An erster Stelle

Über Religiosität und kirchliche Bindung in der Generation 60 plus
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Die Generation 60 plus ist eine tragende Säule des kirchlichen Lebens. Doch auch sie zeichnet ein Rückgang der religiös-kirchlichen Bindung aus, wie die Sozialwissenschaftlerin im Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD Petra-Angela Ahrens erläutert.

Blickt man auf das kirchliche Leben, so scheint die Sache klar: Es ist die ältere Generation, die bei vielen Angeboten der evangelischen Kirche besonders stark vertreten ist. Diese landläufige Wahrnehmung wird durch eine EKD-weite repräsentative Befragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SIi-EKD) von Mitgliedern der Gemeindeleitungen 2013 eindrucksvoll bestätigt: Unter neun verschiedenen Personenkreisen, an die sich die gemeindlichen Angebote richten können, stehen ältere Menschen mit Abstand an erster Stelle.

Ihre auffallende Präsenz im kirchlichen Leben hat auch mit der demografischen Struktur der evangelischen Kirchenmitglieder zu tun. Unter ihnen ist die ältere Generation schon seit geraumer Zeit noch stärker vertreten als im Durchschnitt der Bevölkerung. Dazu tragen die vor allem von Jüngeren vollzogenen Kirchenaustritte, Rückgang von Geburten und Taufen sowie fehlende Zu- und Wanderungsgewinne bei.

Darüber hinaus hat sich in der empirischen Forschung immer wieder herauskristallisiert, dass sich Religiosität und kirchliche Bindung - beide sind eng aneinander gekoppelt - mit zunehmendem Lebensalter intensivieren. Dies gilt im Großen und Ganzen auch heute noch. Allerdings ist gleichzeitig zu beobachten, dass sich beide in den nachfolgenden Generationen der Älteren abschwächen.

Nach Ergebnissen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) zeichnet sich der vieldiskutierte Bedeutungsverlust der (christlichen) Religiosität und kirchlichen Bindung in der Gesellschaft bei den Evangelischen gerade unter den Älteren ab (siehe Grafik), die doch bis heute als sichere Basis der Kirche gelten.

Die derzeitige ältere Generation der mindestens 60-Jährigen hat ihre Kindheit, in der das Fundament für die eigene Beziehung zu Religion und Kirche vor allem über die Familie gelegt wird, zum größten Teil in den Fünfzigerjahren oder früher verbracht: Für die meisten unter ihnen war jedenfalls die Kirchenzugehörigkeit zu dieser Zeit noch eine Selbstverständlichkeit. Selbst im östlichen Bundesgebiet geben mehr als vier Fünftel dieser Älteren an, dass zumindest ihre Mutter einer christlichen Kirche zugehörte, als sie selbst elf oder zwölf Jahre alt waren. Die Schlussfolgerung, dass die religiös-kirchliche Sozialisation in der Herkunftsfamilie als Normalfall in dieser älteren Generation dazu führt, dass sie auch im höheren Alter von sich aus den Weg in das kirchliche Leben (wieder-) findet, ist weit verbreitet. Empirisch belegt ist die enge Verknüpfung der eigenen Haltung mit der der Eltern und der erfahrenen religiösen Erziehung.

Dennoch lässt sich ein Nachlassen der religiös-kirchlichen Bindung über die Generationenfolge in der Familie beobachten, auch bei den Älteren. Und dies gilt nicht etwa nur für diejenigen unter ihnen, die aus der Kirche ausgetreten sind, sondern auch für die Evangelischen selbst: Bei den Großeltern wird diese Bindung stärker als bei den Eltern eingeschätzt, bei den Eltern stärker als bei der eigenen Person. Zwar bleibt die Intensität der jeweils gefühlten religiös-kirchlichen Bindungen bei den Ältesten am höchsten. Doch zeigt sich das über die Weitergabe in der Familie sinkende Niveau bereits bei den Geburtsjahrgängen 1913 bis 1945, ist also nicht nur eine Folge des gesellschaftlichen Wandels seit dem Ende der Sechzigerjahre.

Zudem gewinnt die eigene religiös-kirchliche Entwicklung auch in der älteren Generation der Evangelischen zunehmend an Relevanz. Dabei überwiegt die Veränderung in negativer Richtung: Der Anteil derer, die eine Abschwächung ihrer Religiosität und - noch deutlicher - ihrer mentalen Bindung an die Kirche im Laufe des eigenen Lebens wahrnehmen, übersteigt in den jüngeren Jahrgangsstufen der älteren Generation den Anteil derer, die eine Verstärkung empfinden. Dies stellt eine Herausforderung für kirchliches Handeln dar, gerade in Bezug auf die nachwachsenden Generationen der Älteren, bei denen sich kaum noch von einer gewissermaßen selbsttätigen (Wieder-) Einbindung in das kirchliche Leben ausgehen lässt. Hängt diese gefühlte Abschwächung mit dem gesellschaftlichen Wandel zusammen oder mit dem Wandel des Alterns selbst hin zu weiteren Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten?

