Das Schweigen der Räume

Der gewaltige Kosmos und die Stellung des Menschen in der Welt
Foto: Nasa
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Jede Entdeckung der Kosmologie - von Kopernikus bis in die Gegenwart - scheint den Menschen kleiner und unbedeutender zu machen. Unsere Erde erscheint heute nur als ein Staubkorn am Rand eines unüberschaubar großen Universums. Eine Entwicklung, die auch der Theologie zu denken geben sollte, meint der Münsteraner Theologe Matthias Schleiff.

Es ist in diesem Jahr genau einhundert Jahre her, dass Sigmund Freud in einem Essay über „Schwierigkeiten der Psychoanalyse“ an drei wissenschaftliche Entdeckungen erinnerte, die den Stolz und die „natürliche Eigenliebe“ des Menschen nachhaltig erschüttert haben. Er nannte sie die drei „Kränkungen der Menschheit“ - und es versteht sich wohl von selbst, dass er unter sie auch seine eigene Theorie der Psychoanalyse einreihte, die dem Menschen die Übermacht der seelischen Triebkräfte des Unbewussten vorgeführt hatte.

Als zweite wissenschaftliche Errungenschaft, die den Eigendünkel des Menschen zurechtstutzte, erscheint bei Freud die Evolutionstheorie Darwins, die den Menschen in die Ahnenreihe der Tiere verwies. Die historisch erste Infragestellung des menschlichen Stolzes ist bei Freud indes für eine kosmologische Einsicht reserviert: Kopernikus’ Entdeckung, die dem ptolemäischen Weltbild das Ende bereitete und die Erde aus dem Mittelpunkt der kosmischen Weltordnung rückte. Nicht die Sonne drehe sich um die Erde, sondern die Erde um die Sonne - so Nikolaus Kopernikus in seinem erstmals 1543 in Nürnberg gedruckten Werk De revolutionibus orbium coelestium.

In der Tat war die kosmologische Kränkung durch die Entdeckung des Kopernikus erst der Anfang. Und schon die Kosmologie hat erhebliche Zentrifugalkräfte entwickelt, die den Menschen stetig weiter aus der Mitte des Kosmos verdrängt haben: Hatte bei Kopernikus immerhin noch die Sonne den Mittelpunkt des Kosmos eingenommen, musste auch sie diesen Ort ein halbes Jahrhundert später räumen: Galileo Galilei entdeckte die Struktur der Milchstraße und identifizierte in ihr eine Vielzahl von Sternen, unter denen auch unsere Sonne keinen besonderen Rang mehr beanspruchen konnte.

Heutige Astronomen zählen 100 bis 300 Milliarden Sterne in unserer Milchstraße. Und seit den Zwanziger Jahren weiß man, was etwa schon Immanuel Kant vermutet hatte: Unsere Milchstraße ist nicht die einzige Galaxie, sondern stellt eine unter ein bis zwei Billionen Galaxien dar, die Astronomen seit einer neuen Schätzung aus dem vergangenen Jahr im beobachtbaren Universum vermuten.

Kaum erreichbare Entfernung

Eine unvorstellbare Zahl an Planeten, Sternen, Galaxien - und doch erscheinen sie angesichts der großen Dimensionen unseres Kosmos einsam und vereinzelt. So leer und so gewaltig sind die kosmischen Räume. Schon unsere kosmische Nachbarschaft liegt für uns in kaum erreichbarer Entfernung. Mit der „Voyager 1“ hat die Menschheit 1977 eine Raumsonde auf die Reise ins All geschickt, die seither mit 61000 Stundenkilometern durch den kosmischen Raum rast. Als sie 1990 aus knapp 7 Milliarden Kilometern Entfernung ein Foto von der Erde machte, war unser Heimatplanet darauf als blassblauer Punkt kaum mehr zu erkennen.

Aber der nächste Stern, Proxima Centauri, ist noch nicht annähernd in Reichweite. Noch mehr als 70000 Jahre bräuchte die Voyager-Sonde, ihn zu erreichen, wenn sie auf der richtigen Bahn unterwegs wäre (was sie nicht ist). Der Raum unseres Universums ist also vor allem eines: „wüst und leer“. Seit der Schöpfung, so scheint es, hat sich in weiten Teilen des Kosmos nicht viel getan.

