Vielschreiber in beiderlei Gestalt

Georg Philipp Telemanns Bedeutung für die Kirchenmusik. Betrachtungen zum 250. Todestag
Georg Philipp Telemann um 1750. Aquatinta von Valentin Daniel Preisler, nach dem verschollenen Gemälde von Ludwig Michael Schneider. Spätere Kolorierung. Foto: akg-images
Georg Philipp Telemann um 1750. Aquatinta von Valentin Daniel Preisler, nach dem verschollenen Gemälde von Ludwig Michael Schneider. Spätere Kolorierung. Foto: akg-images
Der Barockkomponist Georg Philipp Telemann (1681-1767) hatte ein langes Leben, aber stand schon bald nach seinem Tod im Schatten seiner Zeitgenossen Bach und Händel. Erst in jüngerer Zeit wird auch sein kirchenmusikalisches Schaffen überhaupt wahrgenommen und wieder mehr aufgeführt. Der Kunsthistoriker, Germanist und Musiker Klaus-Martin Bresgott würdigt den luziden Meister anlässlich des 250. Todestages am 25. Juni.

Als der 37-jährige Komponist und Musiker Georg Philipp Telemann in einer brieflich verfassten Biografie an den gleichaltrigen Johann Mattheson (1681-1764), der als eines der Universalgenies seiner Zeit gerade das Amt des Musikdirektors am Hamburger Dom übernommen hatte, auf sein bisheriges Schaffen blickte, zog er dieses Resümee: "Wenn / da Natur und Trieb das Wollen eingepräget / Wenn Nutzen / Ehr’ und Glück den muntern Fleiß erreget / Wenn manch geübter Halß / Hand und geschicktes Blatt/ Den forschenden Verstand in uns geschärffet hat / Und man am Ende doch sein Schwach-seyn muß bekennen / So folget / daß Music ein hohes Werck zu nennen;"

Telemanns Lebensweg hatte ihn bis dahin von seiner Heimatstadt Magdeburg aus über Zellerfeld im Harz (1694-1697), Hildesheim (1697-1700) und Magdeburg (1700-1701) nach Leipzig (1701-1704) und von dort über Sorau in der Lausitz (1705-1706; heute Zary, niedersorbisch Zarow) und Eisenach (1706-1712) schließlich nach Frankfurt am Main geführt (1712-1721), ehe er von dort weiter nach Hamburg übersiedelte, wo er bis zu seinem Tod 1767 wohnte.

Der Respekt gegenüber seiner mit großer Profession gepflegten Kunst paart sich bei Georg Philipp Telemann unverstellt mit Wagemut, Lust und neugierig-forschem Schaffensdrang, wie er ihn im gleichen Schreiben kundtut: "Lust und Fleiß kann Wege finden / Ob sie noch so tieff verschneyt / Und ein kühnes Überwinden / Trotzet der Unmöglichkeit. / Zeigen sich gleich große Berge? / Frisch gewagt! Du kommst hinan. / Sieh die Schwürigkeit für Zwerge / Dich für einen Riesen an."

Man staunt nicht nur ob der Lebenslust und -energie, die dieser Mann aus dem Kern seiner Selbst heraus mit schäumendem Willen postuliert, man staunt gleichfalls über die stilsicher geschwungene Feder, die sich auch rhythmisch reimend sicher bewegt, als säße sie über einer Partitur. Den gleichen Gestus im Idealmaß des vierhebigen Trochäus mit wechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen und das darin pulsende Energetikum wird 110 Jahre später, 1828, auch der mehr als doppelt so alte Goethe in Dornburg bei einem seiner berühmten Altersgedichte „Dem aufgehenden Vollmonde“ verwenden: "Willst du mich sogleich verlassen? / Warst im Augenblick so nah! / Dich umfinstern Wolkenmassen, / und nun bist du gar nicht da. (.) So hinan dann! Hell und heller, reiner Bahn, in voller Pracht! / Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, überselig ist die Nacht."

