Macht gegen Macht

Die Freunde einer offenen Gesellschaft müssen klüger agieren
Hannover im November 2015: Demonstration am Rande des Bundesparteitags der AfD. Foto: dpa/ Swen Pförtner
Hannover im November 2015: Demonstration am Rande des Bundesparteitags der AfD. Foto: dpa/ Swen Pförtner
Deutschland ist weltweit ein Sehnsuchtsort vieler Menschen, weil es eine Demokratie ist, meint der Sozialpsychologe Harald Welzer. Und er zeigt, wie sie gegen Rechtspopulisten verteidigt werden kann.

Wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja, ermutigt werden, also in einer offenen Gesellschaft. Sie, wenn nötig, zu verteidigen und jederzeit zu entwickeln, ist daher die erste Aufgabe.“ So formulierte es der im Jahre 2009 gestorbene Soziologe Ralf Dahrendorf. Und diese einfachen und klaren Worten bilden die praktische Geschäftsgrundlage demokratischer, freiheitlicher Rechtsstaaten, jener Gesellschaften also, die ihren Bürgerinnen und Bürgern das höchste Maß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand bieten, das es in der Geschichte bislang gegeben hat.

Der Preis der Offenen Gesellschaft ist, dass sie auf die Verantwortungs- und Verteidigungsbereitschaft ihrer Mitglieder setzt, wenn die Grundvoraussetzungen der Verfassungsgüter angegriffen werden. Das war im 20. Jahrhundert öfter der Fall. Nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland wurden Demokratie und Rechtsstaat abgeschafft. Die Weimarer Republik ist nicht daran gescheitert, dass sie zu viele Gegner hatte, sondern zu wenig Freunde, die bereit gewesen wären, für sie einzutreten.

Und das ist leider auch im 21. Jahrhundert der Fall, wo die Offene Gesellschaft in Europa, Amerika und besonders der Türkei unter Druck gerät oder schon geraten ist. In Polen und Ungarn haben sich tendenziell autokratische Regime installiert, die die Gewaltenteilung angreifen. In den USA ist der Ernstfall des Rechtspopulismus eingetreten, nämlich die Installierung eines Präsidenten, der die normative Gegenposition zur Tradition des aufgeklärten Liberalismus einnimmt. Und in der Türkei richtet sich gerade ein Diktator ein, dessen Radikalität sich in Massenverhaftungen, Schließung von Redaktionen, Gewalt gegen Oppositionelle, Massenentlassungen von Lehrern, Professoren und Richtern zeigt, ohne dass ihm zum Beispiel die EU mehr als Appeasement entgegenzusetzen hätte.

Lernen aus der Geschichte sollte gerade dann helfen, wenn sich politische Konfrontationen zuspitzen und man am Beispiel die in der Vergangenheit begangenen Fehler studiert und in der Gegenwart nach Möglichkeit vermeidet. Aber gerade das ist im Augenblick kaum zu sehen.

Schauen wir uns doch einmal an, was den Erfolg der rechtspopulistischen Angreifer der Demokratie ausmacht: Erstens verfolgen sie eine höchst erfolgreiche Marketingstrategie mit der systematischen und fortgesetzten Grenzüberschreitung. Diese findet zunächst auf der Ebene der Sprache statt und führt dazu, dass jede provozierende Äußerung von Medien und Politik skandalisiert und dann von den Sprechern korrigiert oder ergänzt wird und so mehrere Tage in der Öffentlichlichkeit präsent ist.

Kalkulierter Rechtsbruch

Als Erster in Westeuropa hat diese Strategie der Österreicher Jörg Haider höchst erfolgreich praktiziert, und seither ahmen alle Rechtspopulisten das Muster erfolgreich nach. Und haben sie Machtpositionen erobert, übersetzen sie die Strategie der kalkulierten Grenzüberschreitung durch Rechtsbrüche, Nichtbefolgung internationalen Rechts und Angriffe auf Oppositionelle in politische Praxis. Und autokratische Herrscher halten es genauso.

Es handelt sich um eine Strategie, der die liberale Gegenseite wenig entgegensetzt, aus mangelnder Konfliktfähigkeit, Interessenverstrickungen oder einfach deswegen, weil es ihren Normen des politischen Handelns nicht entspricht.

