Paradoxes Ineinander

Die Vorstellung vom dreieinigen Gott lässt das Kreuz besser verstehen
Das 1941 vollendete Gemälde La Crucifixon (Die Kreuzigung) des italienischen Malers Renato Guttuso (1911-1987). Foto: akg/ Joseph Mart
Das 1941 vollendete Gemälde La Crucifixon (Die Kreuzigung) des italienischen Malers Renato Guttuso (1911-1987). Foto: akg/ Joseph Mart
Die Theologie konzentrierte sich zu lange auf den Menschen Jesus, und damit geriet die Auslegung des Kreuzes auf eine schiefe Bahn, meint Reiner Knieling. Der Leiter des Gemeindekollegs der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zeigt, wie der Tod Jesu interpretiert werden kann.

Der Karfreitag entfaltet nicht mehr die Kraft, die er einmal hatte. Sind die Symbole zu sperrig, ist die Atmosphäre zu düster? An Weihnachten ist das anders. Dort ist das Kind zwar auch gefährdet. Aber wir können etwas machen, uns kümmern, auch um das Baby in uns.

Am Kreuz können wir nichts mehr machen. Und das ist schwer zu verkraften. Scheinbar kann selbst Gott nichts mehr machen. Das Kreuz ist eine mächtige und erschütternde Frage an unsere Vorstellungen von Gottes Macht und die Kraft seiner Liebe. Wenn Gott das mit sich machen lässt, was heißt das für uns? Dass unsere Wünsche nach zügiger Beendigung des Leides oft nicht in Erfüllung gehen? Hat die Christenheit deshalb angefangen, das Kreuz zu vergolden?

Der Bonner Theologe Hans-Joachim Iwand (1899-1960), während der Nazizeit ein mutiger Streiter der Bekennenden Kirche, formulierte es so: „Wir haben uns die Härte des Kreuzes, die Offenbarung Gottes im Kreuz Jesu Christi dadurch erträglich gemacht, daß wir es in seiner Notwendigkeit für den Heilsprozeß verstehen lernten (…). Dadurch verliert das Kreuz den Charakter der Kontingenz, des Unbegreiflichen.“

Gesucht werden muss ein Weg, der weder in den bekannten Formeln stecken bleibt, noch sie einfach verabschiedet. Ein Weg, der die Sprach- und Hilflosigkeit aushält und überwindet. Ein Weg, der das Anstößige des Kreuzes ernst nimmt, aber nicht jede Deutung für plausibel halten muss, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat. Ein Weg, der hoffentlich zu neuen Deutungen führt, in denen sich die alte Kraft des Kreuzes entfaltet.

Für diesen Weg ist es entscheidend, dass Gott im konkreten Leiden am Kreuz, in seinen Schmerzen und seinem Schrei zu finden ist. Und zwar so, dass Gott ganz präsent ist und doch nicht vom schwarzen Loch des Todes verschlungen wird. Der den Schmerz durchringt und doch nicht von ihm aufgefressen wird. Der das Leiden auf eine Weise erträgt, die es nicht rechtfertigt.

Das alles ist keine naheliegende Perspektive. Zur Zeit Jesu lag es nahe zu sagen: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt.“ Kein Wunder bei dieser Brutalität und Qual. Kein Wunder, wenn mit Jesus auch die Hoffnungen sterben. Kein Wunder, wenn Menschen irritiert sind: „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen.“

Dass sich Gott im Kreuz verbirgt, ist wirklich schwer zu denken. Und vielleicht noch schwerer zu glauben: Gott in Schmerz, Schande, Entehrung, Demütigung und Fluch anwesend, das ist eine Zumutung für das Erleben eigener Not und eigenen Schmerzes. Genauso wie für den Versuch, das Geschehen gedanklich zu durchdringen und zu verstehen. Gleichzeitig wird es im Glauben als Trost erfahren, als Gottes Solidarität, als sein Mit-Leiden. Gott ist im Leiden zu finden und das Leiden in Gott.

Den Schmerz Jesu und Gottes Gegenwart zusammenzudenken, provoziert gleichermaßen theistische und atheistische Vorstellungen: Es stört die Vorstellung von Gott, der erhaben über dem Leiden steht, und vom Leiden, das ohne Gott gedacht werden muss. Es fordert dazu heraus, neue Bilder und Vorstellungen von Gott und dem Schmerz dieser Welt zu entwickeln. Es mutet Zweifel als Kehrseite des Glaubens zu und fordert zu einem Vertrauen heraus, das sich durch das Leiden hindurch bewährt.