Abgrenzung von Altersbildern

Tatsächlich arbeiten die Analysen einer Studie des SI-EKD zur älteren Generation als zentrales Ergebnis heraus, dass sich die ältere Generation - insbesondere die Befragten im dritten Alter, von 60 bis unter 80 Jahren - von defizitären Altersbildern eher abgrenzt und vielmehr positive, beziehungsweise aktive Selbst- und Zuschreibungen favorisiert. Darüber hinaus rechnen sich die meisten der Befragten gar nicht zu den Alten. Erst mit Beginn des vierten Alters, zum Ende des achten Lebensjahrzehnts, verändert sich dieses Selbstverständnis.

Abgesehen von der diakonischen Sicht auf (andere) ältere Menschen, die Fürsorge und Unterstützung brauchen, dockt die Religiosität jedoch gerade an Orientierungen an, die zugleich auf das so genannte Aktivitätsparadigma verweisen: Wer sich selbst als religiös versteht, äußert im Vergleich zu weniger religiösen Personen ein größeres Wohlbefinden, fühlt sich jünger und identifiziert sich stärker mit positiven beziehungsweise aktiven Altersbildern. Dieses Ergebnis lässt sich als Anfrage an die in Theologie und Kirche verbreitete Deutung des Alters vom Lebensende her verstehen, die den näher rückenden Tod mit der bewusster werdenden Hoffnung auf das ewige Leben verbindet - also gerade umgekehrt die defizitäre Perspektive auf das Alter an eine (wieder-) erstarkende Religiosität knüpft.

Doch selbst der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist unter den Älteren keineswegs stärker verbreitet als unter Jüngeren. Empirisch betrachtet ist er überhaupt keine Frage des Alters. Darüber hinaus ist er für das religiöse Selbstverständnis weniger zentral. Hier stehen der Glaube an Gott und die christlich-religiöse Praxis an erster Stelle.

Zur Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels lässt sich festhalten, dass die früher den Jüngeren vorbehaltenen Lebensorientierungen wie das Streben nach Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und der so genannte Hedonismus längst gesellschaftlicher Mainstream sind. Solche Orientierungen erreichen - nach der körperlichen Fitness - auch in der älteren Generation höchsten Stellenwert. Für die Erklärung einer geringeren oder gar rückläufigen religiös-kirchlichen Bindung tragen sie aber letztlich nichts aus - bis auf das Bedürfnis nach individueller Unabhängigkeit: Bei den religiösen und kirchlich hoch verbundenen Evangelischen der älteren Generation steht es nicht ganz so stark im Vordergrund. Dem Einsatz für andere Menschen und dem politisch-gesellschaftlichen Engagement messen sie dagegen im Vergleich zu denen mit geringerer religiös-kirchlicher Bindung eine sehr viel höhere Bedeutung bei.

Das freiwillige und ehrenamtliche Engagement der älteren Generation ist auf Wachstumskurs. Der dritte Freiwilligensurvey (FWS) beschreibt diesen Trend als auffälligstes Ergebnis seit 2004. Und er setzt sich im vierten FWS von 2014 fort. Dabei zeigt sich zum ersten, dass evangelische Kirchenmitglieder häufiger als andere engagiert sind, was sowohl im Gesamtvergleich der Befragten als auch für die ältere Generation ab 65 Jahren gilt. Zum zweiten bestätigt sich: Engagierte fühlen sich überdurchschnittlich mit ihrer Kirche verbunden. Unter denen, die im Bereich „Kirche und Religion“ tätig sind, fühlen sich die meisten sogar kirchlich stark verbunden. Allerdings gibt es auch hier Wermutstropfen: War der Bereich „Kirche und Religion“ in der älteren Generation von 1999 bis 2009 von der zweiten auf die Spitzenposition unter allen 14 Tätigkeitsbereichen vorgerückt, so nimmt er 2014 erstmals (nur) den vierten Platz ein - vor dem Hintergrund der rückläufigen religiös-kirchlichen Bindung bei den nachwachsenden Generationen der Älteren womöglich ein erstes Anzeichen für künftige Entwicklungen.

Die derzeitige ältere Generation ist eine tragende Säule des kirchlichen Lebens. Dies liegt zum Teil an der Altersstruktur der Evangelischen, vor allem aber an der unter Älteren stärkeren religiös-kirchlichen Bindung. Hier zeichnet sich aber deutlicher Rückgang ab durch nachlassende religiös-kirchliche Sozialisation und die zunehmend negative Entwicklung, insbesondere der mentalen kirchlichen Bindung im eigenen Lebenslauf.

Der Wandel des Alter(n)s hin zu positiven und aktiven Orientierungen scheint für sich genommen ein Potenzial für das kirchliche Handlungsfeld zu erschließen. Dies dokumentiert sich im (bisher) erheblich gestiegenen Engagement der älteren Generation. Allerdings wird es künftig noch stärker als heute schon darauf ankommen, die Älteren nicht nur aus diakonischer Perspektive, sozusagen als Adressaten der Engagierten, wahrzunehmen, sondern an individuelle Interessen und Entfaltungsmöglichkeiten anzuknüpfen. Denn eines ist sicher: Die wichtige Basis der religiös-kirchlich gebundenen Älteren wird schrumpfen.

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Petra-Angela Ahrens

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Petra-Angela Ahrens

Petra-Angela Ahrens ist Referentin für empirische Kirchen- und Religionssoziologie am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover.


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