Wie diese Zeilen über den alternden, aber herzwachen Goethe, so sagen obenstehende viel über den Menschen und Musiker, über den Geist und über die Größe Georg Philipp Telemanns aus. Sie gehen weit über eine Selbstauskunft hinaus. Sie offenbaren einen lebensnahen und zugleich lebensklugen, umtriebigen Mann, der sowohl neben Johann Sebastian Bach (1685-1750) und Georg Friedrich Händel (1685-1759) als auch zwischen diese beiden passt - freilich nur, wenn man bei jedem extra Maß nimmt und jedem die ihm eigene Souveränität und Individualität zubilligt. Denn Telemann ist nicht der Mann der Vertikale wie Johann Sebastian Bach, nicht der machtvoll Kreisende wie Georg Friedrich Händel. Georg Philipp Telemann ist der Virtuose auf der Spielfläche des Horizonts, der fassbaren und immer wieder neu zu bestaunenden, ob kleingeistiger Mitmenschen oftmals schwer erträglichen und mit Humor doch heiter zu nehmenden Wirklichkeit. Ihn einfach nur mit den stilistischen Normen des Barock mit dessen Großmeistern über einen Kamm zu scheren, hieße, ihm seinen Stuck abzuschlagen und die deutsche Barockmusik um etliche ihrer Pastelltöne zu berauben. Denn diese sind die Farben des Tonmalers und „getreuen Music-Meisters“ Georg Philipp Telemann.

Aktiver Blumenfreund

Dabei führt dieser blumig anmutende Vergleich duftgerade zu dem aktiven Blumenfreund und -züchter Telemann, der sich eigens von Georg Friedrich Händel mit Blumen englischer Züchter für den eigenen Garten in Hamburg versorgen ließ. Was ist das für ein Bild: Während Johann Sebastian Bach an der Orgel brütet und Georg Friedrich Händel sich Cembalo-Duelle mit Domenico Scarlatti liefert, ist Georg Philipp Telemann im Garten, um nemlich die Bluhmen-Liebe zu pflegen. Ist das despektierlich? Keinesfalls. Wo Johann Sebastian Bach zu predigen sinnt, dem Gotteswort in Tiefe und Transzendenz folgt und es musikalisch offenbarend verschlüsselt, wo Georg Friedrich Händel berserkerhaft der musikalischen Leidenschaft und daneben allenfalls der Gaumenfreuden frönt, lässt sich Georg Philipp Telemann - als Sohn eines Diakons und im Hause des Superintendenten Caspar Calvör zu Zellerfeld lutherisch und fromm aufgewachsen - in ganz individueller Teilhabe mit den Augen und der Harke in der Hand auf die göttliche Schöpfung ein.

Die Natur ist ihm Anschauung, Inspiration und Wissensquell. Sie lässt ihn nicht nur Farben und Melodien finden, mit denen er diese Schöpfung in etwa 1.400 Kantaten, die etwa die Hälfte seines Nachlasses ausmachen und er größtenteils jahrgangsweise konzeptionell vertonte, 46 Passionen, 23 Psalmen und knapp 20 Motetten preist. Sie macht ihn auch zu einem modernen, aufgeklärten Menschen, der übrigens schon 1728 über seine Hamburger Mitbürger und deren Gepflogenheiten zu berichten weiß, dass bei schönem Wetter "die hiesigen Kirchen etwas ler von Menschen (sind,) derer sich viele auf ihren Gärten befinden."

Hier kommt beispielhaft Barthold Heinrich Brockes (1680-1747) ins Spiel, früher Aufklärer und poetischer Freigeist aus der Hansestadt. Dessen Naturlyrik mit ihrer Reflexion des Ebenmaßes und der Balance zwischen Welt und Gott und Mensch scheint in ihrem aufklärerischen Impetus beispielhaft für das religiöse Erleben und Verstehen Telemanns zu sein. An Brockes Ideen und Gedanken orientiert sich Telemann philosophisch. Brockes wird aber auch, wie später etwa Karl Wilhelm Ramler (1725-1798), für Telemann Sinn- und Vorbild des modernen Dichters überhaupt. Die Art und Weise professionellen Umgangs mit Texten, das dramaturgische Verständnis und lyrisch-syntaktische Handwerk lassen Telemann in aller seiner Vokalmusik maßgeblich auf diesen und die Dichter seiner Zeit überhaupt zurückgreifen. Damit verbindet er in seinem Hier und Jetzt neue Musik mit neuen Texten. Wie die Musik muss auch der Text seine Zeit und ihren Anspruch spiegeln. Das ist zu Telemanns wie zu allen Zeiten nicht gänzlich unüblich, überrascht in dieser Fülle und in der meistenteils glücklichen Wahl der Librettisten aber doch.

