Genau hingeschaut

Über die Angst
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Ein Buch gegen die Angst, das selber voller Ängste steckt.

Ein Anflug von Panik macht sich breit, wenn man beim Lesen eintaucht in die Tiefen europäischer Ängste. Der Autor wagt ein spannendes Experiment: Er schreibt ein Buch gegen die Angst, das selber voller Ängste steckt. Zulehner hat genau hingeschaut: Mithilfe einer Onlinebefragung (www.zulehner.org), an der rund 3.000 Personen mitwirkten, ergibt sich ein eindrücklicher Querschnitt durch die diffusen bis abstrusen, teils begründeten Ängste der europäischen Gesellschaft. Zulehner geht dabei der Frage nach, wie es sein kann, dass sich angesichts der Flüchtlingsströme unsere europäische Gesellschaft spaltet. Warum reagieren die einen mit Abwehr, Wut und Hass auf die „Invasion von außen“ oder befürchten gar den Untergang des Abendlandes, während andere die Flüchtlingskrise als Aufgabe und Chance begreifen und engagiert zupacken? Seine These: Die wichtigste Entscheidung in dieser Frage steht und fällt mit dem Angstpotenzial, das wir selber in uns tragen.

Hier wird die Lektüre interaktiv: Neben aktuellen Forschungsergebnissen und politischen Äußerungen, die Zulehner auf dem Hintergrund seiner christlichen Existenz einer deutlichen – auch sprachlichen – Kritik unterzieht, stellt der Autor die Statements der Teilnehmenden aus der Onlinebefragung: Sie bilden den Auftakt zu den einzelnen Kapiteln, kommentieren, durchbrechen den Erzählfluss. Das erschwert an manchen Stellen das Lesen, macht aber auch den Reiz dieses Buches aus: Als Leserin werde ich herausgefordert, mit Menschen in Kontakt zu treten, deren Meinung ich nicht teile. Viele Statements überraschen. Sie sind besonders stark, wenn sie unkommentiert bleiben. So entsteht ein spannender Querschnitt durch verschiedene Altersgruppen und politische Gesinnungen.

Manche Äußerungen verstören und machen wütend, andere beeindrucken und machen Mut. Nachdenklich stimmen alle: „Ich habe Angst, dass wir viel zu wenig Selbstbewusstsein an den Tag legen, um die Integration zu stemmen.“ (Frau, 1964) „Angst, dass es unter den Flüchtlingen weitaus intelligentere geben könnte als mich. Angst vor der Respektlosigkeit Frauen gegenüber . (Frau, 1954) „Die wichtigste Angst unter der Bevölkerung scheint mir, zu kurz zu kommen (Mann, 1969).

Zulehner teilt die Ansicht, dass wir immer mehr zur Angstgesellschaft mutieren. Dem will er als Christ etwas entgegensetzen. Denn Angst entsolidarisiert. Hier offenbart sich der Autor als „universeller Heilsoptimist. Also katholisch – nicht konfessionell, sondern universell.“ Dass Zulehner als katholischer Theologe und Priester im österreichischen Wien beheimatet ist, spricht aus vielen Zeilen dieses Buches. So bewegen sich auch die Beispiele heilsamen kirchlichen Handelns durchweg im katholischen Bereich. Die Heilung des Menschen von der Angst definiert Paul Zulehner als spirituelle Hauptaufgabe der christlichen Kirchen in unserer Zeit und trifft dabei einen Nerv. Eine spannende Aufgabe, gerade im Jahr des Reformationsjubiläums. Wollte Martin Luther nicht genau das?!

Am Ende des Buches findet sich der Fragebogen. Zulehner macht Mut und Lust, ihn auszufüllen und genauer hinzusehen, auf die eigenen Gefühle und Ängste angesichts der Flüchtlinge, die zu uns kommen. Und eine ehrliche Antwort auf Fragen wie diese zu finden: „Hatte Jesus Angst vor den 5.000 Menschen, die Hunger hatten?“ (Frau, 1960)

Barbara Manterfeld-Wormit

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