Von Kerala lernen

Gespräch mit dem Sozialexperten Thomas Klie über aktives Altern, sorgende Gemeinschaften und das neue Ehrenamt
Foto: privat
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Das eigene Altern sollte bewusst gestaltet werden, mit neuen Netzwerken und lebensbegleitendem Lernen. Doch das alles ist auch immer eine Frage des sozialen Status'. Die sich im Alter verstärkenden Aspekte sozialer Ungleichheit darf man nicht durch ein schön gefärbtes Leitbild des aktiven Alters übergehen.

zeitzeichen: Herr Professor Klie, Sie gehören seit kurzem der Gruppe der jungen Alten an. Hat sich für Sie etwas verändert?

Thomas Klie: Wir leben in einer Gesellschaft, in der das kalendarische Alter zur Strukturierung des Lebenslaufes eine dominante Rolle spielt. Insofern markiert die Schwelle von sechzig Lebensjahren, die ich vor knapp zwei Jahren überschritten habe, einen Einschnitt. Mein Leben ändert sich durchaus, und die Zukunftsperspektiven verdichten sich. Die Lebensphase ist besonders intensiv und vielfältig - und ich hoffe, auch künftig von Gelassenheit geprägt. Nicht, dass das kalendarische Alter mein Lebensgefühl bestimmen würde, aber ich weiß um mein Alter.

Ist Teil dieses Lebensgefühl auch Angst vor dem, was alles kommen könnte?

Thomas Klie: Man ist mit Blick auf das, was einem im Alter alles blühen kann, in besonderer Weise zur Weltoffenheit eingeladen. Auch eine, die sich bricht mit der Vorstellung, dass gesellschaftliche Entwicklung immer Fortschritt heißt. Das ist für meine Generation eine gar nicht so einfach zu verarbeitende Irritation. Unsere soziologischen Konzepte kannten eine demokratische und offene Gesellschaft sowie die kulturelle Etablierung von Pluralität als Aussicht. Damit verbunden war die Hoffnung auf eine gerechtere und gute Gesellschaft, die wir mitgestalten und deren historische Aufträge wir ebenso abarbeiten wie die Sicherung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus wollten wir aus der Vergangenheit lernen. Nun müssen wir sehen, Geschichte verläuft nicht linear. Die aktuellen politischen Entwicklungen - international und national - können mich mit Sorge erfüllen.

Die Frage zielte eigentlich auf die Angst vor Krankheiten, vor Einsamkeit oder davor, ein Pflegefall zu werden. Spielt das für Sie eine Rolle?

Thomas Klie: Den Begriff des „Pflegefalles“ lehne ich als inhuman und diskriminierend ab. Mit Fragen der Vulnerabilität im Alter beschäftige ich mich schon lange. In der 6. Altenberichtskommission haben wir in einer dem Bericht vorangestellten Ethik des Alters die Akzeptanz von Abhängigkeit als bedeutsame Orientierung herausgehoben. Damit sind für an Autonomie orientierte Menschen einige Lektionen verbunden. Individuell und kollektiv ist sie Voraussetzung für eine menschenfreundliche Perspektive auf Lebensformen, die von Krankheit und Behinderung geprägt sind. Ich wünsche mir im Karl Barth‘schen Verständnis von Gesundheit für diese Situation die Kraft zum Menschsein in Krankheit und eine nicht demütigende Umwelt - sozial und institutionell.

Egoistisch, rücksichtslos und konsumversessen - so beschreiben einige Ihrer Kollegen die jungen Alten zwischen sechzig und achtzig. Stimmen Sie dem zu?

Thomas Klie: Das ist sehr eindimensional. Es gibt ohne Frage diese ausgeprägte Konsumorientierung und selbstgerechte Selbstbezogenheit älterer Menschen. Und man findet auch immer wieder ein ausgeprägtes Besitzstandsdenken, das nicht reflektiert, dass nachfolgende Generationen schon deswegen über schlechtere Lebenschancen verfügen, weil die Älteren Ressourcen für sich beanspruchen. Aber es gibt auch die andere Seite. Wo stünde die ehrenamtliche Arbeit ohne die Älteren? Die Ergebnisse des Zweiten Engagementberichts, den wir im Auftrag der Bundesregierung erarbeitet haben und der in den nächsten Wochen erscheinen wird, zeigen: Die so genannten jungen Alten sind die Gruppe, die sich in der Gesellschaft proportional zu ihrer Repräsentanz am meisten engagiert. Das hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich verändert. Viele fangen mit ihrem Engagement heute erst mit 70 an. Insofern können wir bei dem Phänomen des aktiven Alters in Deutschland von einem Trend sprechen.

