Elefant im Raum

Kinder aus Suchtfamilien sollen mehr Hilfe bekommen
Wenn Papa zu viel trinkt, geht es der ganzen Familie schlecht. Foto: dpa/Rudolf
Wenn Papa zu viel trinkt, geht es der ganzen Familie schlecht. Foto: dpa/Rudolf
Mindestens drei Millionen Kinder in Deutschland haben Eltern mit einer Suchtkrankheit. Es gibt zwar Hilfsangebote, doch das Netz ist viel zu dünn, wie Experten meinen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung will das nun ändern. Sie widmete ihre Jahrestagung diesem Thema. Stephan Kosch war dabei - und sah sich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert.

Auf der Bühne sitzt eine junge Frau. Sie hat das Basecap in die Stirn gezogen, das blonde Haar darunter versteckt und trägt eine Sonnenbrille. Natalie, so nennt sie sich, möchte nicht erkannt werden. Doch sie will ihre Geschichte erzählen. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr lebte Natalie mit ihren jüngeren Geschwistern bei ihrer alleinerziehenden Mutter, die Alkoholikerin war. Die Folgen dieser Krankheit: Jobverlust, Vernachlässigung der Kinder, Beschimpfungen, manchmal Gewalt. Natalie kümmerte sich um ihre Geschwister und wurde in der Klasse gemobbt, weil sie äußerlich verwahrloste und sich anders verhielt als ihre Mitschüler. Irgendwann konnte sie nicht mehr, rief die Polizei. Seitdem leben sie und ihre Geschwister nicht mehr bei der Mutter, sondern in betreuten Wohngruppen. Ich sitze im Publikum, höre das alles - und beneide Natalie.

Beneiden - das muss ich wohl erklären. Ich bin selber als Kind einer Alkoholikerin aufgewachsen. Auch meine Mutter war nach dem frühen Tod meines Vaters alleinerziehend, die beiden großen Schwestern gingen schon bald ihre eigenen Wege, doch mein älter Bruder und ich mussten noch versorgt werden. Dass meine Mutter dabei ihr Bestes gab, steht außer Frage. Doch der Suff ist meist mächtiger als die guten Vorsätze. Und sein Reich ist dunkel. Manchmal habe ich mir gewünscht, statt in dieser Schattenwelt in einem Heim zu leben. Keine Ahnung, wie das in den späten Siebzigerjahren dann wirklich gewesen wäre. Und dass man sogar noch Jahrzehnte später jemanden wie Natalie wirklich um diese Erfahrung beneidet, dürfte für viele kaum nachvollziehbar sein. Wobei sie, wie sie sagt, den Anruf bei der Polizei nie bereut hat. Denn damit hat sie sich und möglicherweise auch ihre Geschwister gerettet. Als Zwölfjährige die eigenen Grenzen zu erkennen, den Mut zu haben, die Gesetze einer Suchtfamilie zu brechen, Hilfe zu suchen - das zeugt von einer beneidenswerten Charakterstärke und einem Selbst-Bewusstsein, das gerade Kindern in Suchtfamilien so oft verloren geht…

Um mich herum sitzen noch rund vierhundert andere im Berliner Cafe Moskau und hören Natalies Geschichte. Marlene Mortler, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, hat zu ihrer Jahrestagung eingeladen, die sie unter dem Motto „Die Kinder aus dem Schatten holen“ der Situation von Kindern süchtiger Eltern gewidmet hat. Die Resonanz war stark, sagt Mortler, mehreren hundert Interessenten habe man absagen müssen. Entsprechend voll ist der Raum, überwiegend Fachleute aus der Jugend- und Suchthilfe und Journalisten haben sich angemeldet. Aber es ist ziemlich sicher, dass ich nicht der einzige bin, der die Dinge, über die hier gesprochen wird, aus eigener Erfahrung kennt. Denn das Problem ist nicht neu - und es betrifft viele.

„Kind suchtkranker Eltern zu sein - das ist kein Einzel-, es ist ein oft nicht erkanntes Alltagsschicksal“, sagt Mortler sichtlich bewegt in ihrem Eingangsstatement. „Über drei Millionen Kinder in unserem Land haben mindestens einen suchtkranken Elternteil. Drei Millionen, das ist jedes fünfte oder sechste Kind.“ Bei 2,65 Millionen Kindern seien Vater, Mutter oder beide alkoholkrank. Hinzu kommen Kinder mit opiatabhängigen Eltern, Kinder, deren Eltern Crystal Meth konsumieren, Kinder glücksspielabhängiger Eltern, Kinder medikamentenabhängiger Eltern und viele mehr. Die Zahlen beruhen allerdings auf Schätzungen und Hochrechnungen, tatsächlich dürften wie so oft beim Thema Sucht noch weitaus mehr Menschen betroffen sein.

