Abwehrkampf gegen Gewalt

Die Bedeutung der Gender Studies in der zeitgenössischen Kultur und Politik
Demonstration am Frauentag 2017 in New York. Foto: dpa/ Erik Mcgregor
Demonstration am Frauentag 2017 in New York. Foto: dpa/ Erik Mcgregor
Mit ihrem Debüt „Gender Trouble“ begründete die amerikanische Professorin Judith Butler 1990 die Genderforschung. Sie unterscheidet zwischen dem sozialen und dem biologischen Geschlecht und beschreibt, wie Frauen und Männer zu Frauen und Männern gemacht werden. Ines Kappert, Leiterin des Gunda-Werner-Instituts für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung, beschreibt die Grundzüge der Theorie und bettet sie in die Geschichte der Frauenbewegungen ein.

Ich werde weiterhin laut und deutlich sagen, dass ich ein Feminist bin, solange bis das nur noch Schulterzucken hervorruft.“ Seit seiner Wahl vor zwei Jahren lässt der kanadische Premierminister kaum eine Gelegenheit aus, um für die Gleichberechtigung aller Geschlechter zu werben. Erstmals sitzen gleich viele Frauen wie Männer im kanadischen Parlament und repräsentieren zudem die kulturelle Vielfalt des Landes. Doch zu seinem Ärger ruft Justin Trudeau mit seinen profeministischen Äußerungen stets „Twitterexplosionen“ hervor. Als Politiker oder auch nur als Mann offen für Gleichberechtigung einzutreten, erzeugt noch immer regen Widerspruch, obgleich es inzwischen mächtige Vorbilder dafür gibt. So bezeichnete sich auch der ehemalige US-Präsident Barak Obama als Feminist. Gerade als Vater stehe er in der Verantwortung, eine Männlichkeit zu leben, die es nicht mehr nötig habe, Frauen und Mädchen abzuwerten oder gar Gewalt an ihnen zu rechtfertigen. Sein Nachfolger sieht das anders. Er und die First Lady verkörpern die Rape-Culture, also die Kultur der Vergewaltigung, die weißen Männern zugesteht, Sex ohne Einverständnis zu haben. Ihr Amtsantritt löste die größten Proteste in der amerikanischen Geschichte aus.

Anfang 2017 brachten die „Women‘s Marches“ Millionen von Menschen auf die Straße und trieben mit ihrem Aufbegehren gegen die Abschaffung der Demokratie weiteren Millionen vor den Bildschirmen die Tränen in die Augen. Zum ersten Mal erfuhr die Verteidigung der Demokratie unter dem Dach des Feminismus in den Massenmedien Wertschätzung. Das ist schön und erstaunlich zugleich, denn Feminismus ist in all seinen unterschiedlichen Schattierungen und dank seiner Streitkultur eine zutiefst demokratische Bewegung. Es geht darum, Unrechts- und Gewaltverhältnisse sichtbar zu machen, mit dem Ziel, diese abzuschaffen. Das große feministische Anliegen ist die Gleichberechtigung und das friedliche Miteinander aller Geschlechter, die gleichberechtigte Teilhabe, die Demokratie. Niemand sollte wegen seines Geschlechts, seiner Religion oder Hautfarbe benachteiligt werden. So steht es auch im deutschen Grundgesetz. Doch bis heute ist dieser Grundsatz nicht eingelöst, wie auch der alle vier Jahre veröffentlichte Gleichstellungsbericht der Bundesregierung eindrucksvoll belegt.

Im Zuge des Aufstiegs von Rechtsradikalismus in Deutschland und Europa ist zunehmend von „Genderwahn“ die Rede. Doch das geht an der Wirklichkeit vorbei. Weder die Sozialwissenschaftler*innen, die den Gleichstellungsbericht erstellen, noch das Lehrpersonal in den Gender Studies mit ihren winzigen Etats stellen eine Bedrohung für individuelle Freiheiten dar. Vielmehr ist die Vorstellung einengend oder auch bedrohlich, dass eine biologische Ordnung, die eine Frau auf das Muttersein festlegt und den Mann auf den Beruf, tatsächlich soziale Verwerfungen kurieren könnte. Genau das aber propagieren Mitglieder und Anhänger der AfD. Und sie finden mit ihren völkischen Fantasien einen gewissen Widerhall in der bürgerlichen Mitte, die sich in Deutschland noch immer schwer damit tut, Gleichberechtigung systematisch anzugehen oder Feminismus als wichtige soziale Bewegung anzuerkennen, wie Obama oder Trudeau das tun.

