster Zeit derart bohrend mit der Frage auseinandergesetzt, wie heute von Gott zu reden ist, wie Martin Walser. Der emeritierte Tübinger Theologieprofessor Karl-Josef Kuschel stellt Walsers Werk vor.

Es wird im Frühjahr 1985 gewesen sein. Eines meiner damaligen Gespräche mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern hatte mich zu Martin Walser geführt. Ich wollte auch ihn befragen, welche Rolle Religion in seinem Werk und in seinem Leben spielt. Wir treffen uns in einem Wiesbadener Hotel nach einer Lesung. Es ist relativ spät am Abend. Aber vielleicht sind es diese wenigen Stunden vor Mitternacht gewesen, die unser Gespräch besonders eindrücklich gemacht haben. Viele Jahre ist das her, aber unvergessen. Anlass, gerade auf Walser zuzugehen, hatte ich auf Grund der Lektüre seiner 1981 gehaltenen Büchner-Preis-Rede. Erstmals hatte Walser hier öffentlich die Frage nach dem „Fehlen Gottes“ in der Literatur zu stellen gewagt:

„Ob ein Kind, das in einer komplett atheistischen Familie aufwächst, noch erschreckt, wenn es 15 oder 19 wird und selber erlebt, dass Gott fehlt? Oder vermisst so jemand überhaupt nichts? Ich möchte annehmen, auch ein richtiges Atheistenkind muss, bevor es in das Gottlosigkeitsstadium seiner Eltern eingehen will, durch ein Dickicht hindurch, in dem Gott mit jedem Ast den Weg verbaut, und unerreichbar ist, sobald man glaubt, man brauche ihn…“

Das war 1981. Aber was ich jetzt 1985 von Walser zu hören bekomme, überrascht mich in seiner Eindeutigkeit und Entschiedenheit dann doch:

„Ich habe ein ‚Gottesprojekt’ vor. Das kann aber nicht belletristisch oder essayistisch beschrieben werden, sondern nur als meine Erfahrung. Dieses Projekt läuft schon über Jahre hin. Ich forciere es nicht. Immer wieder kommt etwas hinzu. Die Auseinandersetzung mit der Gottesproblematik kann man nicht so aufarbeiten, dass man danach dann damit fertig wäre. Auch das gehört zu den Verkrümmungen, die ich nicht loswerde. Mit ihnen werde ich mich wohl immer herumschlagen müssen. Es geht dabei um meine Erfahrungen mit dem Vorhandensein des Wortes ‚Gott’.“

Was stellten solche Sätze dar? Eine Art Versuchsballon, den man rasch wieder aus dem Blick verliert? So sah es zunächst aus. Walser schien die Frage nach dem Fehlen Gottes nicht weiter zu interessieren. Sein Romanwerk zeigt das.

Dreißig Jahre später, 2012, veröffentlicht er einen größeren Essay und stellt überraschend eine der großen Fragen des christlichen Glaubens neu zur Debatte: Nicht Rechthaben und Rechtbekommen, sondern: Rechtfertigung. Darin finden sich die Sätze: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‚bekennenden’, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“

Kein Autor der Gegenwartsliteratur hat sich in jüngster Zeit derart bohrend mit der Frage neu auseinandergesetzt, wie unter den Bedingungen von heute von Gott zu reden wäre. Voraus ging ein Jahr zuvor der Roman Muttersohn (2011). Schon hier hatte Walser erstmals in seinem Werk eine Figur präsentiert, an der er stellvertretend demonstriert, was Glauben als Risiko bedeutet: Augustin Feinlein, einen über sechzigjährigen Professor für Psychotherapie und Leiter eines Psychiatrischen Landeskrankenhauses. Es ist die katholische Glaubenswelt, die Walser in diesem Roman spiegelt. Nicht zufällig lässt er die Handlung in einer zutiefst vom barocken Katholizismus geprägten Landschaft spielen: in Oberschwaben, einem ihm von Kindheit an vertrauten Raum zwischen Bodensee und Donau, in dem es nur so wimmelt von barocken Kirchen und Klöstern. Nicht zufällig ist der fiktive Schauplatz der Handlung eine Klosteranlage namens Scherblingen, wie Bad Schussenried bis zur Säkularisation 1803 ein Prämonstratenser-Kloster mit in Barockstil ausgestatteter Kirche und einem stuckverzierten Bibliothekssaal, an dessen Himmelsgewölbe „alles gemalt ist, was in Europa seit mehr als zweitausend Jahren verehrenswert ist“.

