Durchbruch in Zürich

Wie ich die internationale Bedeutung der Reformation erlebe
Marktplatz Wittenberg im August 2015: Ein Teilnehmer der internationalen Reformationswerkstatt macht ein Selfie. Foto: epd/ Jens Schlueter
Marktplatz Wittenberg im August 2015: Ein Teilnehmer der internationalen Reformationswerkstatt macht ein Selfie. Foto: epd/ Jens Schlueter
Das Reformationsjubiläum 2017 international zu feiern, war nicht selbstverständlich. Wie dies möglich geworden ist, schildert anhand eigener Erfahrung Margot Käßmann, die EKD-Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017 und Herausgeberin von zeitzeichen. Und sie zeigt, was noch geplant ist.

Mit einem Fernsehgottesdienst und einem Empfang im Europaparlament wurde am 31. Oktober 2015 das letzte Themenjahr der „Lutherdekade“ eröffnet. Und dass dies in Straßburg geschah, war kein Zufall, geht es doch um das Thema „Reformation und die Eine Welt“.

Nicht deutschnational wie in den Jahrhunderten zuvor soll das Jubiläum 2017 ausgerichtet sein, sondern weltoffen, mit einem weiten Blick über unsere Grenzen hinaus. Der Gottesdienst in Straßburg stand denn auch unter dem Vers aus der Apostelgeschichte, der erzählt, wie Paulus nach Mazedonien gerufen wird: „Komm herüber und hilf uns!“ Im Gottesdienst las das Evangelium ein Mädchen, das beide Eltern auf der Flucht verloren hatte. Eine Fürbitte sprach eine Afrikanerin, die in Straßburg auf der Straße lebt. Im Chor sang eine junge Frau das Solo, die erst durch die Kirche und ihre großartige Stimme wieder Lebenszuversicht gefunden hatte. Die evangelischen Kirchen Frankreichs setzten so einen kräftigen Akzent, das Themenjahr für eine Weitung der manchmal allzu engen theologischen oder eurozentrierten, gar deutschen Debatten zu nutzen.

Dieser weite Horizont für 2017 war nicht von Anfang an gesetzt. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) fragte sich, ob in einem auf Wittenberg konzentrierten Ereignis überhaupt Platz für die oberdeutsche Reformation sei. Und als ich im Herbst 2012 die Züricher Synode besuchte, wurde gefragt, ob die deutschen Lutheraner wieder Calvin zur Vorspeise und Zwingli zum Nachtisch degradieren würden, während Luther als Hauptgericht diene. Doch SEK und EKD haben diese Spannung klug gelöst. Sie luden ihre Partnerkirchen aus aller Welt ein, im Oktober 2013 in Zürich einen Internationalen Kongress zum Reformationsjubiläum zu besuchen. Für mich war das eine Art Durchbruch. Denn es wurde deutlich, dass 1517 ein symbolisches Datum ist, das wir gemeinsam nutzen können, um an die Reformation zu erinnern und gleichzeitig zu fragen, wo heute Reform und Reformation in unseren Kirchen und Gesellschaften angezeigt sind. Natürlich führt an Martin Luther, als der Symbolfigur der Reformation, kein Weg vorbei. Aber die Reformation war ein breiter Prozess, der viele Jahrzehnte umfasste und den viele Menschen verantworteten und gestalteten.

Einer von ihnen ist Jan Hus. Als ich im März 2014 die Kirchen in Tschechien besuchte, wurde mir deutlich, wie groß die Enttäuschung ist, dass die böhmische Reformation in Deutschland kaum wahrgenommen wird. Aber das hat sich inzwischen deutlich geändert. Am ersten Juliwochenende 2015 wurde Jan Hus mit einem großen Fest in der Prager Altstadt mit Musik, Vorträgen und internationaler Beteiligung in den Mittelpunkt gestellt. Die Stadt Konstanz holte die Vorgänge beim Konzil 1414-1418 ins Gedächtnis. Und im vergangenen Jahr gab es beim Stuttgarter Kirchentag ein öffentliches Podium zur Bedeutung der Vorreformatoren Jan Hus, des Engländers John Wyclif und von Hieronymus von Prag. Auch diese Bewegung, die einhundert Jahre vor Luthers 95 Thesenanschlag stattfand, ist Teil der reformatorischen Bewegung.