Einer der ersten, dem diese kosmischen Dimensionen zu denken gaben, war im 17. Jahrhundert der Mathematiker und Physiker Blaise Pascal. In seinen „Gedanken über die Religion“ beschrieb er sein Schaudern darüber: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.“ Und er stellte die Frage: Was kann in diesem riesigen Kosmos der Mensch noch bedeuten? Seit Pascal ist die Welt unserer Weltbilder um den Faktor von einigen Milliarden Milliarden gewachsen. Umso schwerer wiegt daher die Frage: Wie steht es um den Menschen angesichts der gewaltigen Dimensionen des Kosmos? Wenn das Universum so groß ist, und wir so klein - heißt das nicht, dass wir uns auch Jahrhunderte nach Kopernikus, Pascal und Freud noch viel zu wichtig nehmen?

Theologie und Philosophie, die sich beide auf ihre Weise der Selbstdeutung des Menschen verschrieben haben, sind zu dieser Frage in der Moderne eigentümlich wortkarg geblieben. Mag ein kosmischer Schauder sich als Grundstimmung durch die Moderne ziehen - zu Überlegungen, die der gedanklichen Bearbeitung zugänglich wären, hat diese Stimmung nur selten gefunden. Eine Ausnahme bildet etwa der Philosoph Jacques Monod (1910-1976). Angesichts der Kosmologie der Moderne erscheint ihm der Mensch als „Zigeuner am Rande des Universums, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“. Auch die Theologen unserer Zeit sind anthropologisch bescheidener geworden. „Der Sinn des Kosmos ist nicht der Mensch“, formuliert etwa Jürgen Moltmann. Und eine ökologisch orientierte Schöpfungstheologie ist sich mit ihm darin einig, einem Anthropozentrismus, also der Vorstellung, dass der Mensch im Zentrum des Universums stehe, eine entschiedene Absage zu erteilen. Dabei wussten schon die Reformatoren, dass es nicht der Mensch ist, der im kosmischen Drama die Hauptrolle spielt: Calvin bezeichnete den Kosmos als ein „theatrum gloriae Dei“, einen Schauplatz, der nicht der Selbstdarstellung des Menschen gewidmet ist, sondern an dem sich die Gottheit Gottes Ausdruck verschafft.

Denkendes Schilf

In diesem Licht betrachtet, zeigen die sich stetig ausdehnenden Grenzen unserer Welt vor allem, dass der Mensch stets dazu geneigt hat, entscheidend zu unterschätzen, was Gott zu schaffen vermag. Die Macht des Schöpfers hat sich, so verstanden, mit jeder neuen Entdeckung als immer noch größer erwiesen, als wir es uns bis dato vorstellen wollten. Mit dem christlichen Gottesbild passt dies natürlich zusammen. Theologisch spricht alles dafür, sich eine Welt, die sich als ein Schauplatz der majestätischen Gottheit Gottes präsentiert, so groß als nur möglich zu denken - größer, als wir uns jemals vorstellen können. Das Lied auf die Größe des Schöpfers, so wird man dann sagen dürfen, wird nicht nur vom Menschen gesungen; auch „die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ (Psalm 19).

So weit, so gut, so richtig. Und doch hat die Theologie vom Menschen noch anders zu reden, als es die Metrik des Kosmos nahelegt. Dem Philosophen Jacques Monod mag der Mensch als „Zigeuner am Rande des Universums“ erschienen sein. Aber so kann christliche Theologie nicht vom Menschen reden, wenn sie bestimmt ist als die Rede von dem Gott, der Mensch geworden ist. Im Menschen hat Gott sich ein Gegenüber geschaffen, in dem die Gemeinschaft zwischen Gott und seiner Schöpfung ihre definitive Gestalt findet. In dieser Rolle ist der Mensch theologisch nicht beliebig vertretbar.

Hinzu kommt: Der Mensch kann um seine Beziehung zu Gott wissen. So klein der Mensch also ist - er ist ein Wesen, das sich seiner Stellung im Kosmos bewusst ist. „Der Mensch“, so notiert in diesem Sinne Blaise Pascal, „ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen… Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, dass er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts.“

Es bleibt natürlich dabei: Der Kosmos ist groß - der Mensch so klein. Das Erstaunen darüber, dass der Mensch dennoch die Aufmerksamkeit Gottes gewinnt, ist nicht neu: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“, fragt der Beter des Psalms 8 in einem Staunen, das seitdem immer noch größer geworden ist.

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Matthias Schleiff

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