Der eigentliche literarische Einfall Walsers in diesem Buch aber besteht darin, dass Walser diesem Kloster ein psychiatrisches Landeskrankenhaus angegliedert sein lässt. Damit ist die Problemstellung für diesen Roman geschaffen. Inhaltlich besteht sie im engen Zusammenhang von Religion und Psychiatrie, von Glauben und Neurosen, von Kirche und Pathologie. Walser reizt hier alle Möglichkeiten aus, zumal er seinem Professor Feinlein ein ernsthaftes Interesse an Reliquien zuschreibt. Warum? Weil man an Reliquien demonstrieren kann, was Glaubenskraft, „Glaubensleistung“ vermag. Reliquien existieren nur in der Vorstellung der Gläubigen, sind also Produkte von Glaubensenergie. Womit die Stoßrichtung des Romans klar ist: Es geht um den Gegenentwurf zu einer rationalistischen Religionskritik, die ihre Gewissheit aus dem vermeintlichen Nachweis bezieht, dass das, was nicht in seiner Existenz bewiesen ist, sinnlos oder gar krankmachend ist. Zu ihrem Unglück, so wird behauptet, klammern Menschen sich an Fabrikationen und Fiktionen, kurz: an religiöse Illusionen. Dagegen kann Walser seine Figur sagen lassen: „Egal ob es Gott gibt oder nicht, ich brauche ihn.“

Ein kreativer Prozess

Bei Glauben geht es für Walser in diesem Roman somit nicht um ein „Für-Wahr-Halten“ von Glaubensinhalten etwa kirchlicher Dogmatik, sondern um etwas viel Tieferes und Individuelleres: um einen andauernden kreativen Prozess, andauernd, weil ständig bedroht vom Nichtglaubenkönnen, kreativ, weil Glauben eine ständige schöpferische Empfindungstätigkeit ist. Glauben ist Seelenarbeit, die jeder individuell an sich selbst zu vollziehen hat. Glauben heißt Vertrauen in eine Wirklichkeit, die es für den nicht gibt, der sich an Beweise klammert. Glauben heißt, Fiktionen zu vertrauen und damit sich auf das einlassen, was nicht ist. Glauben an Gott – ein Risiko.

„Gäbe es Gott, gäbe es kein Wort dafür“, so lautet einer der letzten Aufzeichnungen von Professor Feinlein, bevor er in die Fänge der Justiz und seiner eigenen Psychiatrie gerät, hat er doch das kostbare Heiligblut-Reliquiar gestohlen. Dieser Mann verrät schon lange sichtlich „paranoide Züge, ist doch diese Reliquienverehrung aus der Sicht der Aufklärer in dieser Anstalt nichts als „Glaubenstheater“, ein „Verdummungsinstrument der Kirche“. Aber Walser zeigt an seiner Figur gerade umgekehrt die krankmachenden Reduktionen einer „europäischen Aufklärungskultur“, die das Wahre mit dem Bewiesenen identifiziert und vernünftiges Wissen gegen irrationales Glauben auszuspielen pflegt. Das Urverhältnis des Menschen zum Leben beruht auf Vertrauen und Liebe und somit auf Akten nicht des Beweises, sondern des Glaubens.

Besteht aber nicht gerade darin die entscheidende Entsprechung zur Literatur? Denn was ist Literatur anderes als Fiktion? Was vollzieht ein Schriftsteller anderes als Glaubenssarbeit, indem er der Sprache vertraut und an den Sinn der Worte und seiner Fiktionen glaubt. Wenn Glauben Berge besteigen heißt, die es nicht gibt, dann heißt Literatur, Berge erfinden, die es nicht gibt. Und gerade darauf hatte Walser schon in unserem Gespräch von 1985 hingewiesen. Einer seiner prägnantesten Sätze vor 25 Jahren lautete:

„Ich bin ja der Meinung, dass Literatur bastardisierte Religion ist. Literatur ist entstanden als Auslegung der Religion. Das heißt: Religion ist sprachliche Reaktion auf unser Dasein, so wie Literatur sprachliche Reaktion darauf ist. Mir fällt auf, was mir fehlt: das ist die Grundlage der Schriftstellerei. Das ist auch die Grundlage der Religion, das ist die Grundlage unserer Sprache: Weil wir etwas nicht haben, haben wir die Sprache. Wenn wir Gott hätten, hätten wir kein Wort dafür.“