Der Tübinger Theologe Jürgen Moltmann hat es so formuliert: „(…) ein Gott, der nicht leiden kann, (ist) ärmer als jeder Mensch. Denn ein leidensunfähiger Gott ist ein teilnahmsloses Wesen. (…) Affektlos, wie er ist, kann ihn nichts affizieren, nichts erschüttern. (…) Wer aber nicht leiden kann, kann auch nicht lieben. (…) Der Gott des Aristoteles kann nicht lieben (…) Der ‚unbewegte Beweger‘ ist ein ‚Liebloser-Geliebter‘.“

Das christliche Zeugnis ist: Gott liebt im Leiden und leidet in der Liebe. Er kommt nahe und bleibt zugleich fremd, weil er die Schmerzen durchlebt, statt sie zu beseitigen, Verachtung erträgt, statt sich zu wehren, kein Gott wie ihn Menschen sich wünschen. Auch in der Art, wie er in der Auferweckung des Gekreuzigten liebt, bleibt er fremd und kommt zugleich nahe.

Die ersten Zeugen können es nicht sofort glauben. Ihre Erfahrung wird davon berührt, aber sie können die Auferstehungswirklichkeit nicht greifen, nachweisen, vernünftig oder empirisch verifizieren. Was bleibt also zurück, wenn seine Anwesenheit aufblitzt, aber die Hilfe ausbleibt, die wir erhofft haben? Die Berner Theologin Magdalena Frettlöh schreibt: „Auch und gerade das Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten (…) bedarf der Bewahrheitung durch Gott vor aller Augen. Bis dahin bleibt es angefochten durch jeden Menschen, ja jedes Geschöpf, das Opfer von Gewalt geworden und im Tod geblieben ist.“

Anfechtung ist das Gegenteil von Sicherheit. Und in einer ohnehin verunsicherten Gesellschaft und Kirche wird sie häufig übergangen, bekämpft oder verdrängt. Je mehr Unsicherheiten drohen, desto schneller muss Sicherheit wieder hergestellt werden. Das geschieht durch Rückzug auf Gewohntes. Gleichzeitig spüren wir, dass die Unsicherheiten damit nicht beseitigt, sondern nur verschoben sind.

Anfechtung verunsichert. Darin liegt auch eine Chance: die Unsicherheiten unserer Zeit wahrzunehmen, ihren Umfang zu prüfen, ihre Bedrohung auszuhalten und uns für das zu öffnen, was neu aufwächst. Dazu gehört auch, dass sich Anfechtung manchmal mit einer Gewissheit verbindet, die nicht von dieser Welt ist. In der Anfechtung sind wir auf Gottes Geist angewiesen, der uns die Augen öffnet für Gott an Orten, an denen wir ihn nicht vermuten würden.

Das Kreuzesgeschehen als Gottesgeschehen können wir nur fassen, wenn wir Gott kommunikativ verstehen, mehrgestaltig und zugleich mit sich einig. Und genau das finden wir in der christlichen Vorstellung von der Trinität: Sie denkt und glaubt die Dreiheit und Einheit Gottes paradox ineinander.

Gesprengtes Verstehen

Der Sohn erleidet den Verrat durch Freunde, den Schmerz der Folter, die Demütigung durch den Spott, die Schande des öffentlich zur Schau gestellten Sklaventodes und in all dem die Gottverlassenheit. Damit nimmt Gott die menschlichen Gottverlassenheiten an den Kreuzen dieser Welt in sich hinein - und sprengt nicht nur mit diesem Paradox unser Verstehen. Der Vater, der auch wie eine Mutter ist (Jesaja 49,15) und damit Geschlechterstereotypen sprengt, leidet auf eine andere Weise als der Sohn: Der Vater-Mutter-Gott leidet an dem Schmerz des Sohnes und der Not dieser Welt. Gott ist kein apathischer, sondern ein pathischer Gott. Er leidet an der Art und Weise, wie der Sohn und er auseinandergerissen werden. Das ist alles menschlich gedacht und gesprochen, weil wir anders nicht von Gott reden und ihn denken können als in der Weise dieser Welt. Und zugleich wissen wir im Sinne eines Glaubenswissens, dass das Geheimnis Gottes, das sich hinter der Rede von der Drei-Einheit Gottes verbirgt, diese Rede entgrenzt, übersteigt und sprengt.