Warum engagieren sich gerade die Älteren so stark? Weil sie mehr Zeit haben?

Thomas Klie: Nicht nur, es geht auch um die bewusste Gestaltung des eigenen Alters, um Lernen, um neue Netzwerke, die im Alter wichtig werden. Engagement kann auch Investition in die eigene Beheimatung in einer Gesellschaft sein, die einem fremd zu werden droht. Viele Ältere fühlen sich wie Fremde im eigenen Land und tun deshalb gut daran, sich das, was ihnen fremd ist, anzueignen. So finden sie neue Freundschaften, verfolgen Beheimatungsstrategien, sie stellen ihr Leben in einen größeren, wertebezogenen und aktivitätsgebundenen Zusammenhang. Darin liegen Chancen. Und der Typ des aktiven Alten - mit einem differenzierten Altersbild, einer eher modernen Vorstellung von Gesellschaft und Rollenverteilung, mit einer Orientierung an universalen Werten wie Ökologie oder Menschenrechten - dieser Typus verbreitet sich. Hinzu kommt die Bereitschaft zum lebensbegleitenden Lernen, das im Alter nicht aufhört. Lernen im Alter heißt auch Lebensgestaltung im Alter. Eine Studie, die wir gerade für das Deutsche Institut für Altersvorsorge durchgeführt haben, zeigt aber auch: Das Phänomen des aktiven Alters ist in hohem Maße mit der individuellen Ressourcensituation verbunden.

Womit wir dann doch beim Thema Krankheiten wären…

Thomas Klie: Nein, wir reden zunächst über den sozialen Status. Einkommen, Bildung - das sind die Variablen, mit denen ein aktives Alter korreliert. In von prekären Lebenslagen geprägten Milieus älterer Menschen finden wir eher defizitäre Altersbilder. Da fehlen finanzielle Handlungsspielräume, geeigneter Wohnraum, Mobilität ebenso wie Bildungsressourcen. Die sich im Alter verstärkenden Aspekte sozialer Ungleichheit darf man nicht durch ein schön gefärbtes Leitbild des aktiven Alters übergehen.

Die damit verbundene starke Individualisierung halte ich für problematisch, frei nach dem Motto „Du bist für dein eigenes Alter verantwortlich“. Das stimmt auch, in gewisser Weise: Tu etwas für dich, beweg dich, stell dich in den Zusammenhang der Gesellschaft - das sind alles wichtige Appelle, die übrigens für jedes Lebensalter gelten. Aber Vorsicht, wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die auch in der Chancenverteilung ungerechter wird. Noch ist die Altersarmut in unserem Land gering ausgeprägt, aber das wird sich ändern. Und wir haben auch aktuell nennenswerte Gruppen, gerade unter älteren Frauen und Migranten, die in ihrer Chancenausstattung sehr schlecht aufgestellt sind.

Dennoch bleibt das aktive Altern ein Ziel, das auch Sie immer wieder benennen. Warum müssen wir eigentlich stets zur Aktivität, besonders zum Ehrenamt, drängen? Haben gerade ältere Menschen nicht auch ein Recht auf Ruhe?

Thomas Klie: Ich werde mich immer gegen eine Vernutzung des Alters wenden, schon gar gegen ein Pflichtjahr für Senioren. Es gibt auch ein Recht auf Weltferne und Rückzug. Aber das Leben im Alter sollte auch als aktive, als Lebensphase mit Gestaltungsoptionen kommuniziert, wahrgenommen und gelebt werden. Aktivität kann sich auch nach Innen richten. Mit Krankheit und Behinderung leben zu lernen und dabei ein menschenfreundlicher Mensch zu bleiben, ist eine Leistung, eine besondere Aktivität. Die Akzeptanz von Abhängigkeit ist auch eine Aktivität, die Redundanzen anzunehmen, täglich Ja zu sagen zum Leben, auch wenn es niemand mitbekommt. Es geht nicht nur um das nach außen gerichtete Tun, das man über die Bühnen des Konsums, der Reisen, des Engagements sucht, sondern auch um die stille, nach innen gerichtete Aktivität.

