Neues Weltvertrauen

In der Zeit der Entgrenzung ist Demokratie nicht selbstverständlich
Boris Johnson (der heutige britische Außenminister) auf Tour: Mit falschen Behauptungen für den Brexit. Foto: dpa
Boris Johnson (der heutige britische Außenminister) auf Tour: Mit falschen Behauptungen für den Brexit. Foto: dpa
Statt sich von der Angst vor einer Krise der Demokratie gefangen nehmen zu lassen, sollte man die Aspekte sortieren und unterscheiden. Das tut Paul Nolte, Professor für Neue Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, der zur Zeit im englischen Oxford lehrt.

Ist das alles nur Zufall, oder fügen sich die Puzzleteile schon zu einem Bild? Die Anzeichen für eine Krise der Demokratie mehren sich in den letzten Jahren jedenfalls auffällig. Die Erwartung einer demokratischen Entwicklung Russlands im Gefolge der Neunundachtzigerrevolution ist schon lange enttäuscht worden, von China ganz zu schweigen: Nicht der freiheitliche Westen hat die Volksrepublik ins Schlepptau genommen, sondern Peking schaut genüsslich zu, wie der strahlende Stern des liberalen Westens sich verdunkelt. Die Türkei schien eben noch auf einem - gewiss holprigen - Weg nach Europa, als kommendes Musterbeispiel einer islamischen Demokratie. Nun gibt sie, gerechtfertigt als Niederschlagung eines Putsches, den Rechtsstaat preis und steuert auf eine unverhüllte Diktatur zu. Aber längst schrillen die Alarmglocken auch im vermeintlich demokratisch so gefestigten und historisch - so schien es - gegen alle Anfechtung geläuterten Westeuropa und Nordamerika. Mit einer populistischen, menschenfeindlichen Kampagne wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt, und dass er einen anderen Wahlausgang akzeptiert hätte, mochte er vorher nicht zugestehen. Beinahe überall in Europa gewinnen populistische Parteien Zulauf und Wählerstimmen, die sich als neue Stimme eines Volkes stilisieren, das von den demokratischen Eliten betrogen werde. Man könnte sich mit dieser Sichtweise besser auseinandersetzen, wenn die neuen Populisten nicht allzu häufig, wie immer wieder die AfD, durch ihre Verbindung zu rechtsextremen Netzwerken, zu Antisemitismus und Neofaschismus auffielen.

Die Welt war freilich noch nie ein demokratisches, friedvolles, rechtsstaatliches Paradies. Und kein einziges Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eignet sich als idealisierter Hintergrund heutigen Verfalls. Wie ernst die Krise, wie gefährdet die Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts tatsächlich ist, darüber streitet nicht zuletzt die Wissenschaft. Aber die Frage wird häufiger und besorgter gestellt als noch vor zehn, erst recht vor zwanzig Jahren. Szenarien einer Welt „nach der Demokratie“ mehren sich - jedenfalls nach derjenigen, die wir kannten und an die wir, nicht zuletzt in der NS-geschädigten Bundesrepublik, in einem geradezu zivilreligiösen Sinne glaubten.

Wir müssen umdenken: Demokratie als Regierungsform und politische Institutionenordnung, aber auch als freie Lebensordnung ist nicht mehr selbstverständlich. Ihre historische Unwahrscheinlichkeit, ihre Fragilität rückt stärker, wieder stärker ins Bewusstsein: Denn es hilft, wenn man sich klarzumacht, dass die triumphalistische Erzählung von ihrem unaufhaltsamen Siegeszug im prächtigen Streitwagen der westlichen Werte bei näherem Hinsehen schon immer geholpert hat. Der Historiker Mark Mazower hat bereits 1998 das Europa im 20. Jahrhundert als „dunklen Kontinent“ gemalt und die Demokratie als gefährdete Pflanze, oft Position einer Minderheit, die im nächsten Moment von Hass, Gewalt und Unfreiheit zugeschüttet werden könnte.

Das ist jedoch keine Einladung zum Achselzucken, zu fatalistischer oder gar defaitistischer Weltsicht. Berechtigte Skepsis gegenüber einer allzu raumgreifenden Fortschrittsideologie sollte nicht ersatzweise in die naiven Geschichtsphilosophien einer immerwährenden Wiederkehr des Gleichen oder eines „Untergangs des Abendlandes“ führen. Wir müssen lernen, die Demokratie in einer Grundspannung, geradezu in fundamentaler Paradoxie zu denken: als unwahrscheinlich, riskant und historisch kontingent - und als universelles Prinzip zugleich, als rational begründbare Werteordnung, vielleicht sogar: als anthropologische Universalie des menschlichen Strebens nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Statt sich von der Angst vor der großen Krise gefangen nehmen zu lassen, gilt es die Puzzleteile zu sortieren und zu unterscheiden. Was für Gefahren sind das, und was sind ihre Ursachen? Ist die Krise in den Köpfen oder in der materiellen Basis unserer Gesellschaften?

