Die Elitendemokratie überwinden

Die Kirchen müssen aus der Bundestagswahl Konsequenzen ziehen
EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der „Weltausstellung Reformation“ in Wittenberg.  Foto: epd/ Jens Schlueter
EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der „Weltausstellung Reformation“ in Wittenberg. Foto: epd/ Jens Schlueter
Zu lange hat die evangelische Kirche zur moralisierenden Bevormundung geneigt und das eigene politische Spektrum verengt, kritisiert Reiner Anselm. Der Münchner Ethikprofessor skizziert, wie sich das ändern kann und bezieht sich dabei auf das von ihm mitverfasste EKD-Papier „Konsens und Konflikt“.

Das Verhältnis des Protestantismus zur Demokratie ist nicht immer einfach gewesen. Nur mühsam und mit tätiger Nachhilfe fand der deutsche Protestantismus nach 1945 zu einer positiven Einschätzung: Der Staat des Grundgesetzes gewährte den Kirchen nicht nur große Handlungsspielräume, er anerkannte sie auch als maßgebliche Instanzen für die sittliche Grundierung von Recht und Politik. Beide Kirchen deuteten diese Anerkennung als Beleg für ihr Selbstverständnis: Sie profilieren die Instanzen, die dem politischen System Legitimität verschaffen und für die moralische Orientierung zuständig sind. Die entsprechende Interpretation des Böckenförde-Theorems, dem zufolge der moderne, freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann und nicht geschaffen hat, hat in den evangelischen Kirchen große Zustimmung gefunden - auch wenn sie keineswegs die einzige Deutung dieses bekannten Diktums darstellt.

Im Hintergrund dieses Denkens stehen unübersehbar Überzeugungen, die eher zu einer christlichen Aristokratie passen als zu einer Demokratie. Die Demokratie, die die Kirchen unterstützen und zu ihrer Sache machen, ist im Grunde eine spezifische Form der Elitedemokratie. Es geht darum, dem Wankelmut, Individualismus und auch der Irrationalität der Wähler die orientierungsstiftende Kraft der eigenen Soziallehre entgegenzuhalten. Demokratische Verfahren sollen zwar zur Auswahl des Führungspersonals genutzt werden, aber nicht oder nur sehr zögernd für weitergehende partizipative Elemente.

Bis heute sehen sich die Kirchen eher als moralische Letztinstanzen denn als gleichberechtigte Akteure im demokratischen Wettstreit. Sie reklamieren für sich einen gewissen moralischen Paternalismus, indem sie in Anspruch nehmen, zu wissen, was das moralisch richtige Verhalten ist. Durchaus aufschlussreich ist dabei die Rede von der Anwaltschaft für die Schwachen: Hier zeigt sich sicherlich ein hoher und in Vielem zustimmungsfähiger Anspruch. Allerdings dürften die wenigsten Schwachen die Kirche als ihre Anwältin beauftragt haben. Vielmehr handelt es sich um eine Art moralischer Selbstermächtigung.

Klare Schattenseiten

Es stimmt: Das in der christlichen Soziallehre verankerte Politikmodell der Bundesrepublik hat zu Prosperität und zu einem so zuvor nicht gekannten inneren Frieden geführt. Aber wir sehen heute auch sehr klar die Schattenseiten dieser Entwicklung, nämlich ihr partizipatives Defizit und ihre Tendenz zur moralisierenden Bevormundung. Die Bundestagswahl 2017 mit der fortschreitenden Erosion der sogenannten Volksparteien und dem erstmaligen Einzug einer starken rechtspopulistischen Partei legen davon Zeugnis ab. Solange die Gesellschaft der Bundesrepublik recht homogen und die Kirchenmitgliedschaft der Regelfall war, mochte die Bevormundungsstrategie der Kirchen noch akzeptabel sein. Doch schon die Studentenproteste Ende der Sechzigerjahre zeigten die Probleme, die diesem Demokratieverständnis zueigen sind: Konsens wird dadurch erreicht, dass abweichende Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden - und zwar mit moralischen Argumenten. In einer pluraler gewordenen Gesellschaft führt das dazu, dass immer mehr Positionen an den Rand gedrängt werden - und ebenso der Anteil derer kleiner wird, die sich von der Politik und auch den Kirchen repräsentiert fühlen.