Liebe Pfarrer, Diakone, Lehrer, Erzieher, Jugendreferenten und natürlich auch alle weiblichen Vertreterinnen dieser Berufe, spätestens jetzt gilt es, hellhörig zu werden. Wenn im Schnitt mindestens jedes sechste Kind zu Hause einen süchtigen Vater oder eine süchtige Mutter hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass in Euren Klassen, Jugendgruppen oder Kitas eines oder mehrere Kinder sitzen, die im Schatten dieser Sucht leben. Vielleicht ist es der Klassenclown oder der Rabauke. Oder das Mädchen, das schon so unglaublich weit für ihr Alter ist und stets Verantwortung für alles Mögliche übernimmt. Vielleicht auch das Kind, das sich etwas zu oft in Traumwelten flüchtet. Oder das Überangepasste, das alles tut, um keinen Konflikt entstehen zu lassen.

Vermeintlicher Verrat

Das alles sind nämlich mögliche Strategien, die diese Kinder gelernt haben, um zu Hause zu überleben. Und dass sie noch nie darüber gesprochen haben, heißt gar nichts. Im Gegenteil, die erste und wichtigste Regel in solchen Familien ist, dass über die Sucht nicht mit Außenstehenden gesprochen wird. Das gilt als Verrat. Und das Schweigegelübde gilt oft auch innerhalb der Familie. Die Sucht gleicht einem Elefanten, der mitten im Raum steht und dennoch nie Thema ist.

Doch deswegen verschwindet der Elefant nicht, er begleitet die Kinder oft durch ihr ganzes Leben - mit dramatischen Folgen, auf die auch Marlene Mortler hinweist. „Die Sucht der Eltern setzt sich fort: Wenn wir nichts tun, entwickelt etwa ein Drittel der betroffenen Kinder später selbst eine Suchterkrankung, ein Drittel eine andere psychische Störung und nur ein Drittel kommt mehr oder weniger mit heiler Haut und Psyche davon. Und da viele dieser Kinder später selbst Eltern werden, setzt sich dieser Teufelskreis immer weiter fort.“ Eine Million Kinder aus den betroffenen Familien drohen also in naher Zukunft selbst abhängig zu werden, bei einer weiteren Million sind andere psychische Erkrankungen zu erwarten. Diese Statistik ist nicht neu und doch ein starkes Argument dafür, dass Hilfe für Kinder aus Suchtfamilien dringend notwendig ist. Doch hier zeigen sich Probleme. „Es gibt deutschlandweit etwa 200 Angebote“, sagt Henning Mielke von Nacoa-Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. „Doch das Netz ist viel zu dünn.“

Es gebe Bundesländer, die Geld für diese Arbeit in die Hand nehmen, andere tun das nicht. „Es müsste in jeder Kommune eine Gruppe für Kinder aus süchtigen Familien geben“, meint Mielke. Doch das ist noch lange nicht der Fall. Regelfinanzierte Angebote sind rar. Es gibt Projekte, deren Teilnahme die Krankenkassen bezahlen, doch das muss von den Eltern beantragt werden. Das setzt aber die Einsicht der süchtigen Eltern voraus, dass sie selber und ihre Kinder Hilfe brauchen. Und selbst wenn diese da ist, gilt es noch, eine hohe Schamgrenze zu überwinden. Zudem sind viele Kinder ja noch nicht selber krank, was eine Finanzierung über die Kassen schwer macht. Nur zehn Prozent aller Kinder von Eltern, die wegen ihrer Sucht in eine Reha-Behandlung gehen, erhalten ebenfalls Unterstützung. Es gibt neben den Krankenkassen auch Stiftungen und andere Träger, wie Kirchen, die Hilfsangebote finanzieren. Auch Selbsthilfegruppen können Anlaufstellen sein, ebenso Online-Angebote, wie „Kidkid.de“, bei denen betroffene Kinder und Jugendliche in Chats Hilfe finden. Dennoch lautet das Fazit im Bericht der Drogenbeauftragten: „Trotz bestehender Angebote ist insbesondere die zielgruppenspezifische Versorgung von Kindern aus alkohol- oder drogenbelasteten Familien unzureichend.“ Und die wissenschaftliche Expertise leidet darunter, dass oft das Geld für entsprechende Studien nicht da ist, sagt Rainer Thomasius, der Leiter des Suchtbereiches der Uni-Klinik Hamburg.

