Nach terroristischen Angriffen ist regelmäßig zu hören, es sei gut, jetzt möglichst schnell in den Alltag zurückzukehren und ganz normal weiterzuleben. Würden wir uns hingegen von den Terrortaten in unseren gewöhnlichen Aktivitäten beeindrucken lassen, dann hätten die Attentäter schon gewonnen und ihr Ziel erreicht.
Aber besteht das Ziel der Attentäter nur darin, uns Angst einzujagen, so dass wir unseren Alltag nicht mehr so wie vorher gestalten? Sind das heitere Feiern, das unbeschwerte Sitzen in Cafés, das Bummeln über Märkte wirklich die entscheidenden Werte unserer Gesellschaft, die den Terroristen ein Dorn im Auge sind und die wir zu schützen haben?
Ja, solches ungezwungene Zusammensein auf Straßen und Plätzen und in Festsälen gehört zu unserem Leben. Doch unsere Werte umfassen noch mehr: die Würde jedes Einzelnen, der Respekt vor der Freiheit und Selbstbestimmung des Anderen und die Empathie für das Leiden anderer Menschen. Diese werden mit Füßen getreten, wo unbeteiligte Menschen verletzt und getötet werden. Durch Gewalt und Terror ist nicht nur unser unbeschwerter Alltag in Gefahr. Es kann noch viel mehr verloren gehen, wenn es den Gewalttätern gelingt, diese Werte so zu unterhöhlen, dass es für uns normal wird, angesichts der Zerstörung von Menschenleben so eilig wie möglich einfach weiterzuleben, als sei nichts geschehen.
Die Publizistin Carolin Emcke hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung beklagt, dass angesichts des Anschlags von Dortmund den Spielern das Spielen am nächsten Abend und damit „Normalität“ zugemutet wurde. Stattdessen hätte die Mannschaft Zeit für ihren Schock und ihre Erschütterung gebraucht. Emcke mahnt: Es werde finster in einer Gesellschaft, wenn „von Individuen oder einer Gesellschaft verlangt wird, sie möge unberührt bleiben und sich nicht beeindrucken lassen durch den Einbruch der Gewalt.“ Dabei kennzeichne doch gerade „das Entsetzen, das die Gewalt nicht einfach normalisiert sehen will, . die moralischen Intuitionen einer Person.“
Emcke hält es deshalb für angemessener, wenn es angesichts solcher Ereignisse Unterbrechungen des Alltags gibt. Denn diese zeigten an, dass etwas Unakzeptables geschehen sei.
Schnell in den Alltag zurückzukehren hilft gegen Panikmache und gegen die Versuchung, Freiheit für noch mehr Sicherheit einzutauschen. Aber es kann in eine Unberührtheit kippen, die bedenklich ist. Lassen wir uns doch Zeit, nach solchen Ereignissen nicht sofort wieder zum Alltäglichen überzugehen. Wir verrohen sonst. Wir erlauben uns dann nicht mehr zu spüren, wie sehr uns solche Geschehnisse in unseren Grundfesten erschüttern. Noch einmal Emcke: „Sich als Gesellschaft die Zeit zum Innehalten und Trauern zu nehmen, ist kein Zeichen von Ohnmacht, sondern von Zivilität.“
Die Kirche kann dabei helfen. Sie hat dafür eine ausgezeichnete Zeit, den Gottesdienst. Er ist nach Friedrich Schleiermacher eine „Unterbrechung des übrigen Lebens“. Heute kann er eine Unterbrechung sein, die uns angesichts der grausamen, gewaltsamen Angriffe auf unseren Alltag Zeit zum Innehalten und Trauern gewährt.
Christiane Tietz
Christiane Tietz
Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen.