Geist oder Tat?

Im Verständnis der Ethik unterscheidet sich Martin Luther von Paulus
Moses unter der Kanzel der 1642 eingeweihten evangelisch-lutherischen Kirche von Clausthal-Zellerfeld. Foto: epd/ Swen Pfoertner
Moses unter der Kanzel der 1642 eingeweihten evangelisch-lutherischen Kirche von Clausthal-Zellerfeld. Foto: epd/ Swen Pfoertner
Die Reformation hat auch die christliche Ethik verändert. Warum und wie das geschah und was heute noch nachwirkt, zeigt Johannes Fischer, emeritierter Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich.

Wenn in diesem Jahr der Reformation gedacht wird, muss auch an ihre Bedeutung für die Ethik erinnert werden. Ist doch durch die Reformation die entscheidende Weichenstellung in Richtung moderne Ethik erfolgt. Was wir heute unter Moral und Ethik verstehen, hat hier seine Wurzeln.

In Darstellungen der Geschichte der Ethik wird zwischen antiker und moderner Ethik unterschieden. Die antike Ethik, deren wichtigster Vertreter Aristoteles ist, stand bis zur Reformation unangefochten in Geltung. Aber sie wurde dann nach und nach durch die moderne Ethik abgelöst. Diese fand ihre ausformulierte Gestalt in den ethischen Theorien des 18. Jahrhunderts. Sie ist mit den Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) und Immanuel Kant (1724-1804) verbunden.

Charakteristisch für die antike Ethik ist der Typ der Tugendethik. Danach hat das Zusammenleben seine Grundlage in der Tugend: Wenn alle gemäß der Tugenden leben, ist für das Glück des Einzelnen wie der Gemeinschaft gesorgt. Demgegenüber hat die moderne Ethik ihren Fokus beim menschlichen Handeln. Grundlage für das Zusammenleben ist, dass die Handlungen der Individuen über deren moralische Normierung koordiniert werden. Wenn alle sich an die für alle geltenden Normen halten, ist für ein gedeihliches Zusammenleben gesorgt.

Immer wieder ist Philosophen aufgefallen, dass die moderne Ethik sich auch sprachlich von der antiken unterscheidet. Charakteristisch für die moderne Ethik sind Ausdrücke wie „sollen“ oder „Pflicht“, und zwar in einer ganz bestimmten, nämlich moralischen Bedeutung. Wenn man von einer Handlung sagt, sie sei nicht nur geboten, sondern moralisch geboten, drückt man damit einen unbedingten, letztgültigen Verpflichtungscharakter aus.

Bei Aristoteles kommt diese moralische Bedeutung dagegen nicht vor. Woher ist sie dann gekommen? Die plausibelste Antwort hierauf ist, dass sie das säkularisierte Relikt einer religiösen Gebotsethik und somit christlichen Ursprungs ist.

Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, was das mit der Reformation zu tun hat. Ist das Christentum nicht viel älter? Und hätte der Wechsel von der antiken zur modernen Ethik daher nicht viel früher erfolgen müssen? Was war das Besondere an der Reformation, dass sie eine solche Zäsur in der Geschichte des ethischen Denkens markiert?

Um dies zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen: Die Reformation hat - ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen Selbstverständnis - eine grundsätzlich andere Auffassung des christlichen Lebens und Handelns entwickelt als die christliche Überlieferung, auf die sie sich berief. Martin Luther glaubte, mit seiner Auffassung von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben, ohne die Werke des Gesetzes, völlig mit Paulus übereinzustimmen. Dabei weicht er in einem entscheidenden Punkt vom Apos-tel ab. Und das führt zu einem fundamental anderen Verständnis christlichen Lebens und Handelns.

Gaben des Geistes

Man kann sich den Unterschied an der Frage verdeutlichen: Worauf kommt es einem Christenmenschen in ethischer Hinsicht letztlich an? Für Paulus ist entscheidend, dass durch die Christen Liebe, Güte, Frieden in die Welt kommen und auch Vernunft und Besonnenheit. Sie sind für Paulus Gaben des Heiligen Geistes. Und so kann man auch sagen: Für Paulus ist das ethisch Entscheidende der Geist, von dem Christen sich bestimmen lassen (Galater 5,25). Für Luther liegt das ethisch Entscheidende dagegen im Handeln von Christen, nämlich dass sie den Nutzen und das Wohlergehen ihrer Mitmenschen fördern. Im Freiheitstraktat von 1520 legt Luther die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben, ohne die Werke des Gesetzes, dahingehend aus: Die Werke sind davon entlastet, bei Gott etwas bewirken zu müssen. Und daher können sie sich ganz am Nutzen des Nächsten orientieren. In dieser Umorientierung der Werke vom Ziel des Heils bei Gott auf das Ziel des Wohles des Nächsten besteht die ethische Pointe der lutherischen Rechtfertigungslehre. Damit werden Weichen gestellt in Richtung auf ein ethisches Denken, für das das menschliche Handeln und dessen Wirkungen in der Welt im Fokus stehen.