Man kann in den klassischen Arbeiten des Soziologen Heinrich Popitz (1925-2002) nachlesen, wie solche Prozesse der Machtbildung funktionieren: Ein wesentlicher Aspekt ist: Liberal, friedlich und egalitär eingestellte Gruppen unterstellen ihren Gegnern ein Kalkül und eine Haltung, die ihrer eigenen entspricht. Und das erweist sich regelmäßig als Irrtum. Denn wer die Demokratie zerstören willen, handelt eben nicht als Demokrat. Vielmehr benutzt er die - in seinen Augen ohnehin schwachen - Demokratien für seine Zwecke.

Zweitens werden erfolgreiche Angriffe der Rechtspopulisten und die damit verbundenen Enttäuschungen und Befürchtungen kognitiv so bearbeitet, dass man sich sofort dem nächsten Ereignis zuwendet, ab dem es dann „richtig schlimm“ werden könnte. Die psychische Strategie der einstweiligen Beruhigung führt in eine nach oben offene Beruhigungsskala. Denn es gibt ja immer noch etwas Schlimmeres als das Schlimme, das schon eingetreten ist.

Diese Haltung ist höchst irrational und unterminiert Strategien der notwendigen Gegenwehr. Doch Donald Trump ist als Präsident der mächtigsten Macht der Welt Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Welt und Herr über den mächtigsten Geheimdienst der Welt definitiv der Ernstfall. Darüber rangiert nichts, was man jetzt erst mal befürchten müsste.

Jeder Erfolg der Rechten stärkt deren Potenzial zur Bündnisbildung. Ein Bündnis zwischen Trump, Putin, Erdogan und Xi Jinping wäre ein Bündnis extrem mächtiger Autokraten. Und darüber hinaus gibt es noch eine ganze Kollektion nicht ganz so mächtiger Autokraten, die auf so ein Bündnis warten. Demgegenüber können die Demokratien nur dann standfest sein, wenn sie die veränderte Machtkonstellation klar erkennen und ihrerseits ihre Kräfte bündeln. Und das können sie nur, wenn sie sich klar, eindeutig, wertebezogen gegenüber den Autokraten positionieren und vor allem ihre wirtschaftlichen Macht einsetzen. Hier schlägt im Übrigen auch die Stunde der transnational operierenden Konzerne. Sie täten auch im eigenen Interesse gut daran, alle Verhandlungsmacht daran zu setzen, dass die Offene Gesellschaft als Basis ihres wirtschaftlichen Handelns erhalten bleibt.

Die Rechtspopulisten haben Pläne, Identitäten und Visionen und verfolgen diese auch. Teile ihres Erfolgs sind der antielitäre Gestus und die negative Identitätskonstruktion nach dem Motto: „Wir sind nicht so wie die“. „Die“ können - je nachdem, ob sie Angehörige der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder administrativen Eliten sind - nach dieser Abgrenzung mit allen möglichen negativen Attributen versehen werden. Gegen Andere zu sein, ist das einfachste, das es gibt. Und die liberale Gegenseite setzt dem kein Identitätsangebot entgegen, im Gegenteil: Hier wird ohne Unterlass differenziert und beständig danach gesucht, wo irgendjemandem irgendwo zu wenig Anerkennung widerfahren könnte.

Während ich dies schreibe, hat die Polizei gerade in zehn Bundesländern eine Großrazzia gegen das Dschihadistennetzwerk „Die wahre Religion“ durchgeführt. Dies sei ein falsches Signal, man müsse mit mehr Augenmaß vorgehen, meinte die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz. Mehr Augenmaß gegenüber Dschihadisten? Wer so defensiv und am Ende zynisch mit der Verteidigung der eigenen Werte umgeht und vorsichtshalber schon mal allen entgegenkommt, denen man mit der Verteidigung dieser Werte auf die Füße tritt, kann seine Werte schlicht nicht verteidigen. Aber das kann man nur durch eine dezidierte Haltung tun, zum Beispiel durch begründete Razzien bei Feinden der rechtsstaatlichen Ordnung.

Dem Radikalismus der Anderen kann man nur eigene Pläne, Identitätsangebote, Visionen dessen entgegensetzen, welches Land, welche Gesellschaft man haben möchte und was man dafür zu tun bereit ist. Wenn man die Demokratie bewahren will, muss man eine starke Vision für die Demokratie entwickeln. Und leben.

