Mehr Mut zum Denken

Gespräch mit der Kirchenmusikerin Christa Kirschbaum aus Frankfurt/Main über die Faszination der Musik Bachs und die Herausforderung, sie heute redlich aufzuführen
Foto: privat
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zeitzeichen: Frau Landeskirchenmusikdirektorin Kirschbaum, wann ist Ihnen Bach das erste Mal begegnet?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Schon als Kind. Mein Vater war Leiter eines Heimes für behinderte junge Männer in Volmarstein (Ruhr). Das Haus war ein Gründerzeitbau mit riesigen langen Fluren, drei Stockwerken und einer großen Akustik. Am Sonntagmorgen stellte er den Plattenspieler vor sein Büro im Erdgeschoss, legte die Karl-Richter-Aufnahme der Bachkantate für den entsprechenden Sonntag auf und ließ sie durchs ganze Haus schallen - es klang bombastisch! Das erste Werk von Bach, das ich mitgesungen habe, war das Weihnachtsoratorium. Da war ich 13 Jahre alt, und ich war total fasziniert!

Können Sie beschreiben, was Sie fasziniert hat?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Schon damals habe ich gespürt: In dieser Musik ist kein Ton überflüssig, es ist alles durchdacht und alles sinnvoll. Die Verbindung von Mathematik und Emotionen ist für Bachs Musik charakteristisch: Er hat ganz strenge Prinzipien, die er befolgt und die er dann immer wieder bewusst bricht, und zwar aus inhaltlichen Gründen.

Als Kind hörten Sie Karl-Richter-Aufnahmen. Seitdem hat sich einiges geändert. Die so genannte historische Aufführungspraxis prägt seit Jahrzehnten mehr und mehr die Aufführung Bachscher Musik, angefangen mit den bahnbrechenden Einspielungen von Nikolaus Harnoncourt und Gustav Leonhardt ab den Siebzigerjahren. Wie finden Sie das?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Das finde ich großartig. Die historische Aufführungspraxis hat die Musik durch ihre neuen Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Instrumente und die Wiederentdeckung der barocken Musizierpraxis entschlackt, sie durchhörbarer und plastischer gemacht und damit zur Ursprungsidee dieser Musik zurückgeführt.

Ein berühmtes Buch von Nikolaus Harnoncourt heißt „Musik als Klangrede“, erstmals erschienen 1982. Dort werden auch die rhetorischen Regeln der Barockmusik für ein breiteres Publikum entfaltet. Warum ist das alles für die Musik Bachs so wichtig?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Es gibt strenge Regeln in der Barockmusik, wie sich die Töne und die Rhythmen zu-einander zu verhalten haben, und dann gibt es Ausnahmen von diesen Regeln, aber die müssen inhaltlich begründet sein. Das ist der Sinn der musikalischen Rhetorik - sie ist längst nicht nur Ausschmückung, sondern auch inhaltliche Verdeutlichung.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Der vierte Choral im Weihnachtsoratorium beginnt mit der Zeile „Schaut hin, dort liegt im finstern Stall, des Herrschaft gehet überall“. Die letzten vier Worte sind von Bach mit einer Basslinie vertont, die vom tiefen A hoch geht bis zum b - also über den Umfang einer Oktave hinaus (siehe Bild oben). In der Barockzeit galt die Oktave als Maß des Menschlichen. Außerdem kreuzt (!) der Bass dabei die nächsthöhere Stimme, den Tenor. Eine theologisch durchdachte Umsetzung des Textes „des Herrschaft gehet überall“, aber eigentlich ein doppelter Verstoß gegen die Kompositionsregeln. Als Interpretin muss ich entscheiden, wie ich diese Besonderheit heute zum Klingen bringe. Indem diese Basslinie lauter wird, um zu zeigen, da geht etwas aufwärts von der Tiefe des menschlichen Lebens, das den Umfang einer Oktave überschreitet? Oder nehme ich das im Aufgang eher zurück, um nicht mit dem Himmel zu protzen? Auf jeden Fall stellt es mich vor die Frage: Was will ich heute, in diesem Moment ausdrücken?