Der Roman Muttersohn ist nicht mehr und nicht weniger eine doppelte Provokation. Zum einen einem säkularen Zeitgeist gegenüber, der sich daran gewöhnt hat, Glauben durch beweiskräftiges Wissen zu ersetzen und der das Erklären von „Glaubenmüssen“ bei Menschen an die Psychiatrie zu delegieren pflegt. Eine Provokation aber auch an einen religiösen Zeitgeist, der Glauben mit Gewissheit verwechselt, mit Sicherheit und Besitz und der gerade so das Riskante des Glaubens ausblendet, das Gehen zwischen Einbildung und Wahrheit, Illusion und Wirklichkeit, Fiktionalität und Faktizität. Wie wirklich und wahr ist das, was der Glaube hervorbringt? Einbildung, Täuschung, Wunschprojektion – oder? Diese uralten Fragen im Schnittfeld von Glauben und Wissen wieder neu als unabgeschlossene, unabgegoltene aufzuwerfen, ist Walsers Anliegen.

Ist Muttersohn der Versuch der Erforschung dessen, was „der Glaube“ angesichts des Nichts vermag oder als Mut und Übermut leisten kann, geht es in der nur ein Jahr später publizierten Schrift Über Rechtfertigung, eine Versuchung um die Möglichkeiten der Sprache, überhaupt noch angemessen von Gott zu reden. Er tritt in dieser Schrift 2012 aus der Deckung und formuliert direkt und persönlich und zwar in einer bestechenden Mischung aus Selbst-, Atheismus- und Glaubenskritik. Zur Selbstkritik gehört bei Walser das Eingeständnis, dass das Gefühl für den Mangel Gottes lange bei ihm eingeschlafen und erst durch die Lektüre eines Schlüsselwerks der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wieder geweckt worden sei: durch den Römerbrief-Kommentar des Schweizer Theologen Karl Barth, mit dem dieser 1919 auf die epochale Krise von Kultur, Kirche und Christentum nach dem Ersten Weltkrieg reagiert hatte. Was aber ist es, was Barths Rede von Gott für Walser derart herausfordernd macht, dass er Zitat auf Zitat aus Barths Kommentar dokumentiert, immer wieder aufs Neue fasziniert ist von der Kühnheit und Radikalität dieses Theologen? Sie lässt sich in einem Schlüsselsatz des frühen Barth fassen, den Walser immer wieder kommentiert: „Als der unbekannte Gott wird Gott erkannt, als der, an den man nur ohne Hoffnung auf Hoffnung hin glauben kann.“ Konsequenz: Die Rede von Gott ist also auf ständige dialektische Bewegungen angewiesen, soll Gott nicht zum Privatgötzen des Menschen verkommen: Jedes Ja zu Gott braucht immer wieder auch das Nein, jeder Affirmation ihre Negation, jedes Bild seine Zerstörung, jede Setzung ihre Aufhebung. Dass also Gott „nur als Unbekannter vorstellbar sei und durch jeden Versuch, ihm Anschaulichkeit zu verschaffen, noch unbekannter werde“, das ist es, was Walser beim frühen Barth lernt. Ihm bescheinigt er, „nie bewegungslos, nie zufrieden“ zu sein, Sprech- und Sprachbewegungen aufzuweisen und immer wieder neue „Tanzschritte der Dialektik“ zu gehen, die seine Sprache als Dichtung ausweisen:

„Karl Barths Sprache ist nicht weniger Dichtung als die Sprache Nietzsches. Aber beide erinnern an eine Zeit, in der es den Unterschied zwischen Dichtung und Religion nicht gab. Die Psalmen. Das Alte und Neue Testament. Die Sprache Seuses oder Swedenborgs. Karl Barth tanzt genauso mit den Wörtern wie Zarathustra, aber es sind andere Wörter, und es ist ein Tanz mit der Negation, ein dialektischer Tanz.“