Brockes jedenfalls verhilft Telemann schon während seiner Frankfurter Zeit mit seinem Libretto „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“ (1712/13) zu großem Ruhm. Dieses heute „Brockes-Passion“ genannte Werk, ist das herausragende Libretto des frühen 18. Jahrhunderts und der meistvertonte deutsche Passionstext überhaupt. Gleich nach Erscheinen lieferte der geniale Exzentriker Reinhard Keiser ein erstes Oratorium dazu (1713) - dem folgten schließlich Georg Philipp Telemann (1716), Johann Mattheson (1718), Georg Friedrich Händel (1719), Johann Friedrich Fasch (1723), Gottfried Heinrich Stölzel (1725) und sogar noch 1759 der Schweizer Johann Caspar Bachofen.

In der Brockes-Passion von 1716 zeigt sich ein erstes Mal Telemanns Größe und Individualität in bezug auf die Kirchenmusik, die auf dem Gebiet der Passionsmusiken am nachhaltigsten wirkt. Dabei muss man wissen, dass Telemann auch hier ein Vielschreiber war - und dies in zweierlei Form. Einerseits vertonte er - ganz wie wir es von Johann Sebastian Bach kennen - eine quasi gottesdienstliche und zu seiner Zeit selbstverständlich auch daran gebundene Fassung: die Passion wird mithilfe der Evangelientexte und ihrer Protagonisten erzählt, meditierende und didaktische Einschübe in Form von Arien und Choralversen flankieren und strukturieren das Geschehen und bereiten es für die Hörenden sinnvertiefend auf. Während seiner Hamburger Zeit von 1722 bis 1767 schuf Telemann in dieser Form beinahe jährlich eine neue oratorische Passion für die Hamburger Haupt- und Nebenkirchen, für die er als oberster Musikdirektor der Stadt zuständig war. Daneben schuf er - auch hier der fleißige Sowohl-als-auch-Aktivist zwischen dem Leipziger Kirchenkomponisten und dem Londoner Opern- und Oratoriengenie - fünf große Passionsoratorien, die in wesentlich größeren Abständen zwischen 1716 und 1756 entstanden. Diese Art der Passionen war eine gänzlich neu gedichtete und für den Konzertsaal konzipierte Form, die auch musikalisch anderen Gesetzmäßigkeiten folgt und unter dem Einfluss der Aufklärung maßgeblich zum Aufblühen des städtischen Konzertlebens beigetragen hat. Legt man diese originäre Aufführungspraxis zugrunde, erübrigt sich die jährlich wiederkehrende Diskussion, an welchem Ort die Aufführung eines derartigen Passionsoratoriums stattzufinden habe .

Brockes Kunstfertigkeit als Librettist offenbart einerseits die Schönheit der überbordenden barocken Sprache und die damalige Intention, mit drastischen Bildern und ausreizender Rhetorik die Hörenden nicht nur ästhetisch zu bewegen, sondern sie emotional bis ins Mark zu treffen und zu erschüttern. Nur so, über die offenen Sinne - diese Überzeugung teilt Telemann in der musikalischen Umsetzung par excellence - lässt sich auch das Herz erreichen und eine moralische Wirkung erzielen. Und so begegnet Telemann diesem affektgeladenen Stil gleichermaßen mit außergewöhnlichen, für seine Zeit geradezu drastischen musikalischen Mitteln. Die Wahl dieser Art von Libretti, die nicht den berichtenden Bibeltext selbst nutzen, sondern dessen lyrische Adaption darstellen und damit auf eine doppelte Wirkmächtigkeit aus sind, zeigt aber auch die Schwierigkeit des Zugangs über die Entstehungszeit hinaus.

Neue Räume

Uns Heutigen ist diese Sprache oftmals eine Zumutung, ihre Stuckatur überladen, ihre Konstruktion Zierrat. Hier liegt ein generelles Problem Telemannscher Kirchenmusik - nämlich am Mut und der Größe, die wir bei heutigen Komponisten vielfach vermissen: Am Mut, Lyrikern und Schriftstellern seiner Zeit das Wort zu geben und ihre sprachliche Kraft mit der Musik seiner Zeit zu verbinden, hat es Telemann nicht gefehlt. Aber deren Sprache, deren aufklärerische Lust erscheint uns Abgeklärten in ihrem nebulös manierierten Duktus und mitunter komplexen Versmaß heute vielfach fremd. Und doch hat sie - nicht nur thematisch - ihre Kraft, weil Telemann sie musikalisch mit einem neuen Ton und damit einer erweiterten Klangsymbolik versieht, die dergestalt auch Einzug in die geistliche und die Kirchenmusik überhaupt hält.