Da helfen Ihnen die historischen Quellen nicht?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Sie helfen zu verstehen, wie Bach es gedacht und vielleicht gemacht hat, das ist ganz wichtig, aber sie sind für mich nicht das Alleinseligmachende. Denn wir sind drei Jahrhunderte weiter, geistesgeschichtlich, gesellschaftlich, theologisch, und wir werden die Musik nie wieder genauso aufführen können wie Bach. Dann dürften auch keine Frauen mitsingen und ich dürfte nicht als Dirigentin vorne stehen.

Wann sind Sie den großen Passionen Bachs begegnet?

CHRISTA KIRSCHBAUM: In der Praxis erst während meines Kirchenmusikstudiums, da habe ich im zweiten Semester in einem Hochschulprojekt einen Teil der Johannespassion dirigiert - eine spannende Sache mit sieben Dirigentinnen und Dirigenten, die im fliegenden Wechsel auf dem Podium nacheinander auf- und abtreten mussten. In meiner aktiven Zeit als Kantorin seit 1986 habe ich mich dann lange davor gedrückt, eine Passion aufzuführen und zwar aus inhaltlichen Gründen, diese ganze Theologie des Karfreitags gefiel mir nicht. Damals wurde noch das Sühnopfer hochgehalten, und ich wusste nicht, mit welchem Impuls ich eine Passion aufführen sollte.

Wieso ist Ihr eigener Impuls dabei so wichtig, gehören Passionsaufführungen nicht einfach zur Kirchenmusik dazu?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Ich habe bei Gerd Zacher in Essen studiert, der war berühmt für seine neue Orgelmusik. Er hat auch viel Alte Musik gemacht, und die dazugehörige Musizierpraxis war ihm sehr wichtig, aber er hat immer versucht herauszufinden, was dabei für uns relevant ist, ob wir heute einen Nutzen, eine Erkenntnis daraus ziehen können, ob diese Auseinandersetzung lohnt. Dieser Ansatz hat mich geprägt. Unreflektierte Traditionspflege ist mir zu wenig.

Wie kam es dann dazu, dass Sie doch Bachs Passionen aufführten?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Das war 2007, da war ich schon zwanzig Jahre Kantorin. Die damalige politische Situation - auch damals gab es Überfälle auf Asylbewerberheime - hatte mich dazu gebracht, dass ich die Passion nicht in erster Linie als historisches Zeugnis sah, sondern als ein aktuelles Stück. Ein Stück, das ausmalt, was passiert, wenn sich ein Mob organisiert und dafür sorgt, dass Jesus zu Tode kommt - damit wollte ich mich auseinandersetzen.

Und wie haben Sie das gemacht?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Wir machten die Johannespassion, und ich habe mit einer Gruppe interessierter Menschen aus meiner Kantorei Lippstadt das Programmheft gestaltet. Damals war gerade der erste Artikel der westfälischen Kirchenordnung geändert und das Bekenntnis zum Juden Jesus aufgenommen worden. Das hat uns auch in dieser Gruppe beeinflusst, und wir sind uns des antijüdischen Charakters der Johannespassion bewusst geworden.

Haben sich diese Erkenntnisse nur im Programmheft niedergeschlagen oder auch in der Aufführung selbst?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Auch in der Aufführung. Am Ende des ersten Teiles, da, wo zu Bachs Zeiten eine mindestens einstündige Predigt folgte, steht in der Johannespassion ein Choral. Er handelt von Petrus, der Jesus verraten hat („Petrus, der nicht denkt zurück“). In der zweiten Hälfte kommt, wie bei Bachs Chorälen häufig, das Wir der Gemeinde in den Blick, dort heißt es: „Jesu, blicke mich auch an, / wenn ich nicht will büßen / wenn ich Böses hab getan / rühre mein Gewissen“. Nach diesem Choral haben wir mit einem Projektor Zitate zum Thema „Gewissen“ aus drei Jahrhunderten, von Bachs Zeitgenossen bis in die Gegenwart, an die große Wand hinter den Chor geworfen, etwa fünf Minuten lang. Es war eine Intervention in den klassischen Konzertablauf. Das hat einige Leute verunsichert, aber viele fanden es sehr bereichernd.