Ich kann mich an keinen Fall erinnern, dass ein Schriftsteller der Gegenwartsliteratur ein ähnliches öffentliches Exerzitium zur Einübung angemessener Gottesrede vorgelegt und sich derart leidenschaftlich und kritisch aufs theologische Terrain gewagt hätte. Ich kann mich auch an keinen Fall erinnern, wo ein Schriftsteller die Utopie hat aufblitzen lassen, eines Tages in der Rolle eines Professors für Theologie, Literatur und Philosophie mit Studierenden ein Seminar über Nietzsche und Barth abhalten zu wollen: „Das Seminar soll stattfinden immer am Freitag von 13 bis 15 Uhr.“

Damit aber noch nicht genug. Walser legt noch im selben Jahr 2012 ein weiteres Sprachexperiment vor, den Roman Das dreizehnte Kapitel: ein virtuoses Stück erzählender Prosa in Briefform zur Erforschung des Paradoxon der Liebe. Das war nicht abwegig, sondern konsequent, und zwar in zweifacher Hinsicht:

Zum einen gibt es eine strukturelle Entsprechung zwischen der Rede von Gott und der Rede von Liebe. Beide beziehen sich auf eine Wirklichkeit, die in letzter Konsequenz unsagbar, unfassbar bleibt, deren Realität aber nur um und durch die Welt der Worte hergestellt wird. Und zum anderen gibt es eine strukturelle Entsprechung zwischen Theologie und Literatur. Theologie redet von einer Wirklichkeit, die es außerhalb der Worte nicht gibt, und Literatur schafft eine Wirklichkeit, die es außerhalb ihrer nicht gibt.

In dieser doppelten Strukturanalogie dürfte das Motiv zu suchen sein, warum Walser in nur zwei Jahren gleich drei Zugänge zur Wirklichkeit des Unwirklichen präsentiert: einen klassisch erzählten Roman, einen Großessay und einen kürzeren Briefroman. Vor allem das Motiv dafür, dass er in seinem Briefroman Das dreizehnte Kapitel einen Schriftsteller und eine Theologin zusammenführt, deren Beziehung sich rein auf der Ebene der Sprache bewegt. Erstmals zusammengetroffen waren sie bei einem Essen im Berliner Schloss Bellevue, das der Bundespräsident aus Anlass des sechzigsten Geburtstags des Mannes der Theologin ausgerichtet hatte, eines berühmten Moleklarbiologen namens Korbinian Schneilin. Der Schriftsteller Basil Schlupp aber ist von der Erscheinung von dessen Frau Maja Schneilin derart fasziniert, dass er es wagt, einen Brief an die ihm Unbekannte zu schreiben. Und das Unerwartete passiert: Sie reagiert, anfangs mehr irritiert und belustigt als ernsthaft interessiert, es kommt es zu einem monatelangen Briefwechsel.

Dekorateure des Nichts

Sie ist eine protestantische Theologieprofessorin. Und da Walser sie das sein lässt, können auch in ihren Briefe die Kirchenväter moderner protestantischer Theologie ein Rolle spielen: Sören Kierkegaard und vor allem wieder Karl Barth. Was trägt das aus für die entscheidende Pointe der Beziehung?

„Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit. Ich erlebe mich, mich hinüberhangelnd, ohne je drüben den Fuß setzen zu können auf etwas, was mich trägt. Ich lebe von Ihnen. Das erlebe ich. Das ist doch nicht nichts. Auch wenn es nichts ist als Buchstaberei. Ich schau Ihre Sätze an und werde durchströmt von Berührung. Berührung bis ins Innerste. Bis dahin, wo ich mich noch nicht erlebt habe. Aber es bleibt bei nichts. Das ist, was wir haben dürfen: nichts.

Ich hoffe, Ihnen sei das durch Ihre Theologie bekannt genug: dass nichts ist außer Wörtern. Wir haben einen Beruf, Dekorateure des Nichts.“

Vier Schritte der Annäherung an die Rede von Gott, aus dem spät bearbeiteten Gefühl, dass Gott fehlt: die Ankündigung des Gottesprojekts, die Exploration des Glaubensmutes und des Übermutes, das Experiment in Sachen Gottesrede im Anschluss an Karl Barth, das Eingestehen, dass Literatur und Theologie von einem Sprachvertrauen leben, das dem Nichts zu trotzen versucht. Wenn das kein Signal aus der Welt der Literatur und zugleich ein Gesprächsangebot ist, vom Fehlen Gottes und seinen Folgen zu reden – im Zeitalter vielfacher säkularer Vergleichgültigung oder fundamentalistischer Instrumentalisierung Gottes.

Karl-Josef Kuschel

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