Gleichberechtigung wurde über Jahrhunderte mit dem Argument verhindert, dass Frauen und Männer von Natur aus verschieden seien und sich daher naturgemäß eine Hierarchie ableite. So sollten Frauen aufgrund ihrer Gebärfähigkeit nicht wählen dürfen, denn ihr Hormonhaushalt erlaube keine rationale Entscheidung, war eine weitverbreitete Ansicht Ende des 19. Jahrhunderts. Empirische Belege blieben die Unterlegenheitsvertreter*innen schuldig, dafür lieferten sie waghalsige Thesen über den weiblichen, vermeintlich unreinen Körper. Erst der Sozialistin Clara Zetkin gelang es, erfolgreich für ein Wahlrecht auch für Frauen zu mobilisieren. 1918 war es dann soweit: Erwachsene Frauen durften wählen und sich zur Wahl stellen genau wie erwachsene Männer. Ein Jahr später lag die Beteiligung von Frauen bei den Wahlen bei 82 Prozent; die gesetzlich festgelegte männliche Vormundschaft über Frauen blieb jedoch unangetastet. In der Schweiz wurden Frauen übrigens erst 1971 zu den Bundeswahlen zugelassen.

Schritt für Schritt

Seit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts streiten Frauenbewegungen weltweit dafür, dass alle Geschlechter unabhängig von ihrer sexuellen Ausrichtung die gleichen Rechte und Pflichten als Bürger*innen haben. Heute ist es selbstverständlich, dass auch Frauen und Transpersonen wählen dürfen und nicht das Geschlecht, sondern Noten darüber entscheiden, ob jemand eine höhere Schule oder die Universität besuchen kann oder nicht. Doch alle diese Rechte mussten Schritt für Schritt erkämpft werden, zum Teil über Generationen hinweg. Und trotz aller Fortschritte ist die Gewalt, die mehrheitlich von heterosexuellen Männern in allen gesellschaftlichen Schichten ausgeht, ein ungelöstes Problem. So wurde in Deutschland erst 1997 die Vergewaltigung in der Ehe strafbar, und erst 20 Jahre später, nämlich 2016, wurde das Sexualstrafrecht reformiert, so dass sexuelle Übergriffe von nun an wie der Diebstahl eines Handys geahndet werden können. Zur Erläuterung: Ein Diebstahl gilt als ein krimineller Akt für sich, ohne dass Bestohlene nachweisen müssten, dem Dieb zuvor erklärt zu haben, dass sie das Handy behalten wollten. Und so werden endlich auch sexuelle Übergriffe als Straftat an sich anerkannt, ohne dass die Betroffenen weiterhin nachweisen müssten, dass sie den Straftäter nicht dazu eingeladen haben, gewalttätig zu werden. Die Reform des Paragraphen 177 räumt auf mit der Kultur der Schuldumkehr, die der von Gewalt Betroffenen die Verantwortung für den Übergriff („Du hast nicht gesagt, dass du nicht willst“) zuschreibt, und nicht dem Täter. Ob und wie sich dieser Paradigmenwechsel auch in der praktischen Rechtsprechung niederschlagen wird, muss sich erst noch erweisen. Ach ja, auch die „Ehe für alle“ wurde 2017 bundesweit durchgesetzt.

Es geht voran und doch auch wieder nicht. Jedes Jahrzehnt hat seine eigenen feministischen Herausforderungen. Gegenwärtig gilt es, dicke Bretter bei Themen wie ungleiche Arbeitsverteilung und Entlohnung zu bohren. So leisten Frauen noch immer den Löwenanteil der unbezahlten Pflege- und Erziehungsarbeit, und sobald Kinder da sind, bleibt der Großteil der Hausarbeit an ihnen hängen. Gleichzeitig werden Frauen mit und ohne Kinder deutlich schlechter bezahlt, selbst wenn sie den gleichen oder einen gleichwertigen Job machen. Der Gender-Pay-Gap beträgt laut jüngstem Gleichstellungsbericht 23 Prozent.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Mehrheit der Frauen, zumal in Westdeutschland, nur Teilzeit arbeitet, um die unbezahlte Arbeit leisten zu können. Folglich bleibt ihre Rente gering: Altersarmut ist weiblich. Im Kern sind alle Feminismen ein Abwehrkampf gegen Gewalt und ein Eintreten für Gerechtigkeit.

Dafür muss eine Jahrtausende alte Überzeugung überwunden werden: dass die biologischen, mithin körperlichen Unterschiede zwischen Männer und Frauen einer Gleichberechtigung entgegen stünden und die männliche Vormundschaft über die Frau legitimierten. 1949 formulierte die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir einen bis heute gültigen feministischen Schlüsselsatz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, schrieb sie 1949 in dem Klassiker „Das andere Geschlecht“. Beauvoir sah die Erziehung von Frauen zu Frauen vor allem als Zurichtung an. Entschieden trat sie der Überzeugung entgegen, dass jede Frau einen Heirats- und Kinderwunsch hege. Und sie lebte mit Jean-Paul Sartre das Modell der offenen Beziehung vor. Die Erkenntnis, dass Frauen nicht als Frauen geboren, sondern zu einer solchen gemacht werden, polarisierte und löste Zuspruch und Hass aus - und die Zweite Frauenbewegung in Europa.

