Hängender Weingarten

Die „Weltausstellung Reformation“ beleuchtet auch die Gegenwart
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Die von der EKD initiierte „Weltausstellung Reformation“, die über Wittenberg verteilt ist, zieht auch Kirchenleute und Touristen aus dem Ausland an. So weht ein Hauch von Welt in die Lutherstadt, die rund 50.000 Einwohner hat. Und das Zentrum ist mit seinen alten Häusern, die für das Reformationsjubiläum renoviert wurden, ein Schmuckstück geworden.

Schräg gegenüber dem neuen Wittenberger Bahnhof erblickt der Ausstellungsbesucher eine 27 Meter hohe Bibel. Wie bei der vor einiger Zeit erschienenen revidierten Ausgabe der Lutherbibel steht auf der weißen Vorderseite: „Die Bibel. Lutherübersetzung“. Und darunter prangt die Lutherrose. Sie hat der Reformator wohl aus einem alten Familienwappen entwickelt: Die Mitte des weißen Blütenblattes ziert ein rotes Herz mit einem schwarzen Kreuz. Es soll nach dem Willen Martin Luthers daran erinnern, „dass der Glaube an den Gekreuzigten uns selig macht“.

Die Verkleidung, die den Bucheinband nachahmt, verbirgt ein Stahlgerüst mit Aufzugschacht und Treppe. Wer zu Fuß auf- und absteigt, passiert Tafeln mit Bibelstellen und Aussagen von Zeitgenossen, die ausdrücken, was ihnen das Buch der Bücher bedeutet: „Mein Liebesbrief von Gott“ (Jule, 15), „Mein Mutmacher“ (Stefanie, 37), „Ein großes Rätsel“ (Michael, 49) und „Mein täglich Brot“ (Helmut, 71).

Pfarrer Jürgen Kaiser (rechts) stützt sich auf einen Amboss in der Werkstatt, in der 1983 ein Schwert in einen Pflug umgeschmiedet wurde. Er leitet das Zentrum der Württembergischen Landeskirche bei der Weltausstellung, das in der geschichtsträchtigen Schm
Pfarrer Jürgen Kaiser (rechts) stützt sich auf einen Amboss in der Werkstatt, in der 1983 ein Schwert in einen Pflug umgeschmiedet wurde. Er leitet das Zentrum der Württembergischen Landeskirche bei der Weltausstellung, das in der geschichtsträch

Blickt man von der Aussichtsplattform nach Osten, sieht man unter sich Gleise und im Hintergrund Windräder. Im Süden breiten sich die Elbauen aus, wo der Abschlussgottesdienst des Kirchentages stattfand. Und im Westen erstreckt sich die Stadt: Das Zentrum dominieren die beiden Türme der Stadtkirche, in der Luther predigte, und am Rand der Altstadt ragt die Turmhaube der Schlosskirche in den Himmel, die an eine preußische Pickelhaube erinnert. 1815 musste Sachsen die Lutherstadt an Preußen abtreten. Und 1892 wurde im Beisein Kaiser Wilhelms II. die restaurierte Schlosskirche wieder eingeweiht. An deren Tür hatte Luther am 31. Oktober 1517 wohl seine Thesen angeheftet, und unter der Kanzel ist er beigesetzt.

Wer über die Kirchtürme hinaus weiter nach Westen schaut, entdeckt in der Ferne, dass die Wittenberger nicht nur vom Luthertourismus leben. In der Sonne leuchten die weißen Tanks des Stickstoffwerks im Stadtteil Piesteritz.

Verspiegelter Bunkerberg

Auch Menschen mit Höhenangst müssen nicht auf die Aussicht verzichten. Denn anders als bei gotischen Kirchtürmen verhindert der „Einband“ der Bibel, dass man beim Abstieg in die Tiefe blickt. Auf dem Weg in die Stadt stößt der Besucher kurz vor dem Lutherhaus auf einen Hügel. Unter dem Gras liegen die Reste eines nach dem Krieg gesprengten Hochbunkers. Hier verzweigen sich Stege, deren Brüstungen aus Spiegeln bestehen. In ihnen spiegeln sich Besucher, der Himmel und Bäume. „Die Suche nach mir selbst“, heißt die Installation auf dem Bunkerberg, die das Thema Spiritualität aufnehmen will.