Sich überlagernde Faktoren

Wer behauptet, die Antwort zu kennen oder die eine Ursache für diese Entwicklungen, ist ein Scharlatan. Vor nicht langer Zeit bestand Einigkeit: Anders als in der historischen „Großen Krise“ der westlichen Demokratie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ist nur noch eine innere Aushöhlung demokratischer Institutionen und Lebensweisen vorstellbar, kein offener Regimebruch, kein Außerkraftsetzen der Verfassung, kein Übergang in Autoritarismus oder Diktatur. Aber inzwischen ist diese Sicherheit verloren. Die Schwelle des äußerstenfalls erforderlichen Widerstands, wie ihn das Grundgesetz in Artikel 20, Absatz 4, vorsieht, ist schwer zu bestimmen - schon bei Trump oder bei Orban oder erst bei Erdogan?

Gleichwohl: Für Deutschland und viele andere westliche Nationen bleibt das eine unwahrscheinliche Option. Nur ein paar ganz Verrückte würden die Diktatur, zur tatsächlich überlegenen Alternative erklären, so wie das vor hundert Jahren in Mode kam. Die Ursachen der gegenwärtigen Krise, der nagenden Kräfte im Innern der Demokratie, liegen in Erfahrungen und Veränderungen der Gegenwart. Dabei überlagern sich verschiedene Faktoren: Technologie und sozialökonomischer Wandel, Verschiebungen im politischen System und in den Erwartungshorizonten der Bürgerinnen und Bürger und schließlich eine tiefe kulturelle Krise im Verstehen einer beschleunigten und liberalisierten Welt.

Die neue Krise der Demokratie entfaltet sich im Zeitalter der digitalen Revolution. In mancher Hinsicht unterschätzen wir die historische Bedeutung dieses Umbruchs wohl immer noch. Soziale Medien, Menschenhass und Demokratieverachtung: Diese Begriffe überlappen sich neuerdings immer mehr. Hackerangriffe drohen ins Zentrum der Legitimation durch Wahlen zu stoßen. Dagegen aber stehen die befreienden und auch radikal egalisierenden Effekte des Internets - und in historischer Perspektive die Vermutung, dass es sich für die Demokratie dabei eher um eine Übergangskrise handelt. Neue Medien und Kommunikationstechnologien haben schon immer ambivalent gewirkt, von der Massenpresse bis zum Radio, das Hitler ebenso für sich nutzte wie sein amerikanischer Gegenspieler Franklin D. Roosevelt zur Unterstützung der New-Deal-Demokratie.

Wirtschaftliche und soziale Umbrüche sind ernster zu nehmen. Der Kapitalismus ist, als globalisierter Finanzkapitalismus, in eine neue Phase seiner Geschichte eingetreten. In vielen westlichen Gesellschaften hat sich Ungleichheit vergrößert - vor allem in dem Sinne, dass die Reichen reicher geworden sind. Der Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft kennt Gewinner und Verlierer. In Deutschland haben nicht nur die Superreichen profitiert, sondern auch große Teile der Mittelschichten, oft diejenigen, die sich zugleich in der Zivilgesellschaft und für die Demokratie stark engagieren. Das hat Ressentiments gegen die „Eliten“ verstärkt, die deshalb - sei es als Landtagsabgeordnete oder als Superintendent - keineswegs „elitärer“ geworden sind. Und häufig sind es nicht die, die materiell am meisten bedrängt sind, die der populistischen Versuchung folgen und andere zu Sündenböcken erklären. Die AfD ist auch eine bürgerliche Bewegung der Gutsituierten, die eine geöffnete Gesellschaft nicht mehr verstehen.

Das Nicht-mehr-Verstehen einer komplizierter gewordenen Welt gilt für die Institutionen und politischen Prozesse der Demokratie selber - in Verbindung mit gestiegenen Erwartungen, die von den Funktionsträgern und Repräsentanten nur noch schwer einzuholen sind. Parlamentsabgeordnete sind heute viel durchsichtiger, müssen viel sorgfältiger Rechenschaft ablegen als noch vor dreißig Jahren. Was ein Landesbischof täglich so tut, geschieht nicht mehr „im Hinterzimmer“, sondern unmittelbar, dialogfähig auf Facebook. Gewiss, schon in Großbritannien oder Frankreich ist die politische Klasse elitärer und sozial abgeschlossener als in Deutschland: mit ihrer Herkunft aus Oxbridge oder von den Grandes Écoles. Aber das ist dort nichts Neues.