Dazu zählt gewiss auch, sich mit der eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wie bei Bedarf eine Pflege organisiert werden kann. Setzen die jungen Alten dabei noch immer auf die eigene Familie?

Thomas Klie: Es gibt viele, die es zwar akzeptieren würden, von ihrer Familie gepflegt zu werden, aber sie wollen nicht mehr mit ihr unter einem Dach zusammenleben. Ein Heim kommt für die allermeisten nicht in Frage. Der allgemeine Wunsch ist es, dort zu leben - und zu sterben - wo man hingehört. Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass unterschiedliche Akteure bei der Sorge auf Pflege angewiesener Menschen vor Ort zusammenwirken: Angehörige, Nachbarn, Ehrenamtliche und Pflege- sowie Assistenzdienste. Es ist nicht in Ordnung, sich als Angehörige, Nachbarn und Freunde von auf Pflege angewiesenen Menschen zurückzuziehen. Wir brauchen vor Ort Solidaritäts- und Sorgestrukturen, die tragen. Darin liegt zunächst eine kulturelle Herausforderung. Vor Ort sollten wir darüber reden, was gutes Leben unter Bedingungen von Vulnerabilität heißen kann. Wir müssen die professionellen Hilfen gewährleisten und Fachwissen zur Verfügung stellen. Das kann Zuversicht stiften. Das verlangt aber einen anderen Modus der sozialstaatlichen Akteure. Es geht also nicht um qualitätsgesicherte Heime, in denen ich zum Kunden degradiert werde. Dieses Paradigma halte ich für gefährlich und falsch. Ich bin als Mensch verletzlich und angewiesen darauf zu erfahren, dass ich weiterhin für andere bedeutsam bleibe. Und ich glaube, das wichtigste ist, dass die Krankheit oder die Kränkung, die ich durch kognitive oder körperliche Einschränkung erfahre, nicht zur Demütigung wird. Sonst ist die Würde in Gefahr. Eine anständige Gesellschaft vermeidet Demütigung im Alter. Und dafür haben wir alle Sorge zu tragen.

Was heißt das im Blick auf die Pflegeversicherung?

Thomas Klie: Das Konzept der Pflegebedürftigkeit ist meines Erachtens problematisch. Trotz der Modernisierung der Definition besteht die Gefahr, dass er als Stigma wirkt. Er ist und bleibt ein sozialrechtliches Konstrukt. Noch wichtiger ist, dass die Leistungen der Pflegeversicherung zu starr sind. Die aus der Industrie und dem Militär stammende Logik der Qualitätssicherung hat sich die Langzeitpflege in mancher Hinsicht Untertan gemacht. Ein Leben unter Bedingungen von Vulnerabilität erfüllt sich in der Erfahrung des Menschseins und in der Bedeutung, die ich für andere und sie für mich weiterhin haben. Hier spielen Nachbarschaften, Freundeskreise, aber auch Freiwillige und Assistenzdienste eine große Rolle. Die über 300000 osteuropäischen Haushaltshilfen weisen darauf hin, dass die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen an den persönlichen Bedarfen häufig vorbei gehen.

Die so genannten Caring Communites, die sorgenden Gemeinschaften, wären also ein Modell für die jungen Alten?

Thomas Klie: Sorge meint die anteilnehmende Verantwortungsübernahme für mich und meine Umwelt. Das heißt auch im Sinne von Hannah Arendt: verantwortliche Mitgestaltung der Gesellschaft im Kleinen und Großen. Das hat viel mit Demokratie zu tun, denn Demokratie heißt heute ganz wesentlich sich sorgen. Sorgestrukturen gilt es lokal auszuhandeln - und das nicht nur bezogen auf Pflegefragen sondern auf das weite Feld der Daseinsvorsorge: öffentlicher Nahverkehr, Kultur, geflüchtete Menschen. Wie wollen wir vor Ort leben? Was sind Bedingungen guten Lebens? Diese Frage müssen wir vor Ort beantworten. Daseinsvorsorge heißt, Bedingungen guten Lebens schaffen. Und das gelingt nicht allein durch den Staat, durch den Markt, aber auch nicht durch die Familie. Das gelingt im Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Sektoren und ihrer Akteure in einer offenen Gesellschaft. Das ist mit Zumutungen verbunden. Denn wir müssen auch für die fremden Menschen Bedingungen guten Lebens schaffen. Das können Zuwanderer genauso sein wie Andersgewordene, Demenzkranke zum Beispiel. Mit-Verantwortung für das Gemeinwesen, für den sozialen Zusammenhalt zu übernehmen, das heißt für mich Sorge.