Die Kinder einer nichtkirchlichen Kindertagesstätte  spiegeln sich in der Installation auf dem Bunkerberg.
Die Kinder einer nichtkirchlichen Kindertagesstätte spiegeln sich in der Installation auf dem Bunkerberg.
Im Rundpanorama erlebt man das Wittenberg von 1517.
Im Rundpanorama erlebt man das Wittenberg von 1517.

Auf der Wiese sitzen rund zwanzig Vierjährige und nehmen ihr zweites Frühstück ein. Der erste gemeinsame Halbtagsausflug hat sie auf die Spuren Luthers geführt, erfährt der Reporter - und auf Nachfrage, dass sie eine nichtkirchliche Kindertagesstätte besuchen. Wie viele Kinder getauft sind, weiß die Erzieherin nicht. Und die Frage, ob Eltern an diesem Ausflug Anstoß nehmen würden, verneint sie. „Etwas über Luther zu wissen, gehört in Wittenberg dazu“, betont die Frau. So habe sie den Kindern auch die Lutherrose erklärt.

Die Häuser an der Collegienstraße, die zum Marktplatz führt, sind herausgeputzt. An den renovierten Fassaden erinnern Tafeln an frühere Bewohner wie: „Bartholomäus Bernhardi (1487-1551) erster verheirateter Pfarrer“. Der Augustinermönch heiratete schon 1521, vier Jahre vor seinem Jugendfreund Martin Luther. Und Kurfürst Friedrich der Weise verhinderte die Auslieferung an ein römisch-katholisches Kirchengericht, die Erzbischof Albrecht von Magdeburg und Mainz gefordert hatte.

Wichtiger Choral

Vor dem Rathaus, unweit der Stadtkirche, steht ein Aufsteller des Wittenberg English Ministry, das US-Lutheraner ausüben. Die Plakate werben für Kurzandachten, die an vier Nachmittagen der Woche stattfinden, abwechselnd in der Stadt- und der Schlosskirche. Zum Besuch soll die Aufforderung Sing a mighty fortress locken, auf Deutsch: „Singe ,Ein feste Burg ist unser Gott´“. Für amerikanische Lutheraner hat der Choral eine große Bedeutung, ist ein Ausdruck ihrer Identität, die sie angesichts der vielen anderen evangelischen Kirchen behaupten wollen. Die Andachten halten Geistliche der Lutherischen Kirche-Missourisynode (LCMS), die Pfarrerinnen ablehnt, und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA), die Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung ordiniert.

Der Bibelturm am Bahnhof bietet einen Ausblick auf Stadt und ihre Umgebung.
Der Bibelturm am Bahnhof bietet einen Ausblick auf Stadt und ihre Umgebung.
„Luther und die Avantgarde“ heißt die Ausstellung, die im alten Frauengefängnis gezeigt wird. In einer der Zellen hängt die Collage auf Papier, die der Rumäne Adrian Ghenie (40) geschaffen hat.
„Luther und die Avantgarde“ heißt die Ausstellung, die im alten Frauengefängnis gezeigt wird. In einer der Zellen hängt die Collage auf Papier, die der Rumäne Adrian Ghenie (40) geschaffen hat.

In der Sakristei der Stadtkirche haben sich dreißig Altlutheraner aus Nebraska versammelt und ein paar Besucher aus Iowa, Kalifornien und dem Staat Washington. Ein LCMS-Pfarrer aus Oklahoma hält die Predigt. Er betont, dass nach lutherischer Auffassung die Zehn Gebote dazu dienen, die Sünde des Menschen aufzudecken. Nach dem Segen schmettert die Gemeinde stehend alle Strophen von A migthy fortress is our God.

Gelegentlich strahlen US-Lutheraner, wenn sie hören, dass man aus Württemberg stammt. Denn oft verstehen sie „Wittenberg“ und denken an die Wirkungsstätte Martin Luthers. Aber die Württembergische Landeskirche dürfte ihr Zentrum bei der Weltausstellung nur wegen der Lautmalerei „Württemberg in Wittenberg“ genannt haben. Es befindet sich in einer alten Schmiede, in der nicht nur Kirchengeschichte geschrieben, sondern auch die Geschichte der DDR beeinflusst wurde. Beim Kirchentag, der 1983, anlässlich von Luthers 500. Geburtstag in Wittenberg stattfand, wurde dort ein Schwert zu einem Pflug umgeschmiedet.