Aber wie kommt es zum Unterschied zwischen Paulus und Luther? Der Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Ethik liegt in dem religiösen Wirklichkeitsverständnis, in das sie eingebettet ist. Dieses unterscheidet sich fundamental vom wissenschaftlich geprägten Weltbild der Moderne. Demnach wird eine Tatsache aus anderen Tatsachen erklärt, das Wachstum und Gedeihen in der Natur zum Beispiel aus gewissen klimatischer Bedingungen. Im Fokus des religiösen Denkens steht demgegenüber nicht die Tatsache, sondern wie das Gedeihen der Natur erlebt wird, zum Beispiel an einem herrlichen Frühlingstag. Diese Präsenz wird aus der Präsenz von etwas anderem erklärt, aus der Präsenz von Gottes Atem oder Geist: „Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und Du machst neu die Gestalt der Erde“ (Psalm 104,30). Unmittelbar sinnfällig präsent ist dabei nur das Blühen und Gedeihen der Natur. Gottes Odem hingegen ist im Blühen und Gedeihen nur mittelbar sinnfällig präsent. Unabhängig davon ist seine Präsenz den Sinnen entzogen. Gott ist unsichtbar.

In dieser Weise wird das, was in der Zeit geschieht, auf etwas zurückgeführt, das durch seine Präsenz in die Zeit hineinwirkt, aber - wie Gottes Geist - nicht der Zeit unterworfen ist, sondern der Sphäre des Ewigen zugehört. Ewigkeit meint hier nicht eine unbegrenzte Dauer, sondern das, was vom Jenseits der Zeit her das Zeitliche bestimmt. Bei dieser Wirklichkeitsauffassung ist die alles entscheidende Frage: Welche numinosen, der Sphäre des Ewigen zugehörigen Mächte beherrschen durch ihre Präsenz das menschliche Leben?

Von dieser Frage ist auch das Verständnis menschlichen Tuns bestimmt. Sie zielt nicht darauf ab, rein weltimmanent die Tatsachen in der Welt zu verändern. Sie zielt vielmehr auf die Präsenz des Ewigen im Zeitlichen. Denn was in der Welt geschieht, geschieht durch diese Präsenz. Das ist der Grund dafür, warum für Paulus das ethisch Entscheidende im Leben der Christen darin liegt, dass durch sie Liebe, Güte, Frieden oder Besonnenheit in die Welt kommen. Denn dabei geht es um die Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen.

So ist Liebe als solche den Sinnen entzogen, sinnfällig erfahrbar nur mittelbar, so, dass sie in der sinnfälligen Präsenz eines liebevollen Verhaltens gegenwärtig ist. Im Blick auf diese verborgene Gegenwart spricht Paulus vom „Geist der Liebe“ (2. Timotheus 1,7). Es ist dabei kein Zufall, dass das hebräische, griechische und lateinische Wort für Geist zugleich Atem, Hauch oder Wind bedeutet. So wird unmittelbar die Vorstellung von dem anschaulich, das in der sichtbaren Welt durch seine Präsenz unsichtbar wirkt, wie der Wind in der Bewegung der Blätter eines Baumes.

Was das konkret für die ethische Praxis bedeutet, lässt sich am religiösen Pazifismus verdeutlichen. Ihm geht es nicht um die Herbeiführung von Frieden als innerweltlichen Zustand, sondern vielmehr darum, der Präsenz des Friedens Raum zu verschaffen, und zwar durch eine Praxis der Gewaltlosigkeit, die diese Präsenz mit sich führt und an sich selbst bezeugt.

Von dieser Art ist auch das Verständnis der Thora bei Paulus. Wenn er schreibt, dass das Gebot zum Leben gegeben war (Römer 7,10), ist auch dies vom Gegenwärtigwerden des Ewigen im Zeitlichen her zu verstehen: Die Ausrichtung der Lebensführung an den Geboten der Thora zielt auf die Gegenwart des von Gott her kommenden Lebens, das sich in den Geboten der Thora vermittelt (3. Mose 18,5). Darin ist der spirituelle Charakter des Thoragehorsams begründet. Die Gebote haben hier den Charakter von Einweisungen in dieses Leben, nicht den Charakter von Befehlen oder Sollensforderungen. Das ist wichtig für die Frage nach der Herkunft der Moral der Moderne. Wenn man das moralische Sollen auf das christliche Verständnis der Gebote Gottes zurückführt, kann man sich jedenfalls nicht auf den Apostel Paulus berufen.

Luther reagierte mit seiner Rechtfertigungslehre auf die spätmittelalterliche Bußpraxis, insbesondere deren Auswüchse im Ablasshandel. Diese Praxis folgte der instrumentellen Logik des Verdienstgedankens: Die Werke der Buße sind Mittel, um sich das ewige Seelenheil zu verdienen. Hier haben die Gebote den Charakter von Forderungen beziehungsweise Sollensvorschriften, deren Erfüllung oder Nichterfüllung über das Heil entscheidet.