Und wer organisiert diesen Prozess?

Thomas Klie: Das können Bürgermeister sein, die, wie mir auch aus den ostdeutschen Bundesländern bekannt, unter Zurückstellung anderer beruflicher Karriereoptionen, in die kommunale Sorgepolitik investieren. Das können wunderbare Kirchengemeinden sein, die sich dem Leitbild der sorgenden Gemeinschaften in guter parochialer Tradition öffnen, in denen Pfarrer oder Diakone zu Netzwerkern werden und Ressourcen, etwa Immobilien mit in den Prozess eingebracht werden.

Es können charismatische, gestaltungsfreudige Bürgerinnen und Bürger sein, alte und junge. Aber auch Sozialunternehmer können zu Promotoren werden, etwa in Diakonie und Caritas, wenn sie sich aus einer klassisch institutionellen Logik lösen und öffnen für Anliegen von Dorf und Quartier. Ohne Persönlichkeiten geht es nicht. Wichtig sind die Prinzipien der Sorgestrukturen und -kulturen: demokratische Aushandlung, geteilte Verantwortung, wohlfahrtspluralistische Arrangements. Sie sollten konsequent in die rechtliche sowie die sozial- und gesellschaftspolitische Steuerung integriert werden. Auch hier spielen die so genannten aktiven Alten eine Rolle: Sie sind oftmals bereit, sich in die Verantwortung einer gerechten Gestaltung der Gesellschaft einzubringen.

Sie sitzen der Sachverständigenkommission vor, die den Zweiten Engagementbericht der Bundesregierung erarbeitet hat. Was sind die Ergebnisse bezogen auf die Gruppe der jungen Alten?

Thomas Klie: Die Stellungnahme der Bundesregierung zum Zweiten Engagementbericht liegt vor, er wird im Februar oder März im Kabinett behandelt. In der Kommission legen wir sehr viel Wert darauf, nicht nur das organisierte, auf Öffentlichkeit hin ausgerichtete Engagement in den Blick zu nehmen, sondern die Vielfalt der gemeinschafts- und gesellschaftsbezogenen Aktivitäten einzubeziehen, die sich nicht alle mit dem Begriff des bürgerschaftlichen Engagements fassen lassen.

Da ist etwa das stille Engagement, das eher im Verborgenen seine Kreise zieht. Im Zweiten Engagementbericht spannen wir die Erscheinungsformen des Engagements der Bürgerinnen und Bürger in Spannungsachsen: hier das dialogorientierte (politische), dort das eher handlungsorientierte Engagement (Freiwilligenarbeit). Das auf Bewahrung ausgerichtete steht dem auf Veränderung gerichtete gegenüber, das informelle dem organisierten Engagement, das zweck- dem geselligkeitsorientierten - mit vielen Mischungen und Zwischenformen. Die Vielfalt des Engagements ist uns wichtig.

Was heißt geselligkeitsorientiertes Ehrenamt?

Thomas Klie: Wir kennen viele Formen geselligkeitsorientierter Aktivitäten, in Vereinen, in Nachbarschaften. Sie sind für örtliche Kulturen und Zugehörigkeit bedeutsam. Überhaupt kommt den nachbarschaftlichen Zusammenhängen eine zentrale Rolle zu. Aus ihnen heraus erwächst viel Engagement. Beindruckt hat mich ein Besuch in Cottbus, wo wir für das Land Brandenburg eine Studie durchgeführt haben. Auf der Suche nach dem Engagement von älteren Menschen wurden wir zunächst nicht fündig. Aber in manchen Stadtteilen stießen wir auf eine lebendige und sorgende Nachbarschaft - jenseits von Anerkennungskultur und Monetarisierung von Hilfen. Von der städtischen Ehrenamtsförderung wollte man nichts wissen.

Müssen Kirchengemeinden nicht auch Sorge tragen für diese Strukturen?