Gott leidet nicht ungewollt oder gegen seinen Willen. Er nimmt das Leiden vielmehr aktiv an. Er leidet mit den Menschen an den Kreuzen dieser Welt. Er leidet aus Liebe.

Genau das prägt den Geist des Zusammenspiels Gottes im Kreuzesgeschehen: Es ist die Liebeskraft, die sich hingibt, den Schmerz und die Not dieser Welt durchleidet und überwindet. Es ist eine Energie, die das Leiden in sich hineinnimmt und durchdringt und darin ihre Verwandlungskraft zeigt. Das ist auch der Geist, in dem der auferweckte Gekreuzigte gegenwärtig ist. Es ist der Geist, der die Augen öffnet für Gott im Schmerz und für die Wahrheit des eigenen Lebens. Es ist der Geist, der Glauben entzündet und das Sichtfeld erweitert. Es ist der Geist, der uns mit der leidenden und überwindenden Liebe Gottes verbindet und uns in die trinitarische Kommunikation und die Lebendigkeit Gottes hineinnimmt - und damit natürlich auch die Grenzen unserer Sprachfähigkeit übersteigt.

Ein Problem gegenwärtiger Gottesrede ist, dass sie Gott oft nur einen Gedanken, Begriff, eine Vorstellung, Idee sein lässt, einen Beweger vielleicht, aber selbst unbewegt. Und dann wundern sich Menschen, dass solche Gottesrede kraftlos und energiefrei wirkt. Dass wir auf diese Bahn geraten sind, ist nicht verwunderlich. Der Theismus hat eine lange Wirkungsgeschichte. Der Rationalismus der Neuzeit und Moderne trug ein Übriges bei. Damit verbunden ist die Technisierung der Welt. Der Glaube an die Machbarkeit - qua rationaler Lösungen - hat sich auf ein ungesundes Maß aufgebläht. Auch die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges konnten ihn nicht nachhaltig stören.

Parallel dazu verliefen innertheologische Entwicklungen: Der Schwerpunkt der theologischen Forschung lag lange Zeit auf dem Leben Jesu, seinen Worten und Taten, seinem Vorbild und unserer Nachahmung. Das bedeutet gleichzeitig: Seine Zugehörigkeit zu Gott, seine enge Verbindung mit Gott, seine Gottessohnschaft und Einheit mit Gott wurden - bewusst oder unbewusst - vernachlässigt. Damit aber geriet die Auslegung des Kreuzes auf eine schiefe Bahn. Denn dann ist es nicht mehr Gott selbst, der sich hingibt. Dann bleibt nur noch der Mensch Jesus, der zum Opfer wird. So gewinnen die Fragen an Schärfe: Wie kann Gott das Leiden dieses Menschen fordern, um Heil zu wirken?

Die Gottespräsenz im Schmerz wahrzunehmen und zu glauben, fordert zu einem Wandel unseres Gottesverständnisses heraus - und unserer Gottesrede. Wenn Gott als Sohn den Schmerz dieser Welt erträgt und mit in den Tod nimmt, ist das voller Leidenschaft und Lebenswillen. Wegen des Lebenswillens tut es ja auch so weh, dem Sohn genauso wie dem Vater, der Mutter. Schmerz ist hochenergetisch und alles andere als unbewegt. Wenn Gott den Sohn von den Toten auferweckt, ist das voller Schöpfungsenergie und Lebenskraft. Der Geist dieses Gotteshandelns ist kraftvolle Liebe mitten in den notvollen Prozessen dieser Welt. Das Kreuzes- und Auferstehungsgeschehen zeigt: Gott hat sich in der Not dieser Welt als Überwindungskraft verwurzelt. Er hat damit in sich Raum geschaffen für Leiden und Not, für die millionenfachen Schmerzenswege dieser Welt, für Widerstand und Ergebung, Aushalten und Überwinden. Ein solcher Gott ist leid- und kraftvoll mit seiner Menschheit verbunden. Er nimmt Menschen in seine trinitarische Energie hinein. Er ist ein Geheimnis, verbirgt sich und sprengt zugleich unsere Gottesvorstellungen und öffnet unsere Weltsichten für seine Art der Gegenwart und Wirksamkeit mitten in dieser Welt und über diese Welt hinaus.

Reiner Knieling

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