Logische Konsequenz dieser Entwicklung ist das Auftreten neuer politischer Gruppierungen, das Entstehen neuer zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich nicht nur im linksliberalen Spektrum verorten, sondern auch im rechten. Es kann nicht verwundern, dass diese Veränderung in den vergangenen Jahren in den evangelischen Kirchen zu erheblichen Irritationen geführt hat. Das Erstarken populistischer Politikmuster, die die Überwindung der Elitendemokratie und größere Partizipation versprechen, hat diese Irritationen noch verstärkt.

Heute sehen sich die evangelischen Kirchen vor der Herausforderung, ihr Verständnis von und ihr Verhältnis zur Demokratie neu zu bestimmen. Das EKD-Papier „Konsens und Konflikt“ soll mit zehn Impulsen zu dieser Klärung beitragen und zugleich eine öffentliche Debatte zur Weiterentwicklung der Demokratie und einem erweiterten Verständnis von Demokratie anstoßen. Mit dem Papier möchte die EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung einen Prozess des Nachdenkens auslösen, in der Kirche wie in der Gesellschaft (siehe zz 2017/10).

Die Argumentation basiert dabei auf einer theologischen Grundsatzentscheidung: Fragen der Sozialethik werden nur richtig erfasst, wenn Evangelium und Gesetz unterschieden und sachgerecht aufeinander bezogen werden. Anders als es die lutherische Theologie lange Zeit vertrat, steht dabei nicht das Gesetz an erster Stelle. Das Ziel politischen Handelns wird vielmehr vom Evangelium und dem aus ihm abgeleiteten Menschenbild bestimmt, ohne dabei die Notwendigkeit des Gesetzes aus dem Auge zu verlieren. In aller Kürze formuliert bedeutet das für unseren Kontext Folgendes: Westliche, menschenrechtsbasierte Demokratien leben von der keineswegs selbstverständlichen Voraussetzung, dass allen Menschen gleiche Rechte zukommen. Diese Voraussetzung ist eng mit der Botschaft von der Versöhnung, dem Kern des Evangeliums verbunden. Und sie muss, soll die Demokratie vital bleiben, immer wieder aktualisiert werden. Diese Botschaft bildet auch die Grundlage dafür, den Kreis derer immer weiter auszudehnen, die als Gleichberechtigte zu einer Demokratie gehören. So sehr das Evangelium eine Zielrichtung vorgibt, so sehr muss sich konkretes Handeln an den Bedingungen einer noch nicht erlösten Welt ausrichten, Konflikte anerkennen und akzeptieren, dass in politische Fragen immer nur vorläufige Antworten zur Verfügung stehen und mit Vernunft, Pragmatismus und Sachverstand die besten Lösungen gesucht werden müssen. Demokratie ist unserer Überzeugung nach diejenige Staatsform, die beide Elemente, Evangelium und Gesetz, am besten miteinander verbindet.

Es gilt daher, das Demokratieverständnis der fortgeschrittenen Pluralisierung anzupassen. Faktisch erleben wir eine interessante, nicht unproblematische Dialektik: Je pluraler die Gesellschaft wird und je pluraler auch die Parteienlandschaft, desto stärker bildet sich eine Koalition der Mitte heraus, die einen gewissen bildungsbürgerlichen Mainstream verkörpert. Das Ergebnis der Bundestagswahl fügt sich hier nahtlos ein: Die schwindenden Wähleranteile der beiden großen Volksparteien dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese bei kaum unterscheidbarer Programmatik mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen können.