Herrschaftsverhältnisse als naturgegeben auszuweisen, ist eines der erfolgreichsten Instrumente männlicher Vorherrschaft, auch Patriarchat genannt. Denn dieses behauptet, dass nicht die Gesellschaft, sondern die Natur die soziale Hierarchie zwischen Männern und Frauen vorgebe. Damit wird gesagt, dass nicht Machtinteressen einer Gleichberechtigung entgegenstehen, sondern die Natur des Menschen keine gerechte Aufteilung der Rechte und Pflichten zwischen den Geschlechtern erlaube. Männer seien naturgegeben das stärkere Geschlecht und auf das öffentliche Leben verwiesen, da Frauen Kinder bekämen und daher auf den häuslichen Bereich und die Pflege ausgerichtet seien. Beauvoir zeigte nun auf, wie sehr die Vorstellungen von Weiblichkeit und tugendhaftem Frauenleben genauso wie von Männlichkeit und einem richtigen Männerleben sich historisch wandeln, also eben nicht von der Natur oder Gebärfähigkeit abhängen, sondern davon, wie eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit die biologische Differenz zwischen Mann und Frau interpretiert.

Kulturelles Geschlecht

Ob Frauen ein Korsett tragen müssen, um eine Wespentaille zur Schau zu stellen, und Männer Hüte, um ihre Seriösität zu bezeugen, oder alle Geschlechter Jeans anziehen können, hat eben nichts mit der Natur zu tun, sondern allein mit der jeweiligen Gesellschaft und ihren dominanten Gruppen. Das kulturelle Geschlecht, ob sich jemand so verhält, dass er oder sie als weiblich oder männlich wahrgenommen wird, hängt mit dem jeweiligen sozialen Umfeld und der dort vorherrschenden Werteordnung zusammen. Daher sprechen die Gender Studies von „Doing Gender“, das kulturelle Geschlecht wird gemacht, nicht genetisch vererbt.

Die prominenteste Philosophin, die die Gender Theory begründete, ist die amerikanische Professorin Judith Butler. Mit ihrem ersten Buch Gender Trouble (1990) löste sie ähnlich wie Simone de Beauvoir einen Sturm der Entrüstung aus - und die dritte Frauenbewegung. Kernidee der Unterscheidung zwischen dem sozialen und biologischen Geschlecht ist die Überzeugung, dass Frauen und Männer zu Frauen und Männern gemacht werden. Judith Butler bezieht sich damit vielfach positiv auf Simone de Beauvoir. Sie fügt diesem Gedanken aber noch einen wesentlichen weiteren hinzu. So stellt sie infrage, dass es nur zwei Geschlechter gibt und plädiert dafür, quere, transsexuelle und intersexuelle Personen gleichberechtigt neben klassischen Männern und Frauen zu sehen. Immerhin werden zahlreiche Babies mit einem uneindeutigen biologischem Geschlecht geboren und häufig erst durch ärztliche Eingriffe zu Jungen oder Mädchen gemacht. Nicht selten führen diese Operationen zu schweren seelischen Belastungen und Verletzungen. Das war nicht immer so. Erst ab 1900 wurden Ärzte per Gesetz dazu aufgefordert, zu entscheiden, ob es sich um einen Jungen oder Mädchen handelte und gegebenenfalls einzugreifen. Zuvor konnten Hermaphroditen im Erwachsenenalter selbst entscheiden, welchem Geschlecht sie sich zuordnen möchten. Erst die feministische Kritik, auch auf Grundlage der Schriften Judith Butlers, führte dazu, dass die Annahme zurückgewiesen wurde, natürlich wäre nur das Begehren zwischen Mann und Frau, und dass es überhaupt nur zwei Geschlechter gibt. Und wieder ging es um Schutz vor Gewalt, der Inter- und Transpersonen bis heute massiv ausgesetzt sind.

Warum wir uns mit der Idee von Mehrgeschlechtlichkeit so schwer tun, schlüsselt unter anderem der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem brillanten Essay „Die männliche Herrschaft“ auf. Es hängt damit zusammen, dass die Sprache die Zweigeschlechtlichkeit zementiert und wir nach wie vor in einer semantischen Ordnung sprechen und leben, die männlich und weiblich als unverrückbare Gegensätze ansieht. So wird hart, trocken, aufgerichtet und rational männlich und tendenziell positiv konnotiert, hingegen wird feucht, weich, klebrig emotional als weiblich und in der Tendenz negativ wahrgenommen. Hier finden wir also die uralten Gegensätze und Wertungen wieder. Entsprechend bedeutet feministische Arbeit immer auch Arbeit für eine Sprache, die nicht auf solchen Gegensätzen beruht und aufhört, die Welt in weiblich und männlich einzuteilen - eine Sprache, die das biologische Geschlecht als Bedeutungslieferanten und sozialen Platzanweiser entthront. Nicht mehr von Studenten zu sprechen, sondern von Studierenden, ist eine Möglichkeit, alle unabhängig von ihrem Geschlecht anzusprechen und wertzuschätzen. (Körperliche) Unversehrtheit, Vielfalt und Einfühlungsvermögen sind dem Feminismus Herzensangelegenheiten. Sie widerstehen der Haltung, die auf Andersdenkende „Jagd“ machen will, wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland dies noch am Wahlabend in Richtung Angela Merkel ankündigte.

Die Autorin legt Wert auf die Verwendung der gendergerechten Sprache.

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Ines Kappert

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