Halbschatten

Über Sexualität
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Wenn sich der Autor mit diesem Buch einen Jux machen wollte, so doch einen, der genug Anregung zu einem Diskurs jenseits des politisch korrekten Mainstreams bietet.

Gender und Sex haben gemeinsam, dass sie Großreiche des Halbwissens bilden, verschanzt hinter nahezu uneinnehmbaren Stellungen.“ Nahezu uneinnehmbar. Doch unwahrscheinlich, dass es Peter Sloterdijk aus Resignation in ein ihm ungewohntes Genre verschlagen hat, eine Art Brief- genauer: E-Mail-Roman, in dem sich fünf Wissenschaftler - zwei davon Frauen - über ein Forschungsprojekt austauschen: „Zwischen Biologie und Humanwissenschaften: Zum Problem der Entfaltung luxurierender Sexualität auf dem Weg von den Hominiden-Weibchen zu den homo-sapiens-Frauen aus evolutionstheoretischer Sicht mit ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus.“ Zwischen der Korrespondenz zwei Berichte, einer davon über eine Präsentation vor der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Gutachter in der wissenschaftlichen Zirkuskuppel: ratlos. Der Antrag auf Förderung scheitert.

Initiator des Projekts ist ein gewisser Peer Sloterdijk. Peer. Das T fehlt. Wir verstehen, es handelt sich um Dichtung und Wahrheit, auch bei den offensichtlich autobiographischen Bruchstücken, die Schlaglichter auf das Leben des Autors und, nicht ganz nebenbei, auf so etwas wie eine kollektive mentale Verfassung der Achtundsechziger werfen. Für sie gehörte Politik, Links-Progressiv- Alternativsein, Drogen und Sexualität zusammen. Das Werk „Die Funktion des Orgasmus“ des esoterischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich war eine Zeitlang Pflichtlektüre, und wer die Gelegenheit hatte, löste die Geheimnisse der unterdrückten Sexualität in der Praxis auf.

Mit Erinnerungen an Jugenderlebnisse spart die Fünferbande in ihrer E-Mail-Korrespondenz nicht. Einer erzählt von einem zusammen mit Freund Peer besuchten Seminar bei einer Guru-Frau, bei der bekannter und verlockender Weise die Sexualität im Mittelpunkt stand. Dabei vollzog Kurt einen von der Meisterin begleiteten Koitus mit einer Unbekannten. Diese erweist sich nun, nach all den Jahren, als eine der Frauen im Team. Es kommt zu einem späten Da Capo zwischen den beiden, diskret angedeutet. Weniger diskret: eine Spontanorgie, die sich die andere der beiden Frauen mit Möbelpackern gönnt, nicht in ihrer Jugend, sondern in der Jetztzeit des Romans. An billige Pornos mag denken, wer eine Ahnung von solchen Dingen nicht entrüstet zurückweist. Doch der Autor hat, wie sich versteht, weniger kompromittierende Bezüge im Sinn: Die Beteiligten erhalten eine E-Mail des bekennenden Dandys Nicolaus Sombart, Schriftsteller und Kultursoziologe, der Gruppensex als Höhepunkt kulturell hochstehender Menschwerdung gepriesen hat. Das Rätselhafte: Sombart ist vor Jahren verstorben. Sind die Verschworenen einer Mystifikation zum Opfer gefallen? Aber warum nicht an eine Botschaft aus dem Jenseits glauben? Und Schelling? Das Werk dieses Philosophen des Deutschen Idealismus ist heute Brotlieferant für Experten. Was es mit dem obskuren Forschungsprojekt zu tun hat, verbleibt im Halbschatten. Aus ihm dringt das Raunen der Kundigen - um ein exoterisches Stück handelt es sich ersichtlich nicht. Übrigens kommt es nicht zum Sturm auf jene nahezu uneinnehmbaren Stellungen. Immerhin: Wenn sich der Autor mit diesem Buch einen Jux machen wollte, so doch einen, der genug Anregung zu einem Diskurs jenseits des politisch korrekten Mainstreams bietet. Ob man nun das Buch einer naturgemäß vernichtenden Kritik aus Genderperspektive unterziehen möchte oder aber konzediert, es führe über Holzwege auf erkenntnisfördernde Lichtungen, mag jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden. Interessant ist es jedenfalls.

Helmut Kremers

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