Thomas Klie: Richtig, sie bieten beste Voraussetzungen und befinden sich zugleich in einer schwierigen Lage, etwa wenn sie in bestimmten Regionen nur noch eine Minderheit an sich binden. Doch stehen sie in einer parochialen Tradition. Aus ihr ergibt sich eine Verantwortungsrolle für den sozialen Zusammenhalt und die Sorgefähigkeit im Gemeinwesen, im Dorf, in der Gemeinde. Besonders beispielgebend sind Kirchengemeinden, die gemeinsam mit Diakonie- oder Sozialstationen neue Wege in der Gestaltung örtlicher Sorgestrukturen einschlagen und dabei innovative Finanzierungskonzepte entwickeln oder nutzen - wie etwa die Diakoniestation in Leopoldshafen bei Karlsruhe.

Dort stehen nicht mehr die Einzelleistungen im Vordergrund sondern die Gesamtverantwortung für die Sorge - im Verbund mit den Nachbarschaften, Assistenzdiensten und Freiwilligen - unter Nutzung von Technik. Gelingt es, Sorgestrukturen subsidiär zu organisieren, indem Angehörige, Nachbarn und Freiwillige mit Professionellen zusammenarbeiten, ergeben sich positive wirtschaftliche Effekte für alle Beteiligten.

Wie ist die Situation in anderen Ländern? Gibt es Staaten, die mit Blick auf die Caring Communities schon weiter sind?

Thomas Klie: Der Begriff kommt ja eher aus der Entwicklungspolitik. Insofern finden sich interessante Beispiele in den Ländern des Südens. Ich habe mir etwa in dem indischen Bundesstaat Kerala die Palliativ Care-Strukturen angeschaut, die Begleitung von schwerkranken Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Ich habe mit dem Arzt gesprochen, der dort die erste palliativmedizinische Klinik aufgebaut hat. Er sagte: „Gut, ich habe den Menschen die Schmerzen genommen, aber beim Anblick ihres Leids war ich sprachlos.“ Was hat der gute Mann gemacht? Er hat innerhalb von acht Jahren in etwa 80 Prozent der Kommunen von Kerala nachbarschaftliche Palliativ Care-Strukturen aufgebaut. Dort gibt es jetzt über 100 Stützpunkte, anteilig finanziert von den Kommunen, in denen Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Das Rückgrat bilden aber 80000 Freiwillige, die sich um die kranken und sterbenden Menschen in ihrer Nachbarschaft sorgen und ein Auge auf sie haben. Sogar die Polizei macht mit und kommt nicht nur, wenn irgendwo eine Straftat begangen wurde, sondern dann, wenn jemand leidet. Auch das ist eine Caring Community, die unter komplizierteren Bedingungen entstanden ist als unsere in Deutschland. In St. Gallen in der Schweiz orientiert man sich an dem Konzept.

Nun ist Indien ein Land, in dem die staatlichen Strukturen eher schwach ausgebildet sind. Verhindert ein starker Staat also eher ehrenamtliches Engagement?

Thomas Klie: Das Gegenteil ist richtig. Nehmen Sie zum Beispiel die skandinavischen Länder. Hier findet man ein generell höheres Engagementniveau als in Deutschland. Schweden hat statistisch die höchsten Bruttozeiten an Unterstützung für behinderte und alte Menschen. Und für ehrenamtliches Engagement ist mehr Zeit da, weil Überstunden kulturell nicht akzeptiert sind. Wenn ich in meine Lebensführung die Sorge um Andere miteinbeziehe, dann hat das weitreichende Effekte.

Für das Ausmaß an Engagement sind aber auch andere Faktoren verantwortlich: Geringe Einkommensunterschiede, hohe Beteiligung an demokratischen Beteiligungsformen und eine niedrige Kriminalitätsrate im öffentlichen Raum gehört ebenso dazu wie der Korruptionsindex. Die Einlösung des Gewaltmonopols des Staates gehören zu den Kriterien einer zivilen Gesellschaft. Sind sie erfüllt, ist ein höheres Engagementniveau erwartbar. Die Strukturbedingungen einer Gesellschaft besitzen Prädiktorenqualität für Engagement. Wer das fördern will, muss eben auch für Strukturen einer zivilen Gesellschaft Sorge tragen. Darin besteht ein wesentlicher Auftrag des Staates.

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Stephan Kosch am 22. Dezember 2016 in Berlin.

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