Aber gleichzeitig kommt es zu einer Polarisierung an den Rändern. So abstoßend manche Positionen und Personen am rechten Rand des politischen Spektrums sind, so sehr rassistische und diffamierende Äußerungen gerade aus einer moralischen Perspektive nicht hingenommen werden können, die Tatsache, dass das politische Meinungsspektrum wieder breiter wird, stellt einen Gewinn für die Demokratie dar. Die Optionen einer Drei- oder gar Vier-Parteien-Koalition sind aus dieser Perspektive durchaus reizvoll. Das gilt vor allem durch den Versuch, beispielsweise in der Migrations- und Flüchtlingspolitik einen Kompromiss zwischen der csu und den Grünen zu finden. Ein solches Bündnis birgt Spannungen, kann aber dazu führen, dass mehr Menschen sich im Regierungshandeln repräsentiert sehen. Es ist zu hoffen, dass Wahlenthaltung, Protestverhalten, Mobilisierbarkeit für volatile Positionen direkter Bürgerbeteiligung in der Folge geringer werden, weil die Dominanz des Mainstreams schwächer wird.

Die Kirchen sollten diese Veränderungen aufmerksam beobachten - nicht in der Rolle des moralischen Schiedsrichters, sondern mit der selbstkritischen Frage, ob das von ihnen vertretene Meinungsspektrum nicht zu eng geworden ist. Vergleicht man gegenwärtige Debatten über ethisch-politische Konfliktfelder mit den Auseinandersetzungen um die Friedenspolitik in den Achtzigerjahren, fällt auf, dass das Meinungsspektrum der evangelischen Kirche kleiner geworden ist. Distanzierung und Gleichgültigkeit sind die Folge. Und die Menschen kehren der Kirche den Rücken.

Dies vor Augen gilt es, Kirche und Politik gleichermaßen bereiter zu machen, mehr Menschen in die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zu verwickeln, sie zu motivieren, ihre Sicht einzubringen, auch wenn diese unbequem und emotional vorgetragen wird. Dazu gehört, auf die Rahmenbedingungen zu achten, damit sich Menschen für politische Fragen mobilisieren lassen und in der Debatte artikulieren können. Dazu gehört auch, deutlich zu machen, dass mangelnde Repräsentation keine Entschuldigung dafür ist, sich nicht zu beteiligen.

Demokratie ist nicht nur eine Veranstaltung für Intellektuelle. Diese Erkenntnis sollte auf das Selbstverständnis der Kirche ausstrahlen: Sie kann und soll den Raum für politische Kontroversen bereitstellen. Mehr noch: Sie kann und soll selbstbewusst darauf hinweisen, dass eine liberale, rechtsstaatliche Ordnung keine naturwüchsige Selbstverständlichkeit ist. Aber sie ist tief in Grundprinzipien des Christentums verankert. Die Kirchen setzen sich für diese Grundprinzipien ein und für Bedingungen, die einen klaren, gleichzeitig aber auch weiten Raum für den Diskurs aufspannen und schützen. Sie vertreten dabei legitimerweise eigene institutionelle Interessen, erkennen aber an, dass Christenmenschen in politischen Fragen zu sehr unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Einschätzungen kommen. Über sie zu befinden, ist Sache der politischen Auseinandersetzung. Dies ist kein Schaden, sondern zeichnet eine lebendige Demokratie aus.

Es ist wichtig, dass die Auseinandersetzung um die Grundlagen und die künftige Gestalt des Gemeinwesens kontrovers diskutiert werden - streitbar in der Sache, aber fair im Umgang miteinander. Damit eine solche Streitkultur gelingt und damit auch das anspruchsvolle Ziel erreicht wird, dass aus dem Streit heraus die beste Position für alle gewonnen wird, darf man nicht nur mit denen diskutieren, mit denen man sich einer Meinung weiß. Die damit verbundenen Herausforderungen werden seit Jahren durch Filterblasen via Social Media tendenziell verschärft. Aber auch die Kirchen sind nicht davor gefeit, in einer Filterblase zu agieren.

Der Streit um den besten Weg ist vor allem deswegen nötig, weil wir in den vergangenen Jahrzehnten eine bislang so nicht gegebene Überschreitung vorgegebener Grenzen erlebt haben. Und diesen Wandel muss man gestalten. Dabei muss besonders auf die Bedingungen des sozialen Ausgleichs und des Zusammenhalts geachtet werden. Dazu gehört auch, die Räume des Vertrauten und des Vertrauens zu erhalten. Sich daran zu beteiligen, ist die Aufgabe aller. Denn Wandel wird nicht nur erfahren, jeder Einzelne arbeitet an ihm auch mit. Wer über den Rückgang der lokalen Traditionen klagt, muss sich also fragen lassen, was er zu ihrem Erhalt beiträgt.