Als die EKD die Landeskirchen einluden, sich an der Weltausstellung Reformation zu beteiligen, erfuhr Pfarrer Jürgen Kaiser (64), der Leiter des Evangelischen Medienhauses in Stuttgart, dass die Werkstatt leer stand. Und der Sohn eines Handwerkers griff zu. „Industriekultur passt zu uns“, sagt er dem Reporter. Und sie ist - kann man ergänzen - eine Folge der Reformation. Dass im evangelischen Württemberg eine mittelständische Industrie entstand, verdankt sich auch Luthers Auffassung vom Beruf, einer rigiden Sozialkontrolle (Kirchenzucht) nach Genfer Vorbild und dem Pietismus, der die Leute davon abhielt, ihr Geld in Gastwirtschaften, für schicke Kleidung, Oper, Theater und andere weltliche Vergnügen auszugeben.

Zwischen Stuttgart und Heilbronn wird Wein angebaut. In der alten Schmiede sind schwäbisches Tüfteln und Weingärtnerei vereint. An einem Stahlgerüst hängen Weinflaschen, die der Länge nach aufgeschnitten und mit Erde gefüllt sind. Reben wachsen in die Höhe. Weiße Kabel verbinden die Flaschen, sorgen für die Wasserzufuhr, die von Stuttgart aus elektronisch eingestellt und kontrolliert wird. So wächst eine Weinsorte heran, die die Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau im nordwürttembergischen Weinsberg entwickelt hat. Sie ist eine Mischung aus württembergischem Riesling und französischen und amerikanischen Trauben, passt also zu einer Weltausstellung.

Im Gefängnishof steht der bronzene Boxhandschuh des Österreichers Erwin Wurm (62).
Im Gefängnishof steht der bronzene Boxhandschuh des Österreichers Erwin Wurm (62).

In den Wallanlagen, unweit des Luthergartens, steht ein unscheinbares weißes Iglu. Aber das hat es in sich. Die drei Landeskirchen Nordrhein-Westfalens zeigen unter der Überschrift „Gelebte Reformation. Die Barmer Theologische Erklärung“ etwas, das sonst in Wuppertal-Gemarke zu sehen ist. Dort verabschiedete eine Synode der Bekennenden Kirche 1934 das Barmer Bekenntnis, das im Evangelischen Gesangbuch abgedruckt ist. Die Ausstellung entspricht dem Standard moderner Museen: Gezeigt werden weitgehend unbekannte Filmaufnahmen vom nazistischen „Reichsbischof“ Ludwig Müller und den Massentrauungen von SA-Männern und ihren Frauen. Man kann die Namen der Barmer Synodalen anklicken und erfährt mehr über sie. Tondokumente können abgerufen werden. Bewegend ist die Lesung aus den Erinnerungen von Leni Immer. Sie schildert, wie bei einem Schulfest alle das Horst-Wesel-Lied singen und die Hand zum Hitlergruß heben. Nur ihr Vater tut es nicht. Karl Immer (1888-1944) war Pfarrer in Barmen-Gemarke und ein führender Vertreter der Bekennenden Kirche.

Wer mit moderner Kunst etwas anfangen kann, ist im alten Frauengefängnis gut aufgehoben. Unter der Überschrift „Luther und die Avantgarde“ präsentieren in den 38 Zellen 66 Künstler aus aller Welt ihre Werke (siehe auch Seite 8). Für ein wenig Heiterkeit sorgt in dem düsteren Ambiente der Film Casting Jesus des Stuttgarter Kunstprofessors Christian Jankowski (49). Er überredete drei Mitarbeiter des Vatikan, einen Monsignore, einen Kunstkritiker und einen Journalisten, 13 Schauspieler zu prüfen, ob sie Jesus darstellen können. Sie müssen zeigen, wie sie segnen, Zweifel und Schmerz empfinden und das Kreuz tragen. Die Diskussionen der Juroren lassen immer wieder schmunzeln. Aber letztlich hinterfragt der Film die Jesusbilder, die Christen und Nichtchristen verinnerlicht haben, und thematisiert damit das biblische Bilderverbot, das Luther weniger streng auslegte, als die Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin.