Viele reformatorische Kirchen Europas haben sich auf den Weg gemacht. Die lutherische Kirche in Italien hielt einen Kirchentag zum Thema Reformation ab, und die Gemeinde in Venedig befasste sich im Rahmen der Biennale 2015 öffentlich mit der Reformation, mit einer Ernst-Barlach-Ausstellung als Medium. Die lutherische Schwedische Kirche wird in einem Monat, am 31. Oktober, mit dem Lutherischen Weltbund und Papst Franziskus in Lund der Reformation gedenken. Die Gespräche dort haben mir noch einmal neu deutlich gemacht, dass die Reformation im Norden anders abgelaufen ist als in Deutschland. Sie war stärker von oben gesteuert. Aber Schweden, Dänemark und Norwegen sind in der reformatorischen Tradition tief verwurzelt.

Und Gespräche und Vorträge in England haben mir gezeigt, dass viele Anglikaner ihre Anfänge als „sister reformation“ verstehen, als Reformation der anderen Art. Und die kleine lutherische Gemeinde Dublins spielt in Irland eine erstaunliche Rolle dadurch, dass sie unbefangen zum interkonfessionellen Dialog einladen kann, weil sie keine Dominanzängste auslöst.

Zersplitterung in den USA

Bei Reisen in den USA habe ich erlebt, wie sehr die Zersplitterung der Kirchen der Reformation eine Belastung ist. Wie können zumindest die lutherischen Kirchen in den USA zu neuer Gemeinschaft, ja zur Abendmahlsgemeinschaft finden? Sind die Auseinandersetzungen um Homosexualität wirklich theologischer Natur, oder sind da außertheologische Faktoren im Spiel? Und inwiefern verstehen sich Baptisten und Pfingstler als Teil der reformatorischen Kirchen?

In Polen, Kaliningrad/Königsberg, Spanien, Rumänien, Brüssel und Amsterdam habe ich erlebt, wie sehr die zum Teil sehr kleinen evangelischen Kirchen aus ihrer evangelischen Identität Selbstbewusstsein schöpfen und darauf hoffen, dass die EKD das Reformationsjubiläum einerseits sichtbar und hörbar macht, ihnen aber auch eine Plattform bietet, ihre Situation und sich in Wittenberg darzustellen nach dem Motto: Die Impulse, die aus Wittenberg kamen, werden nun zurück nach Wittenberg gebracht.

Während der Weltausstellung Reformation, die ab 20. Mai 2017 unter dem Titel „Tore der Freiheit“ 16 Wochen lang in Wittenberg stattfinden wird, werden diese kleineren Kirchen im Gasthaus Ökumene präsent sein, das die Auslandsarbeit der EKD gestaltet - oder unter dem Dach der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Nicht jede Kirche kann für 16 Wochen dort sein, aber zumindest auf Zeit Teil des Geschehens werden.

Die Schulderklärung, die der Lutherische Weltbund (LWB) vor sechs Jahren bei seiner Vollversammlung in Stuttgart gegenüber den Mennoniten als Erben der so genannten Täuferbewegung abgab, hat mit dazu beigetragen, dass die Mennoniten, aber auch andere Freikirchen das Reformationsjubiläum mitgestalten. Und die römisch-katholische Kirche wird mit einem eigenen Zentrum, im Themenbereich Ökumene und bei vielen Veranstaltungen sichtbar teilnehmen. Dagegen fehlen bis auf wenige Ausnahmen die orthodoxen Kirchen. Sie betrachten die Reformation eher als Thema der westlichen Kirche und nicht als ihres.

Für mich ist die Weltausstellung das Herzstück des Reformationssommers 2017. Menschen können für einen Tag miterleben, mitdiskutieren und mitdenken, was Reformation heute bedeutet, mit Blick auf Spiritualität und Globalisierung, auf die Ökumene, den Dialog der Religionen oder hinsichtlich Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Dazu gibt es Themenwochen, die an speziellen Tagen zu spezifischen Themen einladen: Europa oder Frieden, Ökumene oder Schöpfung. International ist die Ausstellung einerseits, weil Menschen aus aller Welt kommen und Kirchen aus aller Welt präsent sind, und andererseits, weil sie Reformation im weltweiten Horizont versteht und vorwärts denkt.

International wird es 2017 an vielen Orten: Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen wird ihre Vollversammlung in Deutschland abhalten und den Festgottesdienst in Wittenberg feiern. Der LWB wird seine Vollversammlung in Namibia abhalten und ein Zeichen setzen, dass aus Wittenberg die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen in alle Welt ging. Die Nationalen Kirchenräte in Indien und Bangladesh wollen durch große öffentliche Ereignisse in ihrer Minderheitensituation auf sich aufmerksam machen. Die lutherischen Kirchen in Tansania, Mittel- und Südamerika möchten das Jahr 2017 nutzen, ihre Identität zu prüfen und theologisch, aber auch gesellschaftspolitisch zu zeigen, wo sie stehen.