So hat Telemanns Kirchenmusik etliche neue Räume erobert: den örtlichen in Form des Konzertsaals, den literarisch-historisch jetztzeitlichen in Form aufklärerischer und empfindsamer Ansprache und den, der sich in allen Zeiten nach ihm als problematisch erweisen sollte, weil er die Geister scheidet und zu teilweise schwer nach zu vollziehbarer Geringschätzung geführt hat: den musikalisch-ästhetischen in Form sowohl opernhaft dramatisierender als auch galanter (französisch inspirierter) Art, die den für manche Kritiker und Hörer im geistlichen Kontext nicht zu duldenden Esprit in der deutschen geistlichen Musik des frühen 18. Jahrhunderts etabliert hat. Die Bläser spielen dabei eine wichtige Rolle - allen voran die Traversflöte, Oboe, Hörner und Trompeten. Für sie wie für die Kammermusik überhaupt ist Telemann von unschätzbarem Wert und bis heute vielfach in Gottesdiensten, Hauskreisen und Konzerten zu hören.

Dem grandiosen „Frühwerk“ der „Brockes-Passion“ von 1716 steht beispielhaft „Die Auferstehung“ des nunmehr 80-jährigen aus dem Jahre 1761 mit noch immer immenser und erneut gewandelter Spannkraft gegenüber. Ihr Librettist Justus Friedrich Wilhelm Zachariae (1726-1777) zeichnet auch für Telemanns Kantatenzyklus „Die Tageszeiten“ (1757), der eine brillante Vorwegnahme der „Jahreszeiten“ (1801) von Joseph Haydn (1732-1809) darstellt.

Telemanns freierer und lyrisch-expressiver Umgang mit Metrik und Melodik zeigt ihn in diesem Alter schon auf dem Weg in die Klassik und deren empfindsame Agogik. Der in das dunkel klagende Eingangsrezitativ „Du tiefe, tote, grauenvolle Stille“ einbrechende Jubelchor „Der Herr ist auferstanden“ ist ein wunderbares Beispiel für diese klangmalerischen Fertigkeiten, die noch den alten Mann wie einen jungen und auf der Höhe seiner Zeit dastehen lassen.

Vergleicht man das Dreigestirn deutscher Barockmusik Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann mit dem Dreigestirn der großen deutschen Maler der Renaissance Albrecht Dürer (1471-1528), Matthias Grünewald (um 1480-1528) und Lucas Cranach dem Älteren (1572-1553), so tragen Cranach und Telemann ein ähnliches Joch: Während Bach und Dürer über jeden Zweifel erhaben sind und auch für Händel und Grünewald kein Lob zu groß ist, musste der von Philipp Melanchthon seinerzeit als „Bauernmaler“ gescholtene Cranach manche Sticheleien gegenüber seinem Fleiß, seiner Umtriebigkeit und seinem Geschäftsgeschick auch posthum mit Grandezza ertragen. Und Telemann wurde noch von Albert Schweitzer mit Häme übergossen, wenn dieser moniert: „Es erscheint unbegreiflich, dass Bach es über sich gewann, ganze Kantaten von Telemann abzuschreiben“ (und aufzuführen!).

Umso mehr weiß Wolfgang Rihm, der in diesem Jahr mit dem „Preis der europäischen Kirchenmusik“ geehrt wird, Telemanns Schaffen zu würdigen: Telemanns Musik „ist immer frisch erfinderisch, wie man so experimentierfreudig es bei keinem seiner Zeitgenossen findet. Ein Avantgardist seiner Zeit.“ Dass und wie sich René Jacobs (Georg-Philipp-Telemann-Preisträger 2009) gemeinsam mit der Akademie für Alte Musik Berlin (Georg-Philipp-Telemann-Preisträger 2006) und dem RIAS-Kammerchor der „Brockes-Passion“ und ganz aktuell auch dem kammermusikalischen Konzertschaffen mit einer Aufnahme von „Concerti per molti stromenti“ (Konzerten mit gemischten Solobesetzungen) angenommen haben, ist klingender Beweis und Hommage an einen espritreichen großen Dritten, wie es auch Lucas Cranach ist.

Klaus-Martin Bresgott

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