Spurensuche Heimat

Existenz mit Geländer
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Heimat kann so vieles sein, so Unterschiedliches.

Eberhard Rathgeb, Sohn einer deutschen Auswandererfamilie, die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg aus Argentinien zurückgekehrt ist, nimmt die Leserschaft bei seiner Spurensuche nach Heimat als einem deutschen Gefühl mit auf einen Parforce-Ritt durch die deutsche Literatur, Kunst- und Geistesgeschichte und Philosophie. Es will scheinen, dass es keinen deutschsprachigen Klassiker gibt, den er nicht gelesen hätte. Aber er will mit seiner Spurensuche ausdrücklich keine Kulturgeschichte Deutschlands vorgelegt haben.

Heimat kann so vieles sein, so Unterschiedliches. Sie kann dem Menschen unheimlich sein, gar zur Zwangsvorstellung werden, oder ein Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit vermitteln, ein Beziehungsgeflecht sein, aber auch eine Art Selbstbeschränkung. Heimat könnte idealtypisch überall dort sein, wo Menschen einander wohlgesonnen sind. Und doch kann sie auch von Menschen weggenommen und zerstört werden, wie sich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gezeigt habe.

Für die nationalsozialistische Kulturpolitik ab 1933 sollte Heimat als affektive Klammer einer Gemeinschaft funktionieren, die sich vor allem durch die Rasse definierte, einer Art kultureller und landschaftlicher Spiegel für das Gefühl, ein Deutscher zu sein. Der tiefe Grund des Heimatgefühls ist für Rathgeb die Angst, in einer unheimlichen Welt verlorenzugehen, in der keiner, der allein ist, überleben kann. Heimat sei eine Art Garantie für die Beständigkeit des Lebens, dass die Grundlagen des Glücks, das einer hat, so bleiben, wie sie sind. In der Heimat zu leben bedeute, eine Existenz mit Geländer zu führen.

Dem stellt Rathgeb das Schicksal der gegenwärtig weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht gegenüber, die aus Angst vor unberechenbaren Gewalten ihr Haus, ihr Dorf, ihre Stadt verlassen, um sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Zu ihnen kommen noch jene, die von der wirtschaftlichen Not aus ihrer Heimat getrieben werden. Männer und Frauen, die auf der Suche nach einer Arbeit sind, sei sie noch so schlecht bezahlt, gefährlich und erniedrigend.

Viele, aber längst nicht alle, die seit den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts vor Hitler aus Deutschland flohen, hätten sich im fremden Aufnahmeland zurechtgefunden, mochte ihnen das Leben im Exil auch schwerfallen. Währenddessen seien von den in Deutschland Gebliebenen Millionen den Nazis hinterhergelaufen, in die Partei eingetreten und hätten sich bei der SA und SS, bei der Gestapo, bei Gericht und in dem großen Verwaltungsapparat für das Dritte Reich nützlich gemacht, hadert Rathgeb mit seinen Landsleuten.

Und er wirft ihnen vor, nach der Kapitulation eine Gemeinschaft gebildet zu haben, die durch Hitler, die Verfolgung und Ermordung der Juden und den Krieg geformt worden sei. Wer nicht in der Diktatur gelebt hatte, wer nicht Soldat gewesen war, der habe nicht dazugehört, beklagt der Autor. Die Deutschen hätten jahrelang geschwiegen. Jahrzehnte mussten vergehen, bis die Heimat wieder auferstand und nicht gleich Hitler mit auftauchte, wenn von ihr die Rede war. Seine Verbitterung lässt sich leicht zwischen den Zeilen seines Buches lesen.

Ob Eberhard Rathgeb sein selbstgestecktes Ziel erreicht hat, dass seine Leser und Leserinnen nach dieser Spurensuche das Gefühl haben, besser verstanden zu haben, was Heimat ist, ob sie einen offeneren Blick und einen geschärften Sinn für ihr eigenes Heimatgefühl bekommen haben, ob ihr Herz offen bleiben kann für die Fremde, mag jeder selbst entscheiden. Auf jeden Fall haben sie viele Anstöße zum Nachdenken über den so komplexen Themenbereich Heimat erhalten.

Manfred Gärtner

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