Die Fragen der Finanzierung sollen nun angegangen werden. Denn das Problem ist ja nicht, dass in Deutschland zu wenig Struktur für den Kampf gegen Sucht existiert, sondern vielmehr das komplexe Nebeneinander von Jugendhilfe, Suchthilfe, rentenversicherungsfinanzierter Reha und beitragsfinanziertem Gesundheitssystem. Oftmals scheitert die Hilfe an der Frage, wer nun für die Finanzierung zuständig ist. Deshalb hat der Bundestag kurz vor der Sommerpause noch beschlossen, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, die solche Lücken schließen soll.

Doch man muss nicht auf die Ergebnisse der Arbeitsgruppe warten, um die Situation für die Kinder zu verbessern. Ansätze bieten zum Beispiel die Untersuchungen zu „Resilienz“, die das dritte Drittel der Suchtkinder in den Blick nimmt, die offensichtlich mehr oder minder unbeschadet durch ihre Kindheit und Jugend kommen. Was ist bei Ihnen anders? Thomasius nennt einige Kriterien: Sie besitzen die kognitive Fähigkeit zu reflektieren, finden andere Netzwerke zusätzlich zur Familie, die stabilisieren, positive Erfahrungen ermöglichen und den Selbstwert steigern. Auch Humor spiele eine wichtige Rolle und zudem eine Person, die dauerhaft und verlässlich als Ansprechpartner da ist.

Ich hatte Glück und gehöre auch zu diesem letzten Drittel, kann das alles bestätigen und will noch einen Aspekt hinzufügen. In der Forschung wird nämlich auch darauf verwiesen, dass die „Aufrechterhaltung übergeordneter Werte und Sinnsysteme (zum Beispiel religiös-spiritueller Glaube)“ ein Baustein der Resilienz sein kann. Was hier wissenschaftlich etwas verquast klingt, habe ich in einer kirchlichen Jugendarbeit erlebt. Zwar war die Sucht der Eltern nie ein Thema in Gemeindeveranstaltungen oder Schulungen, obwohl mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter in der Jugendarbeit betroffen waren. Es wäre gut, wenn das in anderen Gemeinden anders wäre. Aber es steckt im christlichen Glauben vieles, was Kindern und Jugendlichen aus Suchtfamilien gut tut: Sich angenommen und vorbehaltlos geliebt zu wissen, im Gebet abgeben zu können, Schuldgefühle (auch die unberechtigten) loszuwerden durch den Zuspruch der Gnade…Das alles waren für uns nicht nur theologische Denkfiguren, sondern immer wieder Rettungsboote in schwerer See.

Netze schaffen

Aber wenn Kirchen Kindern aus Suchtfamilien auch sehr spezifische Angebote machen können, ist Religion nicht jedermanns Sache. Das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen. Und so gilt es, etwa durch Sport, Musik, Theater oder einfach nur Spiel- und Gesprächsangebote ein möglichst breites Angebot und viele Möglichkeiten und Netze zu schaffen, die Kinder aus Suchtfamilien auffangen. Bei Natalie war es eine Lehrerin, zu der sie Vertrauen fasste. „Sie war die erste Lehrerin, die sich wirklich interessierte für das, was ich erzählt habe“, berichtet Natalie von ihrer Erfahrung. Andere Gespräche mit Lehrern hätten oft mit dem Hinweis geendet „Du musst zum Jugendamt“ - mehr sei nicht passiert.

„Als Pädagogen achten wir vor allem auf Leistung, denn darüber profilieren sich die Schulen“, räumt Natalies Lehrerin Dorothea Kleffner-Witkowski ein, die neben ihr auf der Bühne sitzt. Dabei sei es wichtig, sich außerhalb des Lehrplans Zeit nehmen zu können, etwa in einem Kunstprojekt mit Schülerinnen und Schülern. In einem solchen entstand dann auch die Idee für den Film „Glück ist eine Illusion“, der Natalies Geschichte erzählt. Ihre Rolle wird von einer Mitschülerin gespielt, ein kurzer Trailer im Internet zeigt die hohe Qualität des Films, denn Kleffner-Witkowski ist auch Filmemacherin. Der Film lief bereits auf einigen Festivals und kann über ihre Produktionsfirma „schizo-production“ bestellt werden.

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Stephan Kosch

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