Die Freiheit in Fragen des Glaubens und Gewissens ist in vielen Gesellschaften hochaktuell. Der Bildungsimpuls der Reformation, der jedem einzelnen Christen, jeder einzelnen Christin zugesteht, ja zumutet, selbst zu denken und zu fragen und den eigenen Glauben zu bilden, fordert eine Welt heraus, die sich neuem Fundamentalismus zu stellen hat. Der Fundamentalismus sagt: Glaub oder stirb. Reformatorischer Glaube sagt dagegen: Denke selbst, dein Gewissen und dein Glaube haben sich allein an Vernunft und Bibel zu orientieren.

Und auch theologische Themen werden in anderen Kontexten neu diskutiert. So wurde in Singapur, diesem auf Geld und Erfolg fixierten Stadtstaat, die Frage der Rechtfertigung allein aus Glauben plötzlich hochaktuell. Eine Professorin sagte, es sei für sie eine absolute Befreiung gewesen, zu begreifen, dass sie nicht perfekt sein muss, um einen Sinn im Leben zu finden. In Bangkok erklärte ein Professor, er beneide die reformatorischen Kirchen darum, dass sie ihre Sprache beständig erneuern können. Im Buddhismus sei das fast unmöglich, es gebe vielmehr ein Verharren in der alten Sprache, die junge Leute befremde. Und in Hongkong wurde an der lutherischen Hochschule über Menschenbilder diskutiert. Dass ein Mensch nicht nur klar gut oder klar böse ist, sondern gerechtfertigter Sünder, simul iustus et peccator, hat viele überrascht. Bei einer Tagung in Beirut, zur Auswirkung der Reformation im Mittleren Osten, war bemerkenswert, dass es hieß: Wir suchen keine Christenghettos, sondern eine Stärkung der gemäßigten Kräfte in allen Religionen durch einen säkularen Staat. Luthers Lehre von den beiden Regimentern wurde in der Diskussion neu lebendig.

Kurzum: 2017 wird ein internationales Reformationsjubiläum werden, das ist keine Frage mehr. Schon heute treffen sich Menschen aus aller Welt in der Lutherstadt Wittenberg, im LWB-Zentrum und bei vielen internationalen Tagungen, die dort stattfinden. Die Veranstaltungen 2017 werden von Anfang an über nationale Grenzen hinaus konzipiert. Das zeigt sich schon am europäischen Stationenweg. In 69 Städten wird der Reformations-Truck oder Geschichtenerzählbus ab diesem November Station machen. Und Menschen werden erzählen, was ihre reformatorische Geschichte in Genf oder Rom ist, in Budapest oder Turku, in Zürich oder Graz. Und sie werden Thesen zurück nach Wittenberg geben, die etwas darüber aussagen, wo Reform und Reformation heute notwendig sind.

Und Mark Whitfield, der Bischof der kleinen lutherischen Kirche Neuseelands, hat jüngst eine neue Initiative hinzugefügt: Er möchte das Reformationsjubiläumsjahr am 1. Januar 2017 auf den Chatham-Inseln einläuten. Wegen ihrer Nähe zur Datumsgrenze werden sie first to see the sun genannt. Eine Filmaufnahme der Andacht wird ins Internet gestellt. Andere Kirchen rund um den Globus sollten sich dazu gesellen, und wir könnten sehen, wie das Reformationsjubiläumsjahr rund um den bewohnten Erdkreis begrüßt wird. Dabei nutzen wir die neuen Medien unbefangen für die Gute Botschaft, wie Luther selbst das tat.

Ich kenne die Kritik an der „Eventisierung“. Aber ich bin überzeugt: Es lohnt sich, in aller Welt von der Reformation zu sprechen, nicht nur unter theologischen Experten. Denn die Reformation hat die Kirche zurück zu ihren Grundlagen geführt, hat Menschen befreit, auch in Glaubensfragen selbstständig zu denken, und sie hat Christus und die Bibel wieder ins Zentrum gestellt. Das ist ein Grund zum Feiern. Und: Reformatorische Kirchen sind lernfähig. Wir feiern 2017 nicht antikatholisch, sondern im ökumenischen Horizont: Luthers Antijudaismus ist überwunden. Reformation ist keine nationale Angelegenheit, sondern eine, die wir mit Glaubensgeschwistern über nationale Grenzen hinweg kennen. Auch das ist ein Grund zum Feiern.

Informationen über das Jubiläumsjahr 2017

Margot Käßmann

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