Phase der Verunsicherung

Der Erfolg des Populismus nährt sich auch aus einem Appell an die Unmittelbarkeit des Volkes, dem angesichts des Vordringens direkter Demokratie nicht jede Berechtigung abgesprochen werden kann. Kanzlerkandidaten sind noch nie durch offene Vorwahlen bestimmt worden, aber seit die Franzosen das für ihre Präsidentenwahlen tun, erscheint das deutsche Verfahren plötzlich undemokratisch. Vielleicht wird auch der EKD-Ratsvorsitzende in zwanzig Jahren nicht mehr „elitär“ von der Synode gewählt, sondern durch das Kirchenvolk?

Aber repräsentative Verfahren und in Stufen delegierte Demokratie - dass ein Gremium das nächste wählt, nicht alles die Basis direkt wählt - bleiben legitim und oft sinnvoll, so wie sich viele politische Fragen besser im Parlament klären lassen als durch Volksentscheide. Hier sind wir in einer tiefen Phase der Verunsicherung. Sie betrifft auch jenen Willen „des Volkes“, den die Populisten gegen das vermeintliche Establishment wieder zur Geltung bringen wollen. Das Volk ist nicht nur „nicht tümlich“, wie schon Bertolt Brecht bemerkte. Es hat auch gar keinen einheitlichen Willen, sondern vielfältige Interessen und Überzeugungen, die gegeneinander streiten sollten. Deshalb ist dem Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller zuzustimmen: Populismus ist nicht die bessere oder die eigentliche Demokratie, sondern antidemokratisch und antiliberal. Nicht zuletzt aber ist der Populismus Ausdruck einer kulturellen Verunsicherung in Zeiten beschleunigten Wandels. Darin liegt ein viertes großes Ursachenbündel für das neue Unbehagen in der Demokratie neben Technologie, Ökonomie und Politik.

Prinzipiell ist das nichts Neues - schon im späten 19. Jahrhundert und erneut in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts sind Protestbewegungen so entstanden und haben sich gegen die Demokratie als Regierungsform gerichtet, die als Sinnbild, Projektionsfläche von Ängsten diente. Heute leben wir auf radikale Weise in einem Zeitalter der Entgrenzung - nicht nur der politischen Grenzen in Globalisierung oder europäischer Integration, die den Wunsch nach einer Rückkehr in die vermeintliche Sicherheit und berechenbare Ordnung des Nationalstaats provozieren. Das Prinzip von Entgrenzung und neuer Uneindeutigkeit - und der Widerstand dagegen - durchzieht auch die zwei wichtigsten gesellschaftspolitischen Feindbilder des Populismus: Migration und Geschlechterordnung. Zuwanderung zerstört eine homogene Gesellschaft, die es nie gab - oder in der absurd -verschwörungstheoretischen Variante: Merkel will das deutsche Volk austauschen. Und die Frauenfeindschaft ist ein tiefes kulturelles Muster, nicht bloß die persönliche Peinlichkeit eines Donald Trump. Die patriarchalische Kultur hat die Gleichstellung der Frauen noch immer nicht verdaut und sieht sich schon mit neuer Verwirrung konfrontiert: Lösen sich Genderidentitäten überhaupt auf, in einem befürchteten Niemandsland der Transformationen?

Das scheint wegzuführen von der Demokratie. Aber Demokratie ist eben das Schlüsselwort unserer Zeit - und steht nicht nur für Wahlen und Parlamente, sondern für den gesamten Zusammenhang einer freien Lebensordnung, bis in die letzten Fasern des privaten Lebens. Mit politischen Reformen allein werden wir Populismus, Rechtsextremismus, Demokratieverachtung deshalb ebenso wenig erfolgreich bekämpfen können wie mit Sozialpolitik, auch wenn beides dazugehört. Wir brauchen die Verteidigung der offenen Gesellschaft - gerade im mutigen Widerspruch jedes Einzelnen, der ein „Nein, das sehe ich anders!“ der Nachbarin oder dem Arbeitskollegen entgegenhält, der wieder mal sagt, die da oben hätten sich sowieso gegen uns verschworen.

Wir brauchen Bildung und Information gegen Vorurteile und Halbwissen, aber keine neue Herrschaft der Gebildeten, keine „Epistokratie“, wie sie der amerikanische Politikwissenschaftler Jason Brennan kürzlich provokativ als historische Nachfolgerin der Demokratie vorschlug. Wir brauchen ein neues Weltvertrauen, das sich der wuchernden Kultur des Misstrauens entgegenstellt. Über mögliche Grundlagen dieses Vertrauens ließe sich aus christlicher Sicht einiges sagen. Aber auf seine religiöse Fundierung allein können wir uns nicht mehr verlassen.

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Paul Nolte

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