In den Wallanlagen, unweit des Luthergartens, steht ein unscheinbares weißes Iglu. Aber das hat es in sich. Die drei Landeskirchen Nordrhein-Westfalens zeigen unter der Überschrift „Gelebte Reformation. Die Barmer Theologische Erklärung“ etwas, das sonst in Wuppertal-Gemarke zu sehen ist. Dort verabschiedete eine Synode der Bekennenden Kirche 1934 das Barmer Bekenntnis, das im Evangelischen Gesangbuch abgedruckt ist. Die Ausstellung entspricht dem Standard moderner Museen: Gezeigt werden weitgehend unbekannte Filmaufnahmen vom nazistischen „Reichsbischof“ Ludwig Müller und den Massentrauungen von SA-Männern und ihren Frauen. Man kann die Namen der Barmer Synodalen anklicken und erfährt mehr über sie. Tondokumente können abgerufen werden. Bewegend ist die Lesung aus den Erinnerungen von Leni Immer. Sie schildert, wie bei einem Schulfest alle das Horst-Wesel-Lied singen und die Hand zum Hitlergruß heben. Nur ihr Vater tut es nicht. Karl Immer (1888-1944) war Pfarrer in Barmen-Gemarke und ein führender Vertreter der Bekennenden Kirche.

Wer mit moderner Kunst etwas anfangen kann, ist im alten Frauengefängnis gut aufgehoben. Unter der Überschrift „Luther und die Avantgarde“ präsentieren in den 38 Zellen 66 Künstler aus aller Welt ihre Werke (siehe auch Seite 8). Für ein wenig Heiterkeit sorgt in dem düsteren Ambiente der Film Casting Jesus des Stuttgarter Kunstprofessors Christian Jankowski (49). Er überredete drei Mitarbeiter des Vatikan, einen Monsignore, einen Kunstkritiker und einen Journalisten, 13 Schauspieler zu prüfen, ob sie Jesus darstellen können. Sie müssen zeigen, wie sie segnen, Zweifel und Schmerz empfinden und das Kreuz tragen. Die Diskussionen der Juroren lassen immer wieder schmunzeln. Aber letztlich hinterfragt der Film die Jesusbilder, die Christen und Nichtchristen verinnerlicht haben, und thematisiert damit das biblische Bilderverbot, das Luther weniger streng auslegte, als die Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Johannes Calvin.

In das Jahr 1517 abtauchen kann der Besucher des Rundpanoramas in der Lutherstraße (!). Auf einer Leinwand, die 15 Meter hoch und 75 Meter lang ist, stellt der Berliner Architekt und Maler Yadgar Asisi (62) Luthers Wirken in Wittenberg und das Treiben zwischen Markt und Schloss dar. So sieht man eine lange Schlange vor dem Stand, an dem der Dominikaner Johann Tetzel Ablassbriefe verkauft. Ein paar Schritte entfernt greift ein Paar mit sehnsüchtigem Blick nach dem Ablassbrief, den der Mönch Martin Luther hochhält. Er hat ihn wohl gerade an sich genommen, und es sieht so aus, als würde er ihn gleich zerreißen.

Der Reporter verlässt die Lutherstadt mit vielen Eindrücken, aber in dem Bewusstsein, dass man an einem Tag nur einen kleinen Teil der Weltausstellung aufnehmen kann.

Informationen

Die Weltausstellung Reformation dauert bis zum 10. September. Eine Tageskarte kostet für Erwachsene 19 Euro, eine Dauerkarte (Saisonticket) für die gesamte Zeit 59 Euro. Weitere Information beim Infotelefon 03491/6434700.

weitere Informationen

Im Schwanenteich wird an die Flüchtlinge erinnert, die übers Mittelmeer fliehen.
Im Schwanenteich wird an die Flüchtlinge erinnert, die übers Mittelmeer fliehen.

Text: Jürgen Wandel / Fotos: Rolf Zöllner

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