Würden Sie das heute wieder so machen?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Ich glaube, ich wäre radikaler und würde direkt in die Musik eingreifen, zum Beispiel kurze kommentierende Musiken einschieben. Oder die Choräle zweifach singen lassen: Einmal so wie Bach sie notiert hat, und beim zweiten Mal ließe ich den Chor improvisieren: Es könnten Wörter einfach ausgelassen werden, die Einzelnen nicht gut über die Lippen kommen. Oder sie könnten sehr leise singen und bestimmte Ausdrücke besonders laut, oder in einer anderen Klangfarbe, zum Beispiel greller oder weicher. Oder jeder wählt sein eigenes Tempo, dass sich das Ganze dann verläuft und das Kollektiv gar nicht mehr Kollektiv ist, oder jedes Chormitglied verlängert einen Ton seiner Wahl selbst, also individuell eine Fermate, dass der Klang zu einem großen Cluster verschwimmt - da gibt es ganz viele Möglichkeiten, um einen Verfremdungseffekt zu erreichen, der zum Nachdenken führt.

Wie verbreitet ist diese Sensibilität unter den heutigen Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern? Ich habe den Eindruck, dass es viele Aufführungen der Passionen Bachs „einfach so“ gibt, ohne große Erläuterungen und schon gar ohne jeden Zusatz.

CHRISTA KIRSCHBAUM: Das stimmt - allgemein ist es leider noch gar kein Thema. Unsere Tagung im Jahre 2014 war meines Wissens die erste, die sich explizit mit der Fragestellung des Antijudaismus in Bachs Passionen beschäftigt hat (siehe Kasten). Die Idee, so eine Tagung zu organisieren, hatte ich schon länger: 2011 hatte die Jugendorganisation der Grünen eine Art Flash Mob auf dem Frankfurter Römer organisiert, um gegen das Tanzverbot am Karfreitag zu protestieren. Daraufhin hat die hessen-nassauische Landeskirche viel Material mit religionspädagogisch wertvollen Informationen zum Karfreitag erstellt - aber die Kirchenmusik kam überhaupt nicht vor. Dabei sind Passionskonzerte in den Kirchen voll, und wenn wir dann die Werke „einfach so“ aufführen, betreiben wir eine Theologie von 1724. Das geht doch nicht! Wir wissen doch heute viel mehr, und das muss auch in der Kirchenmusik reflektiert werden. Und für mich gibt es auch wirklich diesen garstigen Graben der Shoah .

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Kirchenmusiker sagen, ich möchte Bach pur machen und mich nicht auch noch mit diesen Fragen beschäftigen müssen?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Ich finde, das geht nicht. Wir leben doch nicht mehr zu Beginn des 18. Jahrhunderts, und wir leben nicht abgeschottet in einer schönen warmen Höhle, die abgetrennt ist von der Wirklichkeit und der Geschichte.

Ich treffe diese ablehnende Auffassung häufig bei Leuten an, die musikalisch sehr versiert und sonst allen Fragen gegenüber aufgeschlossen sind, aber beim Thema „Bach und Antijudaismus“ verweigern sie sich total.

CHRISTA KIRSCHBAUM: Es ist schade, dass sie da auf so einem schmalen Grat verbleiben. Dass sie sagen, mein höchstes Ziel ist es, Bach so aufzuführen, wie er es selbst gemacht hat. Vielleicht haben sie Angst, dass ihnen ihre Basis, die vermeintlich durch Tradition verbürgte Sicherheit, wegbricht. Hier trifft genau das zu, was Hanns Eisler einmal gesagt hat: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts.“

Woran liegt das?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Möglicherweise hat diese Haltung auch etwas mit der Geschichte der Kirchenmusik zu tun. Im 19. Jahrhundert, mit der Wiederentdeckung der Matthäuspassion durch Mendelssohn, wanderte die Kirchenmusik aus der Kirche in den Konzertsaal und wurde zur Kunstreligion. Ein Schritt zur Individualisierung und Ästhetisierung, die Musik und ihr Text wurden aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst. Gegen diese Superästhetisierung protestierte dann mit Beginn des 20. Jahrhunderts die kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung, indem man rief: „Ad fontes!“

Eine Art musikalische Umkleidung der dialektischen Theologie?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Ja, genau. Die Prediger verstanden sich unter Absehung der eigenen Person und Emotion als Sprachrohr des Wortes Gottes, und in der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung war es ähnlich: Schöne Klänge? Bitte nicht! Man komponierte angeblich so wie Heinrich Schütz, aber es klang nicht wie Schütz, sondern viele Quarten sorgten verlässlich dafür, dass es bloß nicht zu sinnlich klang, dazu möglichst strenge Fugenformen. Also: Intellekt, Intellekt und nochmals Intellekt. Die Form war das allerwichtigste, damit nur „das Wort“ klar und rein verkündigt wurde. Diese Zeit dauerte bis Ende der Fünfzigerjahre. Dann kam es zur Wiederentdeckung der Romantik, dann kamen das neue geistliche Lied und schließlich die historisch informierte Aufführungspraxis. Und bei einigen führt die leider wieder zu einer Überbetonung des Ästhetischen mit wenig Kontakt zu dem, was die Gegenwart bewegt.

Können Sie denn nicht verstehen, dass es manche ärgert, dass nun Bach als antijudaistisch gilt, obwohl doch viel dafür spricht, dass er sich da gar nicht besonders hervorgetan hat, sondern Kind seiner Zeit war?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Um Bach persönlich geht es doch gar nicht. Wir haben keine Quellen, aus denen hervorgeht, dass er nun in besonderer Weise antijüdisch eingestellt war. Sicher, Bach war Kind seiner Zeit. Aber wir sollten doch auch redliche Kinder unserer Zeit sein, indem wir die fast dreihundertjährige Wirkungsgeschichte dieser Musik und dieser Texte nicht übergehen. Außerdem mache ich die Erfahrung, dass viele Menschen nur darauf warten, endlich einmal über diese Fragen zu sprechen. Auf unserer Tagung 2014 waren Menschen, die sagten, sie hätten sich ihr ganzes Leben als Chorsänger immer gefragt, wie man das mit der Passion heute überhaupt verstehen kann, aber sie haben sich nie getraut, etwas in Frage zu stellen, weil sie dann ja den Heroen Bach, den fünften Evangelisten, den Inbegriff der Musikkultur des Abendlandes, antasten würden.

Geht es dann nicht nur um die Frage nach dem Antijudaismus, sondern nach dem Passionsgeschehen überhaupt?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Kann man das trennen? Natürlich kann ich sagen: „Für mich musste Christus nicht sterben“, und dann lasse ich die emotionale Klappe runter und zelebriere eine Bachpassion einfach als historisches Dokument. Aber das ist mir als Kirchenmusikerin zu wenig. Für mich ist Musik Kommunikation des Evangeliums, das heißt, ich will die alten Texte und Geschichten ins Gespräch bringen und herausfinden, was das heute für mein Leben bedeutet.

Kann denn Kirchenmusik den Ruf der Theologie etwas reparieren?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Ich wünsche mir jedenfalls eine stärkere Zusammenarbeit von Kirchenmusik und Theologie schon in der Ausbildung, denn es ist eine Überforderung, wenn Kirchenmusiker diese ganzen inhaltlichen Dinge alleine machen sollen. Für mich ist der Karfreitag nicht der höchste Feiertag für einen Christenmenschen, das ist Ostern. Ja, der Karfreitag ist überhaupt nur auszuhalten, weil drei Tage später Ostern ist.

Das sehen heutzutage viele Theologen ähnlich. Aber der entscheidende Punkt, der viele Bachliebhaber bei einer kritischen Betrachtung der Passionen Bachs stört, scheint mir, dass durch die Wirkungsgeschichte Bachs Musik etwas aufgedrängt wird, womit sie ursprünglich gar nichts zu tun hat. Ist das nicht verständlich?

CHRISTA KIRSCHBAUM: Nein, das sehe ich anders. Mein Lehrer Gerd Zacher hat einmal ein wunderbares Bild für Analyse im weitesten Sinne verwendet: Analyse ist, wenn ich das Gesicht eines guten Freundes mit den Händen abtaste, um besser zu begreifen. Dann spüre ich auch alle Unebenheiten und alle Falten und all das, was das Leben eingezeichnet hat. Aber ich lerne ihn dadurch besser kennen.

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 4. Januar in Frankfurt/Main.

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