In der Kritik dieser Praxis hat Luther nicht nur das Verständnis der Gebote als Forderungen übernommen, sondern auch das instrumentelle Verständnis der menschlichen Werke. Und das gibt seiner Rechtfertigungslehre ihre spezifische Zuspitzung. Während bei Paulus der Satz, die Gerechtigkeit vor Gott komme nicht aus den Werken des Gesetzes, seine Begründung darin hat, aufgrund der Sünde erfülle kein Mensch das Gesetz, besteht für Luther die Sünde bereits im Versuch, die Gerechtigkeit vor Gott durch die Erfüllung des Gesetzes zu erlangen. Denn der Reformator denkt dies instrumentell, als solle die Gerechtigkeit vor Gott durch die Erfüllung des Gesetzes wie der Zweck durch das Mittel bewirkt werden. Damit würde die Gerechtigkeit zu einem Werk des Menschen, statt sich allein der freien Gnade Gottes zu verdanken. Deshalb muss die Gottesbeziehung von den Werken frei gehalten werden und allein auf dem Glauben an Christus gründen. Die Werke haben aufgrund ihres instrumentellen Charakters ihren Ort im weltlichen Beruf des Christen, im Wirken zum Nutzen des Nächsten. Der kürzlich verstorbene evangelische Ethiker Trutz Rendtorff sprach von einem „christlichen Utilitarismus“, bei dem „die konkrete Bedürftigkeit, der Nutzen für die Nächsten zum neuen Kanon der ethischen Praxis ausgerufen wird“.

So begegnen sich bei Paulus und Luther zwei verschiedene Auffassungen des menschlichen Handelns, als vergegenwärtigendes Handeln, das auf die Gegenwart des Ewigen im Zeitlichen zielt, und als instrumentelles Handeln, das auf weltimmanente Wirkungen gerichtet ist. Dass sich die letztere Auffassung mitsamt der damit verknüpften Ethik durchgesetzt und die antike Ethik verdrängt hat, liegt an dem Exklusivanspruch, den die Reformation für Gottes Wort und Gebot als alleinige Richtschnur christlichen Lebens und Handelns erhob und als Bildungsprogramm verwirklichte. Da war kein Platz mehr für eine dezidiert profane Ethik wie die des Aristoteles.

Moral statt Gott

Mit der Aufklärung ist aus alledem eine Zivilreligion hervorgegangen: An die Stelle des Glaubens an Gott als Gesetzgeber trat der Glaube an eine Instanz namens Moral beziehungsweise „Sittengesetz“ (Kant). Sie nimmt den Menschen mit einem letztgültigen Anspruch in Pflicht. Und ihr kommt in normativen Fragen die entscheidende Bedeutung für die Integration moderner Gesellschaften zu. Als autoritative Letztinstanz in Fragen von richtig und falsch wird die Moral auch heute in öffentlichen Debatten in Anspruch genommen. Auch die Kirchen haben die Zivilreligion der Moral als eigenes Betätigungsfeld entdeckt, indem sie sich die Aufgabe zuschreiben, der Gesellschaft moralische Orientierung zu vermitteln.

Aber auch das ethische Denken des Paulus bleibt aktuell. Kehrt doch das Ewige der religiösen Tradition in der Moderne wieder, freilich in anderer Gestalt, nämlich der von Werten. Man erkennt dies daran, dass all das, was für Paulus Geist ist, im Wertediskurs zu Wert wird: Der Geist der Liebe wird zum Wert der Liebe, der Geist der Freiheit zum Wert der Freiheit und so weiter. Was Geist und Wert unterscheidet, sind die zugrunde liegenden Wirklichkeitsauffassungen, einerseits die präsenz-orientierte der religiöse Tradition, andererseits die objektivierende der Moderne. Geht es im einen Fall um die Präsenz des Geistes der Liebe in der sinnfälligen Präsenz eines entsprechenden Verhaltens, so im anderen um das In-Erscheinung-Treten des Wertes der Liebe als einer objektiven Realität in der empirischen Faktizität eines entsprechenden Verhaltens. Das eine wird erlebt, das andere beobachtet. Allerdings sind auch die Menschen der Gegenwart nicht bloß Beobachter, sondern Erlebende. So können auch sie vom Geist einer Begegnung sprechen oder vom Geist, der in einer Gruppe von Menschen herrscht. Und sie meinen damit etwas, das sich durch seine Präsenz bekundet. Doch der objektivistisch gerichtete Mainstream des heutigen ethischen Denkens blendet diese spirituelle Dimension menschlicher Existenz aus.

Für Paulus liegt das ethisch Entscheidende in dem Geist, von dem Menschen sich in ihrem Leben und Handeln bestimmen lassen und zu dessen Ausbreitung in der Welt sie beitragen, im Guten wie im Bösen.

In verwirrten Zeiten wie diesen, in denen sich Leute erneut für Nation und Volk begeistern und dem Fremden mit Ablehnung und Hass begegnen, ist diese Auffassung von großer Aktualität. Das mag auch die Kirchen daran erinnern: Das, wofür sie stehen, ist nicht die Zivilreligion der Moral, sondern der Geist, aus dem Menschen leben.

Johannes Fischer

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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