Gelingendes Leben

Wie das Erbe der Reformation für die Bildung fruchtbar wird
Gekrönter Ahnherr protestantischer Bildung: Philipp Melanchthon (1497–1560). Foto: epd/ Uwe Schoenfeld
Gekrönter Ahnherr protestantischer Bildung: Philipp Melanchthon (1497–1560). Foto: epd/ Uwe Schoenfeld
Evangelische Bildungsarbeit hat es heute schwer, denn einer zunehmend religionsfernen Öffentlichkeit ist der Zusammenhang zwischen Bildung und Glaube immer weniger zu vermitteln. Doch das sei keinesfalls ein Grund zum Aufgeben, meint Friedrich Schweitzer, Professor für Religionspädagogik in Tübingen. Er setzt auf die Formel: „Keine Bildung ohne Glaube - kein Glaube ohne Bildung“.

Schon der Begriff „Erbe“ ist eine Herausforderung. Für manche klingt er beschwörend, vielleicht auch vereinnahmend oder gar konfessionalistisch. Was soll es bei Bildung zu erben geben? Gehört Bildung etwa nur den Protestanten? Bei anderen hingegen stößt die Erinnerung an das reformatorische Bildungserbe auf spontane Zustimmung. Gerade im Blick auf das Reformationsjubiläum dürfe nicht in Vergessenheit geraten, dass die Reformation auch eine Bildungsbewegung war. Ohne Bildungsreform konnte die Reformation nicht gelingen. Erwächst daraus nicht eine bleibende Verpflichtung für all diejenigen, die sich heute auf die Reformation berufen?

Aber lassen sich die im 16. Jahrhundert verwurzelten Erfahrungen so einfach auf unsere Gegenwart übertragen? Mit einem bloßen Beschwören des Erbes wäre niemandem geholfen. Vielmehr muss es um eine sachliche Klärung gehen. Ganz unverblümt ist zu fragen, was es da überhaupt zu erben gibt, vor welche Herausforderungen sich Übertragungsversuche gestellt sehen und wie sich ein reformatorisches Bildungsverständnis heute fruchtbar machen lässt.

Von einem Bildungserbe kann nur gesprochen werden, sofern sich in der Geschichte auch später zu bewahrende Einsichten identifizieren lassen. Es geht also um den Anspruch, dass das reformatorische Bildungsverständnis Perspektiven einschließt, die sich noch immer als grundlegend erweisen. Dies gilt übergreifend für die Kurzformel, in der sich dieses Verständnis zusammenfassen lässt: keine Bildung ohne Glaube und kein Glaube ohne Bildung.

Dass zur Bildung auch Glaube gehören muss, ergibt sich aus dem Verständnis des Glaubens als bestimmender Lebensgrundlage. Dieser sinnhafte Horizont muss auch im Bildungsprozess thematisch werden. Deshalb hat Luther von Anfang an gefordert, dass in der Schule auch eine Einführung in die Bibel Raum haben muss. Das ist zugleich eine Frage des Menschenbildes: In der Sicht des christlichen Glaubens ist der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen. Daraus erwächst eine unverlierbare Würde, die auch den Anspruch auf umfassende Bildung begründet, einschließlich religiöser Bildung.

Auch die umgekehrte Perspektive - kein Glaube ohne Bildung - findet ihre Begründung im reformatorischen Verständnis des christlichen Glaubens. Dieser meint das persönliche Verhältnis jedes und jeder einzelnen zu Gott. Die für die Reformation bezeichnende Betonung des Verstehens im Blick auf den Glauben - bei Luther verbunden mit dem Katechismus - bringt dies unmittelbar zum Ausdruck: Jeder und jede soll im Stande sein, den eigenen Glauben auch zu verstehen und mit anderen darüber zu kommunizieren. Im Sinne des Priestertums aller Getauften gehört dazu unabdingbar auch die religiöse Urteilsfähigkeit, die nicht einfach den professionellen Theologen überlassen bleiben sollte.