Sinkendes Systemvertrauen entsteht nicht durch Desinteresse am politischen Gemeinwesen, sondern durch die Fahrlässigkeit und Arroganz von Teilen der gesellschaftlichen Eliten: Stichwortartig seien hier nur Teile des Managements der Deutschen Bank, der FIFA und von Volkswagen genannt. Wer hunderttausende Kunden und die Behörden bewusst betrügt und sich dafür Boni in Millionenhöhe bewilligt, zerstört Systemvertrauen. Und dieses wird auch durch zu große soziale Ungleichheit zerstört, durch ungleiche Bildungschancen, ja überhaupt durch Ungerechtigkeit.

Bei solchen Problemen muss die Debatte für die Offene Gesellschaft ansetzen und nicht bei den Themen, die die Rechtspopulisten setzen. Die sind übrigens, wie alle Studien zur Verbreitung menschenfeindlicher Orientierungen seit Jahrzehnten zeigen, bei einem Fünftel der Bevölkerung ohnehin verbreitet und kaum aufklärbar. Menschen mögen ihre Vorurteile, weil sie selbstdienlich sind und Orientierung liefern. Der Unterschied zu früher besteht heute lediglich darin, dass es mit der AfD eine Partei gibt, in der sich dieser Bevölkerungsteil wiederfindet. Das zeigt, dass es sich bei den behaupteten „Ängsten“ und „Besorgnissen“ nicht um gesamtgesellschaftlich verbreitete Symptome handelt, sondern um Marketing, Angstmarketing.

Und jetzt zum Positiven, das man laut und deutlich und bei jeder Gelegenheit sagen muss: Deutschland ist ein hervorragendes Beispiel für eine Offene Gesellschaft. Das zeigt sich auch daran, dass die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Dass mehr Kinder Abitur machen als jemals. Dass die Polizei immer mehr Beamte mit Migrationshintergrund einstellt. Dass Radfahren in der Stadt normal geworden ist. Dass Menschen Genossenschaften gründen, um gemeinsam zu bauen, zu gärtnern, zu arbeiten, Energie zu erzeugen. Dass Deutschland das beliebteste Land weltweit ist und zudem das Sehnsuchtsland sehr vieler junger Menschen. Gerade weil es eine Demokratie ist und Freiheit garantiert. Dass das Politikinteresse bei jungen Menschen stark gestiegen und ihre Angst vor Zuwanderung stark gesunken ist. Dass die meisten hierzulande Nationalismus für vorgestrig halten und Demokratie gut finden. Dass sie Gewalt in jeder Form ablehnen, sich in unglaublich großer Zahl ehrenamtlich engagieren, bei den Landfrauen wie bei Amnesty International, in Sprachcafés, bei Greenpeace oder der Freiwilligen Feuerwehr.

Weil das so ist, haben sich die Freundinnen und Freunde der Offenen Gesellschaft organisiert und machen bis zur kommenden Bundestagswahl aus jedem Tag einen "Tag der offenen Gesellschaft": mit Musikfestivals, Debatten, Lesungen, Kampagnen, Erzähl-Abenden, Skat-Turnieren, Picknicks, Konzerten, Filmen und Demonstrationen. Und einer Tafel durch ganz Berlin im Juni. Geplant sind zudem ein Wirtschaftsgipfel, ein Demokratiegipfel und ein Kulturgipfel für die Offene Gesellschaft.

Bereits jetzt machen 2500 Freundinnen und Freunde, Theater, Vereine, Verbände und Unternehmen mit. Das stärkste Mittel gegen Menschenfeinde ist, wenn ein ganzes Land plötzlich mal "Pro" ist und für das eintritt, was es kann und was es ist - eine soziale Bewegung für das zivilisatorische Projekt, das im Grundgesetz formuliert ist und der ständigen Ausgestaltung bedarf.

Literatur

Harald Welzer und andere (Hg.): Die offene Gesellschaft und ihre Freunde. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016, 237 Seiten, Euro 9,99.

Zur Website der Initiative "Die Offene Gesellschaft"

Harald Welzer

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Foto: picture alliance/rtn – radio tele nord

Harald Welzer

Harald Welzer, geboren 1958 in Bissendorf bei Hannover, habilitierte sich 1993 in Sozialpsychologie und 2001 in  Soziologie. Er war unter anderem von 2001 bis 2012 Professor für Sozialpsychologie an der privaten Universität Witten/
Herdecke, außerdem ist er Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei. Stiftung  Zukunftsfähigkeit“. Welzer hat viele Bücher geschrieben,  zuletzt den Bestseller: „Nachruf auf mich selbst“.


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