Legitime Emotionen

Zu dem Wandel gehören auch die Fragen der Zugehörigkeit, die durch die verstärkte Migration der vergangenen Jahre stark in den Fokus geraten sind. In „Konsens und Konflikt“ plädieren wir dafür, diese Fragen in einem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren zu regeln. Die besondere Herausforderung liegt darin, einen Ausgleich zwischen dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte und deren notwendig partikular-nationalstaatlicher Implementierung zu finden. Gerade wegen dieser Spannung darf der Diskurs nicht vorschnell durch den Verweis auf nicht verhandelbare Standards abgebrochen werden. Vielmehr muss man konsequent die politische Auseinandersetzung suchen. Und dabei ist auch das emotionale, voluntative Element als legitime Äußerung in der Demokratie zu begreifen, nicht nur das wohl abgewogene, akademisch geschliffene Argument.

Der populistische Impuls, der sich unter anderem durch den Einzug der AfD in zahlreiche Landtage und nun auch in den Bundestag manifestiert, kann als ein Versuch verstanden werden, diejenigen zu repräsentieren, die sich von etablierten Parteien und Gruppen nicht oder nicht mehr repräsentiert sehen. Es ist zu begrüßen, wenn es durch die Neugründung von Parteien zu einer besseren Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger kommt - unter der Voraussetzung, dass solche Parteien und Bewegungen nicht das freiheitlich-demokratische System selbst infrage stellen.

Mit den neuen Gruppierungen die politische Auseinandersetzung zu suchen, gehört zu einer hörbereiten Politik. Aller Ausschließeritis ist eine Absage zu erteilen. Für die Demokratie zu werben und diese zu stärken, bedeutet Konflikt, verstärkt die Auseinandersetzung um die beste Lösung - und zwar mit den Vertretern aller Positionen, nicht nur denen des liberalen Mainstreams.

Natürlich gibt es Grenzen der Auseinandersetzung - wo Gewalt zu ihrem Bestandteil wird. Grenzen sind aber auch an anderer Stelle zu ziehen: Dort nämlich, wo mit vorschnellem Verweis auf grundlegende Überzeugungen andere, abweichende Positionen aus dem politischen Wettstreit ausgeschlossen werden, wo Fakten nicht sorgsam abgewogen und berücksichtigt werden und anstelle politischer Entscheidungsfindung eine personalisierte Auseinandersetzung erfolgt.

Wie können die Kirchen die demokratische Beteiligung stärken? Die Kirchen sind ein Spiegel der Gesellschaft: Vorbehalte und Ängste finden sich auch in ihnen. Und doch wollen und müssen sie die politische Dimension der Botschaft von der Versöhnung zum Ausdruck bringen. Die Kirchen sind für die politische Kultur unseres Landes mitverantwortlich. Daher müssen sie sich immer wieder fragen lassen, ob sie in ihrem Verhalten wirklich zu einer partizipativen Demokratie beitragen. Zu hohe moralische Ansprüche, die andere politische Positionen ausschließen oder als orientierungsbedürftig disqualifizieren, sind daher selbstkritisch zu hinterfragen.

Die Kirchen müssen insofern selbst dazu beitragen, die Elitendemokratie zu überwinden und die demokratische Auseinandersetzung fördern. Das können sie, weil sie nach wie vor viele Menschen erreichen und ihnen auch ein Forum für die Auseinandersetzung bieten können. Das können sie aber auch, indem sie engagiert für die Voraussetzungen einer politischen Kultur eintreten, die in jedem Menschen ein gleichberechtigtes Kind Gottes sieht und indem sie im Prozess der Auseinandersetzung immer wieder das Gemeinsame suchen.

Das Positionspapier „Konsens und Konflikt“ kann unter 0511/2796-460 kostenlos bestellt oder über dem untenstehenden Link heruntergeladen werden.

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Reiner Anselm

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