In den Jahrhunderten nach der Reformation entwickelt sich aus dem reformatorischen Verständnis ein vielfältiges Bildungsangebot, das vom Elementarbereich bis zur Erwachsenenbildung reicht und vom schulischen Religionsunterricht bis hin zu freien Initiativen etwa in der evangelischen Jugendarbeit. Dabei handelte es sich zugleich um neue Entwicklungen unter den veränderten Voraussetzungen von Moderne und Aufklärung im Sinne des neuzeitlichen Protestantismus, der dann auch weit über die speziell kirchlichen Bildungsangebote hinaus auf Gesellschaft und Kultur ausstrahlte. Nicht ohne Grund wurde im Blick auf den Protestantismus auch von einer „Bildungsreligion“ gesprochen. Damit ist ebenso die protestantische Prägung moderner Gesellschaften durch Bildung gemeint wie das enge Verhältnis zwischen Protestantismus und Aufklärung. Nicht zuletzt reicht die Verbindung zwischen Protestantismus und Bildung auch in die wissenschaftliche Pädagogik als Ort der Entwicklung und Reflexion des Bildungsverständnisses hinein. Die Geschichte der Pädagogik ist in Deutschland stark durch den Protestantismus geprägt.

Nach der Aufklärung gewinnt die reformatorische Verbindung von Glaube und Bildung im Blick auf das Verhältnis zwischen Glaube und Wissen oder Wissenschaft neu an Bedeutung. Zwar sind gerade aus dem Protestantismus auch die bis heute spürbaren fundamentalistischen Gegenbewegungen hervorgegangen, die den Glauben vor einer - vermeintlichen - Bedrohung durch die moderne Wissenschaft, vor allem der kritischen Bibel-auslegung sowie der Evolutionstheorie bewahren wollten. Insgesamt aber hat der Protestantismus weithin der Aufklärung in sich selbst Raum gegeben, nicht zuletzt in Theologie und wissenschaftlich-kritischer Bibelauslegung. All dies kann und darf allerdings nicht als ein konfessionalistischer Anspruch missverstanden werden. Schon reformatorisch ging es nicht um die Begründung einer neuen Konfession, sondern um Glaube und Bildung im Zeichen von Wahrheit und Freiheit, die kein für sich zu behaltender Besitz sein können.

Über das reformatorische Bildungserbe müsste nicht eigens nachgedacht werden, wenn seine Wirksamkeit selbstverständlich wäre. Tatsächlich steht dieses Erbe heute vor grundlegenden Herausforderungen: Die Selbstdarstellung der Kirche als Bildungsinstitution bleibt unzureichend. Eine Kommunikation der für das reformatorische Bildungsverständnis maßgeblichen Inhalte scheint immer weniger zu gelingen, gerade im Blick auf Kinder und Jugendliche. Und schließlich wird auch die Legitimität einer kirchlichen Mitwirkung im Bildungsbereich zunehmend infrage gestellt, exemplarisch abzulesen am immer wieder aufbrechenden Streit um den Religionsunterricht. Insofern ist die Suche nach dem reformatorischen Bildungserbe auch ein Krisenphänomen und Ausdruck der Suche nach neuen Perspektiven durch Selbstvergewisserung in der Tradition.

Verdacht der Sinnlosigkeit

Das gilt nicht zuletzt für die Gegenwart, in der die Krisenerscheinungen durch negative demographische Entwicklungen weiter verstärkt werden. Wenn es immer weniger evangelische Kinder gibt, verlieren auch die kirchlichen Bildungsaktivitäten gesellschaftlich deutlich an Gewicht. Zudem zeigt sich die protestantische Bildungstradition gerade in den Hinsichten oft skeptisch und orientierungsschwach, in denen heute eine hohe Nachfrage besteht: interreligiöse Bildung sowie Wertebildung. Erst seit wenigen Jahren hat sich im evangelischen Bereich eine Öffnung vollzogen. Nicht zuletzt stellt aber ein in der Gesellschaft immer einflussreicheres säkulares Bildungsverständnis alle Formen religiöser Begründung in der Pädagogik grundsätzlich unter den Verdacht der Sinnlosigkeit. Pädagogische Begründungen stehen demnach für sich selbst - einer religiösen Begründung bedürfen sie nicht (mehr). Mitunter werden Religion und Religionen in dieser Sicht überhaupt nur noch als Ursache für die Störung des gesellschaftlichen Friedens wahrgenommen - bis hinein in die Schulen.

So führt kein Weg vorbei an einer weitreichend neuen Auslegung und Aktualisierung des reformatorischen Bildungsverständnisses, um dessen Zukunftsfähigkeit zu sichern.

Die Zukunftsfähigkeit des reformatorischen Bildungserbes hängt davon ab, dass der Gedanke der Reformation - verstanden als Rückbesinnung und kritische Erneuerung - auch auf die von den Reformatoren selbst begründete Tradition angewendet wird. Inhaltlich entscheidend sind dafür drei grundlegende Bestimmungen: ein von der Gottebenbildlichkeit her gewonnenes Menschenbild im Sinne der unvertretbaren Würde jedes einzelnen Menschen; der nach beiden Seiten hin zu lesende konstitutive Zusammenhang zwischen Bildung und Religion; ein dialogisches Ethos als Beitrag zu einem Zusammenleben in Gerechtigkeit, Frieden und Toleranz in einem zunehmend globalen Horizont. Dabei kommt dem Erneuerungsbemühen entgegen, dass religiöse und besonders interreligiöse Bildung mit dem Übergang zur multireligiösen Gesellschaft neues Gewicht gewinnt, bis hinein in berufliche Zusammenhänge - man denke nur an den Bereich der Pflege, in dem über religiöse Grenzen hinweg zu begleitende Grenzerfahrungen inzwischen zum Alltag gehören. Unübersehbar - und beispielsweise abzulesen an der enormen Konjunktur des Themas Glück - ist zudem der zunehmende Wunsch vieler Menschen nach Unterstützung für ein gelingendes Leben. An religiös bedeutsamen Fragen fehlt es demnach nicht.

Der Versuch, neu an das reformatorische Bildungserbe anzuknüpfen, ist also keineswegs sinnlos oder ohne jede Chance. Wo Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde als normative Orientierung eingebracht werden, gewinnt die evangelische Ausrichtung Plausibilität. Angesichts materiell attraktiver, aber sinnarmer Lebensentwürfe kann neu einleuchten, dass Bildung mehr als Qualifikation sein muss und dass auch die gegenwärtig angestrebte Kompetenzorientierung in der Bildung nur weiterführen kann, wenn nicht nur technische und ökonomische Fertigkeiten gepflegt werden.

Dass umgekehrt Religion ohne Bildung gefährlich ist, leuchtet in Zeiten zunehmender fundamentalistischer Strömungen ohnehin ein. Ähnliches gilt für die interreligiöse Bildung, deren Bedeutung auch im Protestantismus zunehmend erkannt wird. Besonders wirksam kann eine solche Bildung dort sein, wo und sofern sie im evangelischen Christentum eine gelebte Grundlage findet. Darauf verweist die Forderung nach einem dialogischen Ethos, das als gemeinsam gelebte Orientierung mehr ist und sein kann als eine allein theoretische Überzeugung.

Die Erneuerung des reformatorischen Bildungserbes muss sich demnach gerade auch auf Kirche und Gemeinde beziehen. Es muss ernst damit gemacht werden, dass Bildung und Kirche keine separaten Handlungsfelder bezeichnen, sondern konstitutiv zusammengehören, im Sinne mündigen Christseins, das heute nur noch im Sinne der Pluralitätsfähigkeit verstanden werden kann, als reflektierter Umgang mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt. Zugleich bleibt eine kirchliche Mitverantwortung für das staatliche Bildungswesen aus evangelischer Sicht unverzichtbar. Nach der Trennung von Staat und Kirche oder Religion kann Kirche eine öffentliche Bildungsmitverantwortung aber nur noch als zivilgesellschaftlicher Akteur wahrnehmen. Das wird nur gelingen, wenn die kirchlichen Bildungsangebote selbst konsequent als Bildung für die Zivilgesellschaft ausgewiesen und gestaltet werden.

Die von Martin Luther für die Schule und das Bildungswesen geprägte Zielformel, dass sie Frieden, Recht und Leben ermöglichen und unterstützen, bleibt eine Erinnerung daran, dass Bildung zwar nicht verzweckt werden darf, aber eben auch nicht ohne eine grundlegende Sinnorientierung auskommen kann. So hängt das reformatorische Bildungserbe am Ende auch daran, dies bewusst zu halten: Bildung muss Frieden, Recht und Leben dienen - in Wahrheit und Freiheit.

Friedrich Schweitzer

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Foto: Jörg Winter

Friedrich Schweitzer

Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Universität Tübingen.


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